Bürgergesellschaft ohne Bürger
Wie zivil ist die russische Gesellschaft?
Dem starken Staat steht keine starke Gesellschaft gegenüber. Dennoch bemühen sich viele Bürgergruppen
um eine Verbesserung der teils desolaten Zustände; sie sollten gefördert werden.
Seit seinem Amtsantritt hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem Konzept eines starken Staates Anerkennung und Rückhalt in Russland gefunden. Auch im Ausland wurde der Versuch, dem Staat seine Handlungsfähigkeit zurückzugeben, als notwendig anerkannt, wenn auch angesichts der geringen demokratischen Tradition Russlands mit Vorsicht betrachtet. Richtig ist, dass nur ein Rechtsstaat, der stark genug ist, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, innen- wie außenpolitische Stabilität garantieren kann.
Diesem starken Staat sollte dabei aber eine starke Gesellschaft zur Seite stehen, die ihn nach ihren Bedürfnissen gestaltet, reformiert, kritisiert und kontrolliert. Andernfalls kann er sich sehr schnell als Gefahr für die erhoffte Stabilität und Sicherheit erweisen. Die politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit und besonders des vergangenen Jahres haben gezeigt, wie eine notwendige Stärkung der Exekutive auf Kosten parlamentarischer Regeln, unabhängiger Justiz und freier Presse zur Aushöhlung bürgerlicher, zivilgesellschaftlicher Regulative führen kann.
Seit 2000 wurden systematisch und größtenteils erfolgreich alle tatsächlichen und möglichen autonomen Machtzentren erneut unter staatliche zentrale Kontrolle, besser unter die Kontrolle der Präsidialadministration gezwungen. Das betraf die bis dahin relativ unabhängigen Gouverneure ebenso wie die so genannten Oligarchen, die staatsunabhängige Presse, vor allem die Fernsehsender, und die politischen Parteien. Den bisherigen Schlusspunkt setzten schließlich im Dezember 2003 die weitgehend gelenkten und laut OSZE „freien, aber nicht fairen“ Dumawahlen, als deren Ergebnis die Kremlpartei „Einheit Russlands“ eine Zweidrittelmehrheit erhielt.
Der von Putin gelenkte russische Staat hat also seine Stärke bewiesen, wenn es darum geht, seine korporatistischen Interessen gegenüber konkurrierenden Machtzentren durchzusetzen. Der Versuch, auch einen großen Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen unter seine direkte Kontrolle zu bringen, wurde dagegen nicht konsequent zu Ende geführt. Die Antwort auf die Frage, warum das nicht geschah, bleibt offen. Putin selbst hat wiederholt auf die notwendige Korrekturfunktion der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für exekutives staatliches Handeln hingewiesen. Das gilt aber natürlich ebenso für Presse, Justiz und Parlament. Ein Grund könnte sein, dass die NGOs nicht als potenzielle Machtkonkurrenz angesehen werden und deshalb im politischen Konzept der „gelenkten Demokratie“ durchaus ihren Platz haben.
Wenn man NGOs als einen sichtbaren, weil institutionalisierten Teil einer Bürgergesellschaft betrachtet und an ihrem Beispiel versucht, Aufschluss über die „Zivilität“ eines Gemeinwesens zu erhalten, so ergibt sich im Falle Russlands ein vielschichtiges und oft widersprüchliches Bild.
Nach Angaben des russischen Justizministeriums sind etwa 135 000 nichtstaatliche Organisationen in der Russischen Föderation offiziell registriert, von denen nach Schätzungen von Experten etwa 70 000 aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben arbeiten. Ihre Dienstleistungen und Angebote werden von etwa 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern (immerhin einem von sieben) in Anspruch genommen, rund zwei Millionen Beschäftigte sind mehr oder weniger regelmäßig in nichtstaatlichen Organisationen russlandweit tätig. Vor dem Hintergrund dessen, dass Traditionen von Philanthropie und staatsunabhängigem gesellschaftlichen Handeln in Russland über 70 Jahre lang unterdrückt waren, spiegeln diese Zahlen eine dynamische Entwicklung wieder.
