Buchkritik: Deutschlands desaströse Russland-Politik
Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war gleichsam das Pearl Harbour der deutschen Ostpolitik. Wie konnte es dazu kommen? Antworten auf diese Fragen suchen zwei FAZ-Journalisten, ein Osteuropahistoriker und eine Philosophin.
Wie war es möglich, dass Berlin sich über zwei Jahrzehnte hinweg so beharrlich weigerte, die machtpolitischen Praktiken und imperialen Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Kenntnis zu nehmen? Dieser Frage gehen Reinhard Bingener und Markus Wehner auf den Grund. Aus Sicht der beiden Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gab es für diese Selbsttäuschung unterschiedliche Motive, denen allerdings eins gemein ist: Sie wurden durch gezielte Einflussnahme des Kremls in Deutschland nachhaltig befördert und gefüttert.
Die Untersuchung von Bingener und Wehner konzentriert sich vornehmlich auf die SPD, bezieht aber auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ein. Im Mittelpunkt steht Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Seine Neigung, öffentliche politische Belange mit privaten geschäftlichen zu vermengen, und sein ausgeprägtes Verständnis für Autokraten färbten ab auf sein Netzwerk. Und wer sich, nebenbei bemerkt, die männerbündlerischen Züge dieses Netzwerks im Rückblick vor Augen führt, dem wird deutlich, wie sehr die Forderungen nach einer feministischen Außenpolitik durch eine solche Form des Politikmachens gespeist wurden.
Schröder und seine Verbündeten dominierten zunächst die SPD in Hannover, dann in Niedersachsen und schließlich, ab 1998, auch Bundes-SPD und Bundesregierung. In der rot-grünen Koalition bestimmte, getreu der Formel vom Koch und Kellner, der Bundeskanzler die Beziehungen zu Moskau; der grüne Außenminister Joschka Fischer begnügte sich mit kritischen Anmerkungen von der Seitenlinie.
Als Putin vor dem Hintergrund des zweiten Tschetschenien-Krieges (der durch ähnlich brutale militärische Taktiken geprägt war wie der Krieg in der Ukraine heute) im Jahr 2000 zum russischen Präsidenten gewählt wurde, gelang es ihm rasch, Bundeskanzler Schröder für sich einzunehmen. Damit brachte er Moskaus neue, vom KGB inspirierte Strategie der systematischen Einflussnahme auf Deutschlands Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einen großen Schritt voran.
Bingener und Wehner zeichnen nach, warum diese Bemühungen gerade bei der SPD so erfolgreich sein konnten: Hier bildeten die mythische Überhöhung der Ostpolitik Willy Brandts, die Affinität gerade der niedersächsischen SPD zu marxistisch-leninistischen Regimen und Bewegungen zusammen mit antiamerikanischen Reflexen einen fruchtbaren Nährboden. Hinzu kamen Schuldgefühle gegenüber der Sowjetunion, die allerdings ganz undifferenziert nur Russland zugutekamen, eine gewisse Ignoranz und Borniertheit gegenüber den Osteuropäern sowie schließlich der vielgepriesene Pragmatismus – und zuweilen auch handfeste materielle Interessen.
Vor diesem Hintergrund erwiesen sich die russischen Bemühungen um systematische Einflussnahme als sehr erfolgreich – und nirgendwo erfolgreicher als bei der Energieversorgung. Die Darstellung, wie aus der in den 1970er und 1980er Jahren vorangetriebenen Diversifizierung der bundesdeutschen Energiebezüge durch Erdgasimporte aus der Sowjetunion – mit klarer Begrenzung auf einen Anteil von 30 Prozent an der Erdgas-Gesamtversorgung – eine Abhängigkeit von russischen Lieferungen von über 50 Prozent entstehen konnte, gehört zu den stärksten Passagen dieser Recherche.
Die Autoren berichten, dass Putin sich bereits in seiner Dissertation mit den Möglichkeiten beschäftigt habe, Rohstoffexporte als politischen Einflussfaktor zu nutzen. Dementsprechend kultivierte Putin Gazprom als eines seiner wichtigsten machtpolitischen Instrumente, und Gazprom bemühte sich energisch, sich über Deutschland auch in Europa festzusetzen und auszudehnen.
Dabei profitierte das russische Unternehmen mit dem kurzen Draht zum Kreml von den Rivalitäten zwischen der deutschen Ruhrgas AG, dem Platzhirsch beim Erdgas-Importgeschäft, und der BASF-Tochter Wintershall, die ebenfalls ins lukrative Geschäft mit Moskau drängte. Daneben spielten die EU-Marktliberalisierungspolitik und die nachdrückliche Unterstützung einer immer engeren Zusammenarbeit mit Russland durch Deutschlands Wirtschaft und Politik dem russischen Konzern in die Hände.