Der große Teil dieser NGOs leistet in Bereichen praktische Arbeit, aus denen sich der Staat in den neunziger Jahren zurückgezogen hat. Dieser Rückzug erfolgte größtenteils weder geregelt noch einer allgemeinen Strategie folgend, sondern oft chaotisch und hat dabei wichtige Lebensbereiche der Menschen sich selbst überlassen. In diese Lücke rückten die NGOs vor. Einige zentrale Erfolge der gesellschaftlichen Transformation in der Russischen Föderation sind nur auf Initiative und Dank des professionellen Engagements dieser NGOs – manchmal in Zusammenarbeit, oft genug aber gegen den Widerstand staatlicher Strukturen – erzielt worden. Im Folgenden seien nur einige exemplarisch aufgeführt:1
–Frauenorganisationen ist es – auch mit westlicher Unterstützung – gelungen, das Problem der häuslichen Gewalt zu thematisieren und im Laufe der neunziger Jahre ein russlandweites Netz von Krisenzentren und Frauenhäusern aufzubauen.
–Als Ergebnis der Tätigkeit der Menschenrechtsorganisation Memorial wurden Anfang der neunziger Jahre Gesetze zur Rehabilitierung politisch Verfolgter und ihrer Angehörigen verabschiedet. Bei Perm konnte auf dem Gelände des erst 1987 geschlossenen letzten Straflagers der Sowjetunion für politische Gefangene die erste und bisher einzige Gedenkstätte zur Mahnung an politische Repressionen eingerichtet werden.
–Eine russlandweite Koalition von NGOs hat 2002/03 eine Lobbykampagne zur Verabschiedung eines demokratischen Zivildienstgesetzes initiiert und streitet weiter für Verbesserungen der einzelgesetzlichen Regelungen.
–Ohne die regelmäßigen Informationen russischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen gäbe es keine unabhängige Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Gruppen im Nordkaukasus leisten wichtige Arbeit bei Konfliktprävention und dem Monitoring zur Beachtung von Minderheitsrechten in der Region.
Bereits diese knappe Auswahl, die sich leicht um andere Themenfelder wie Verbraucherschutz, Rechtsberatung, Ökologie oder Flüchtlingshilfe erweitern ließe, zeigt, was NGOs in der russischen Transformationsgesellschaft leisten können und müssen. Dabei kommt es mitunter zu durchaus konstruktiver Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und den NGOs, wie sie in der Folge des Bürgerforums im Herbst 2001 auf mehr als 20 so genannten Dialogplattformen vereinbart wurden. Auf dem Forum im Kreml, an dem über 4000 Vertreter von NGOs aus dem ganzen Land teilnahmen, hatte Putin Kritik von NGOs an staatlichem Handeln als „nicht nur erlaubt, sondern notwendig“ bezeichnet.
Seither hat sich die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und NGOs allerdings nur in einigen wenigen Bereichen, wie z.B. in der Flüchtlingsarbeit, vorsichtig entwickelt. Auch diese Zusammenarbeit scheint aber durch die jüngsten politischen Entwicklungen gefährdet. Die Exekutive hält es mit eigener zunehmender Machtkonzentration für immer weniger notwendig, andere gesellschaftliche Kräfte zu konsultieren. Dadurch ergibt sich die auf den ersten Blick paradox erscheinende Situation, dass die politische Führung öffentlich die Wichtigkeit der Zusammenarbeit betont, auf der konkreten Arbeitsebene aber dies nicht nur nicht umgesetzt, sondern mehr und mehr ignoriert oder gar desavouiert wird.
Wesentliche Verpflichtungen, die Russland durch den Beitritt zum Europarat und zu anderen internationalen Institutionen eingegangen ist, und auch grundlegende Bedürfnisse der russischen Bevölkerung können häufig nur durch die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen gesichert werden. Die vergangenen zehn Jahre haben eine beachtliche quantitative wie qualitative Entwicklung des nichtstaatlichen Sektors in der Russischen Föderation mit sich gebracht. Die Bedeutung dieser Entwicklung für die innere Stabilität des Landes wird jedoch nur von kleinen Teilen der politischen und funktionalen Eliten erkannt und anerkannt.
Offene Fragen
Für die Zukunft des zivilgesellschaftlichen Sektors wird entscheidend sein, welche Antworten auf folgende Fragen gefunden werden:
1.Wie werden russische NGOs die nötigen finanziellen Ressourcen für die Weiterentwicklung ihrer Dienstleistungen erschließen?
2.Wird es ihnen gelingen, mehr Bekanntheit und Akzeptanz in der Bevölkerung und damit auch kompetente und engagierte Nachwuchskräfte für die haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeit zu gewinnen?
3.Wird es den NGOs gelingen, einen produktiven politischen Dialog mit den staatlichen Repräsentanten zu führen oder werden im Zuge einer restaurativen Politik NGOs wieder als Dissidentengruppen marginalisiert werden?
4.Welche Schwerpunkte werden westliche Regierungen, Stiftungen und Partnerorganisationen bei ihrer Russland-Arbeit und Russland-Politik setzen?
Ressourcen
Die weltweit üblichen Ressourcen des Non-profit-Sektors sind Zeit- und Geldspenden von Einzelpersonen und Unternehmen, erwirtschaftete Eigeneinnahmen und staatliche bzw. internationale Zuwendungen (EU, USAID, Weltbank u.a.). Die aktuelle Steuergesetzgebung der Russischen Föderation aus den Jahren 2000 und 2001 bietet weder für individuelle oder korporative Philanthropie noch für die Entwicklung von Zweckbetrieben den nötigen legalen Rahmen:2 Weder Privatpersonen noch Unternehmen können Spenden an NGOs steuerlich absetzen; Unternehmen, die für gemeinnützige Zwecke dennoch spenden, werden häufig zur Zielscheibe für verstärkte Steuerprüfungen. Kostenlose Sachleistungen, die von NGOs an Bedürftige verteilt werden, werden mit 18% Mehrwertsteuer belegt, die sich am geschätzten Wert der Leistung bemisst. Zuwendungen von Geberorganisationen, die nicht auf einer von der Regierung bestätigten Liste verzeichnet sind, unterliegen der Gewinnsteuer. Ursache dieser Steuergesetzgebung ist die Betrachtung von NGOs ausschließlich als potenzielle Steuerschlupflöcher für Unternehmensgewinne durch den Gesetzgeber. Folge ist wiederum die Flucht der NGOs in schwarze Buchführung, was den Verlust von Lohnsteuern und Sozialabgaben für den russischen Fiskus zur Folge hat.
Im Laufe der neunziger Jahre wurden auf föderaler Ebene und in den meisten der russischen Regionen Gesetze verabschiedet, die die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen durch lokale NGOs regulieren. Die thematische Ausrichtung dieser Aufträge liegt häufig in klassischen Bereichen der Sozialarbeit. Für Vorhaben, die die Bereiche Menschenrechte, Minderheitenschutz, politische Partizipation, Ökologie oder Frauenrechte betreffen, sind diese regionalen Programme weder qualitativ noch quantitativ ausgestattet. Hier wird die russische Zivilgesellschaft auch mittelfristig weiter auf die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sein.
Schwerpunkte internationaler Unterstützung für den zivilgesellschaftlichen Sektor sollten daher Menschenrechte und politische Bildung einerseits und die Förderung einer angepassten Steuergesetzgebung zur Stimulierung lokaler Spenden und eines Stiftungswesens andererseits sein.
Nach soziologischen Untersuchungen besteht in der russischen Bevölkerung eine grundlegende Bereitschaft zur gemeinnützigen, gesellschaftlichen Tätigkeit, gleichzeitig aber auch großes Misstrauen in die Effizienz und Wirksamkeit dieses Handelns. So geben 64% der in einer Studie zum Demokratieverständnis im Sommer 2003 befragten Russinnen und Russen an, dass sie sich gesellschaftlich engagieren würden, wenn sie dazu aufgefordert oder eingeladen würden. Gleichzeitig sind nur drei bis neun Prozent der Befragten davon überzeugt, dass ihre soziopolitische Aktivität zur effektiven Lösung eines gestellten Problems beitragen kann. Der Organisationsgrad der Bevölkerung in NGOs liegt bei weniger als einem Prozent. Diese Zahlen sind um so alarmierender, als 40% der befragten Bevölkerung und 60% der befragten NGO-Aktivisten nach eigenen Angaben Angriffen auf ihre persönlichen und Freiheitsrechte ausgesetzt waren. Nur wenig mehr als die Hälfte der Betroffenen hat den Versuch unternommen, ihre Rechte bei den entsprechenden Behörden und Gerichten einzuklagen.
Mehr und mehr gehen NGOs in den russischen Regionen inzwischen dazu über, auf ihre Anliegen durch öffentliches Auftreten aufmerksam zu machen; sie versuchen dabei die Bevölkerung aktiv einzubeziehen und zu informieren. Bemerkenswerte Beispiele sind der Schülergeschichtswettbewerb von Memorial, der seit vier Jahren mehr als 10 000 Schüler dazu angeregt hat, sich mit dem Thema „Der Mensch in der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“ auseinander zu setzen, die politische Bildungsarbeit der Rjasaner Schule für Menschenrechte oder eine Fahrt verschiedener russischer Friedensinitiativen im Sommer 2003 nach Grosny, die Hilfsgüter für die Kriegsopfer in den besuchten Städten gesammelt hatten.