Auch nach Gerhard Schröders Wechsel vom Kanzleramt in den Gazprom-Aufsichtsrat änderte sich daran nichts. Bundeskanzlerin Merkel machte sich zwar keine Illusionen über Wladimir Putin, aber sie scheute die Konfrontation mit ihm und überließ das Russland-Portfolio und insbesondere die wirtschaftliche Zusammenarbeit ihren Ministern. Die SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel – beides enge Weggefährten Gerhard Schröders – blieben auf Kooperationskurs mit Russland.
Selbst nach den Kriegen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014 hielten sie und damit die Bundesregierung an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Moskau fest, gerade auch am Pipelineprojekt Nord Stream 2. Dabei entglitt Berlin zusehends die Kontrolle über die energiewirtschaftlichen Verflechtungen, es entstand eine brisante Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands.
Zugleich wurde die Risikovorsorge immer mehr vernachlässigt: So ließ die Bundesregierung es zu, dass Gazprom auch die Kontrolle über einen Großteil der deutschen Erdgas-Speicherkapazitäten und damit ein zentrales Element der Krisenvorsorge übernehmen konnte. Noch wenige Monate vor Ausbruch des Ukraine-Krieges, so berichten Bingener und Wehner, kam eine interne Prüfung des Wirtschaftsministeriums zu dem Ergebnis, die Versorgungssituation Deutschlands mit Blick auf russische Erdgaslieferungen sei unbedenklich. Inzwischen wissen wir es besser.
Abhängigkeiten aufarbeiten
Eine umfassende Aufarbeitung all dessen, was diese gefährlichen Abhängigkeiten ermöglichten, steht bis heute aus. Eine erste Bestandsaufnahme hierzu liefert die Zeitschrift SIRIUS in ihrem jüngsten Heft. Die Befunde dort (zur Russland-Politik Deutschlands unter Bundeskanzlerin Merkel von Andreas Heinemann-Grüder und zur deutschen Energiepolitik von Frank Umbach) decken sich mit den Einsichten, die uns Bingener und Wehner vermitteln. Joachim Krause zieht Parallelen zwischen dem Debakel der deutschen Russland-Politik seit 2000 und den „strategischen Irrtümern“ des Deutschen Reiches von 1890 bis 1914. Diese Parallelen sieht Krause – bei allen gewichtigen Unterschieden – im Fehlen eines „strategischen Zentrums“ und einer kohärenten strategischen Diskussion der deutschen Regierungen, deren unterschiedliche Organe jeweils eigene Außenpolitiken verfolgen. Vergleichbar scheinen ihm auch die Verknüpfung von Wirtschaftsinteressen mit antibritischen beziehungsweise antiamerikanischen Einstellungen und ein (falsches) Bewusstsein moralischer Überlegenheit, das die strategische Verblendung des wilhelminischen Deutschlands wie der Berliner Republik begünstigt habe.
Einzigartige Hassliebe
Für diejenigen, die tiefer in den Komplex der Missverständnisse und Fehleinschätzungen eintauchen und sich ein umfassendes Bild von Deutschlands Verhältnis zu Russland machen wollen, ist die Studie des Osteuropahistorikers Gerd Koenen „Der Russland-Komplex“ jetzt um ein umfangreiches Nachwort ergänzt und neu aufgelegt worden. Dieses Buch beschreibt zusammen mit der zeitgleich erschienenen Essaysammlung „Im Widerschein des Krieges“ kenntnisreich den „Komplex der wechselhaften deutsch-russischen Sonderbeziehungen und Kollusionen“, wie Koenen es im „Russland-Komplex“ nennt.
Dabei wird deutlich, wie eng verschlungen die Geschichte der Länder war und wie sehr sie einander in einer Hassliebe von weltweit wohl einzigartiger Intensität zugetan waren – und vielleicht noch immer sind. Im Unterschied zu Deutschland hat Russland seine Obsession einer Weltmachtrolle und – damit verbunden – seine Hinwendung zum Totalitarismus noch immer nicht abzustreifen vermocht. Es hat es freilich auch schwerer, denn viele Russen verstehen sich nicht als Nation, sondern als Staatsvolk in einem imperialen Konstrukt.
Koenen liefert die historische Tiefenschärfe zur Analyse von Bingener/Wehner. So verfolgt er das große Interesse der deutschen Wirtschaft am Osten zurück bis zum Russland-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, der in den Anfangsjahren der Weimarer Republik begründet wurde. In der alten Bundesrepublik kehrte er als einflussreicher Ostausschuss der deutschen Wirtschaft wieder.