Besonderer Handlungsbedarf besteht im Bereich der gesellschaftspolitischen Jugendbildungsarbeit. Hier könnten gemeinsame russische und westeuropäische Programme Abhilfe schaffen, deren Ziel es sein sollte, junge Menschen zum gesellschaftlichen Engagement zu motivieren.
Dialog mit dem Staat
Der aktuelle Dialog zwischen NGOs und Staat wird wesentlich durch die jüngste politische Entwicklung bestimmt, die außer einem Teil der NGOs nur wenige autonome, vom Staat weitgehend unabhängig agierende politische Subjekte unberührt gelassen hat. Dadurch befinden sich die NGOs in der Situation, eine Reihe von Funktionen erfüllen zu müssen, die nicht zu ihren originären Aufgaben gehören und ihr Selbstverständnis immer wieder in Frage stellen. Auf föderaler Ebene wird der Dialog mit dem Staat nur von einem Teil der NGOs gesucht und geführt:
–Sie verfügen über politische und soziale Problemlösungskompetenzen, die der Staat unter zumindest protomarktwirtschaftlichen Bedingungen nie hatte oder verlor;
–sie engagieren sich politisch für den Erhalt der erst seit rund 15 Jahren in Russland bestehenden bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilhaberechte:
–sie sind in der Lage, ihre Anliegen öffentlich und konsolidiert zu vertreten;
– sie haben Zugang zu internationalen Organisationen und zur internationalen Öffentlichkeit.
Politisch sichtbarster und von Kreml und Regierung als Gesprächspartner akzeptierter Vertreter dieser Gruppe von NGOs ist die „Narodnaja Assambleja“, ein informeller Zusammenschluss von Führungspersönlichkeiten russlandweit vernetzt agierender NGOs wie Memorial, der Moskauer Helsinki-Gruppe, der Sozial-Ökologischen Union oder der Konföderation der Verbraucherschutzorganisationen, an die eine Reihe angesehener nichtstaatlicher Think Tanks wie das Institut für die Ökonomie der Stadt oder das Unabhängige Institut für Sozialpolitik angebunden sind. Einige dieser Organisationen verfügen biografisch bedingt über gute persönliche Kontakte in die staatliche Exekutive.
Die Aufnahme eines Dialogs mit den NGOs war auch eine Folge von Widersprüchen innerhalb der Präsidialverwaltung. Die beiden dominierenden Pole der Putinschen Politik bestehen darin, einerseits eine funktionierende und konkurrenzfähige Marktwirtschaft anzustreben, die den Einwohnern Russlands einen angemessenen Wohlstand sichern soll, andererseits aber auf einem „natürlichen“ Anspruch Russlands auf den Großmachtstatus zu bestehen und sich gesellschaftspolitisch weitgehend auf die aus der Sowjetzeit übernommenen Sicherheitsstrukturen zu stützen. Vertreter beider Positionen konkurrierten zumindest bis Ende 2003 in der Präsidialverwaltung um die Gunst des Präsidenten.
Gestörtes Gleichgewicht
Mit der Verhaftung des Unternehmers Michail Chodorkowskij, der Entlassung des Chefs der Präsidialverwaltung, Alexander Woloschin, und dem Ausfall der Staatsduma als zumindest teiloppositionellem Korrektiv administrativen Handelns scheint dieses prekäre Gleichgewicht gestört. Bei den meisten politischen Akteuren und Analytikern überwiegt die Ansicht, die liberaleren Kräfte um Putin hätten erheblich an Einfluss verloren. Zu beobachten ist das bereits an Änderungen im Verhalten von Verwaltungen, das sich oft mehr an der Antizipation des „erfühlten“ Willens „der Macht“ orientiert als an konkreten und formalen Vorschriften und Gesetzen.
Erste Klarheit wird wohl erst die durch die Verfassung vorgegebene Neubildung der Regierung nach den Präsidentenwahlen geben; mit der Nominierung von Michail Fradkow zum neuen Ministerpräsidenten am 1. März 2004 hat Putin sie bereits eingeleitet. Davon, wie weit sich die Dichotomie in der Kremladministration halten wird, wird auch abhängen, ob der politische Dialog zwischen NGOs und Staat ernsthaft fortgesetzt werden kann.