Die „neue Ostpolitik“, die Willy Brandt und Egon Bahr unter dem Leitmotiv „Wandel durch Annäherung“ in den 1960er Jahren konzipierten und dann seit 1969 umsetzten, wurde 1970 von einem ersten großen Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion flankiert, damals als „Deal des Jahrhunderts“ gefeiert. Allerdings erzeugte diese deutsch-russische Annäherung schon damals Wandel nicht nur im Osten, sondern auch in der Bundesrepublik selbst.
Das zeigte sich, als in Polen die Gewerkschaft Solidarnośź – die dem Motto Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ folgte – nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 zerschlagen wurde: Bundeskanzler Helmut Schmidt sah darin keinen Grund, einen Besuch bei Generalsekretär Erich Honecker in der DDR abzusagen, und Egon Bahr äußerte gar Unterstützung für das De-facto-Recht der Sowjetunion, ihren Einflussbereich in Osteuropa zu sichern, mit welchen Mitteln auch immer.
Faktisch positionierte sich die bundesdeutsche Außenpolitik in den 1980er Jahren als Garant des geopolitischen Status quo in Mittelosteuropa im Rahmen eines deutsch-russischen Kondominiums. Das änderte sich auch unter Bundeskanzler Helmut Kohl nicht: Insbesondere Franz-Josef Strauß bemühte sich damals vehement um eine wirtschaftliche Stabilisierung der DDR.
Deutsche Überforderung
Liegt der Schwerpunkt bei Bingener/Wehner bei den Einflussstrategien Putins und bei Koenen auf den historischen Hintergründen des Beziehungsgeflechts, so interessiert sich Bettina Stangneth weniger für die deutsch-russischen Beziehungen per se noch für Wladimir Putins Russland, sondern für unseren eigenen Blick auf Putin und seinen Krieg. Der in Ostdeutschland geborenen und aufgewachsenen Philosophin ist dabei eine eigentümlich verzerrte Wahrnehmung Putins hierzulande aufgefallen, die sie – wie ich meine zu Recht – mit unserer eigenen Vergangenheit in Verbindung bringt.
Es scheint uns Deutschen schwer zu fallen, uns Russland als ein Gemeinwesen vorzustellen, das sich dem ideologisch verblendeten Vernichtungswillen eines Einzelnen überlassen hat und sich dazu hergibt, Nachbarstaaten zu überfallen und ihre Bewohner, ihre Gesellschaften und Kulturen auszulöschen. Was steckt dahinter, so fragt sie, „wenn der Weltenbrandstifter von gestern, der seit Jahrzehnten aus seiner Geschichte lernt, das Feuer nicht sofort erkennt, nur weil es diesmal ein anderer gelegt hat?“ Die Antwort gibt der Titel ihrer Streitschrift: „Überforderung“. Sie meint damit den Umgang mit unserer Geschichte: Sie überfordert uns, verleitet uns so zu einem „abgesicherten Modus des subjektfreien Sprechens … es nützt (so) immer auch der eigenen Imagepflege und liefert den Nachweis, dass das eigene das moralisch überlegene System ist“.
Wie gefährlich das politisch werden kann, zeigt das strategische Versagen der deutschen Russland-Politik. Aus dieser Haltung herauszufinden, täte uns gut, auch mit Blick auf die noch größere Herausforderung durch China. Auch im Verhältnis zu Peking hat sich Berlin lange ähnlichen Illusionen hingegeben wie in den Beziehungen zu Russland. Und auch Chinas Kommunistische Partei verfolgt seit Langem eine systematische Strategie der Einflussnahme über Netzwerke, in denen sich wirtschaftliche Interessen mit politischer Naivität oder Zynismus verbinden. Es ist deshalb höchste Zeit, aus den Fehlern der deutschen Russland-Politik zu lernen. Denn die Herausforderung durch Russland gleicht einem Sturmtief, die durch China dagegen dem Klimawandel.
Reinhard Bingener und Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. München: C.H. Beck 2023, 304 Seiten, 18,00 Euro
SIRIUS, Zeitschrift für strategische Anaysen, Band 6 Heft 4, ca. 100 Seiten, kostenfreier Download
Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten. München: C.H. Beck 2023, 2023, 560 Seiten, 34,00 Euro
Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland. München: C.H. Beck 2023, 317 Seiten, 20,00 Euro
Bettina Stangneth: Überforderung. Putin und die Deutschen. Berlin: Rowohlt 2023, 2023, 144 Seiten, 16,00 Euro
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 120-123
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