Die beschriebenen Entwicklungen der vergangenen Jahre sollten zu einem neuen Nachdenken über die westliche Politik gegenüber Russland führen. Die Ende der neunziger Jahre konzipierte „lenkbare Demokratie“ ist durch den Ausgang der Dumawahlen Anfang Dezember 2003 auch innerhalb einer liberalen Verfassung „Wirklichkeit“ geworden. Die gesellschaftlichen Konsequenzen werden wohl bald sichtbar werden:
–Versuche von wem auch immer, autonome, d.h. vom Willen des Kreml unabhängige Machtfelder aufzubauen, werden nicht geduldet – siehe das Vorgehen gegen Chodorkowskij/Jukos.
–Es gibt keine Konzepte zur politischen Lösung des Tschetschenien-Konflikts, die eine Chance auf Verwirklichung haben. Im Gegenteil hat sich eine brutale Strategie aus „teile und herrsche“ durchgesetzt, die fast ausschließlich auf militärische Mittel setzt.
–Einzige unabhängige, wenn auch schwache politische Subjekte bleiben die russischen NGOs (wie z.B. die in der Narodnaja Assambleja zusammengeschlossenen).
–Kritik an der russischen Innenpolitik kommt inzwischen fast nur noch von Seiten der NGOs und einigen wenigen internationalen Organisationen (vor allem OSZE, Europarat,) weshalb beide inzwischen in Russland als „westliche Agenturen“ kritisiert werden. Polemisch kann die offizielle westliche – also auch deutsche – Russland-Politik zum Dreiklang „Putin/Stabilität, fossile Energieträger/Rohstoffe, Antiterror“ zusammengefasst werden.
–Die Einbindung Russlands in westliche internationale Politik (insbesondere in die Bekämpfung des internationalen Terrorismus) trägt nicht zu einer „Zivilisierung“ der russischen Außenpolitik bei, sondern zu ihrer Reimperialisierung (vorerst vor allem auf die GUS-Länder bezogen, wie eine lebhafte Diskussion unmittelbar nach der Dumawahl zeigte).
Will der Westen eine Stärkung der russischen Bürgergesellschaft erreichen, so muss er den Austausch und die Zusammenarbeit mit ihren Repräsentanten ausweiten und intensivieren. Westliche Politiker auf Besuch in Moskau sollten auch weiterhin neben ihren offiziellen Treffen das Gespräch mit NGO-Vertretern suchen, wie das zum Beispiel Bundesaußenminister Joschka Fischer Anfang Februar erneut getan hat, als er sich mit dem Vorsitzenden von Memorial, Arsenij Roginskij, der Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ljudmila Aleksejewa, und der Leiterin der Menschenrechtskommission beim Präsidenten, Ella Pamfilowa, traf. Derartige Signale werden durchaus wahrgenommen.
Zusätzlich sollten bestehende und neue nichtstaatliche Kontakte zwischen Ost und West gefördert werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die gewählten Organisationsformen das angestrebte Ziel – die Verbreitung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte – unterstützen und dass nicht im Gegenteil Strukturen des russischen Staatsapparats unter Ausschluss der eigentlichen russischen Zivilgesellschaft das Thema international besetzen und einen Dialog eher simulieren als real führen. Unter diesem Aspekt ist besonders die Rolle und Funktion des „Petersburger Dialogs“ und einer derzeit geplanten deutsch-russischen Kontaktstelle für den Jugendaustausch kritisch zu betrachten.
Russland sollte als ein „europäisches Land“ behandelt werden, auch wenn ein EU-Beitritt nicht zur Debatte steht. Russland ist Mitglied des Europarats und hat alle damit zusammenhängenden Verpflichtungen akzeptiert. Daran sollte das Handeln der russischen Staatsführung gemessen werden. Ohne demokratische Partner, die in Russland eine Opposition bilden, die zumindest gehört wird, wird es in vielen Politikbereichen schwieriger, die Politik der russischen Regierung zu beeinflussen und zum Aufbau einer Bürgergesellschaft beizutragen.
Anmerkungen
1 Vgl. dazu Deutsches Institut für Menschenrechte(Hrsg.), Russland auf dem Weg zum Rechtsstaat? Antworten aus der Zivilgesellschaft, Berlin 2003.
2 Center for the Development of Human Rights and Democracy (Hrsg.), Problemy nalogooblaäenija nekommercesskich organisazii, Moskau 2003.
3 Sud’ba demokratii v Rossii v rukach besraslicnogo bol’öinstwa, Institut rasvitija isbiratel’nych ssistem <http://www.democracy.ru> und Institut ssravnitel’nych ssozial’nych issledowanij <http://www.cessi.ru>, Moskau 2003.
Internationale Politik 3, März 2004, S. 51-58
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