Buchkritik

02. Nov. 2017

Buch des Jahres

Was man 2017 gelesen haben sollte

Thomas Bagger

Leiter der Abteilung Ausland, Bundespräsidialamt

Ivan Krastevs „Europa­dämmerung“ ist eine kluge Erinnerung daran, dass Europas Geschichte nie linear verläuft – nicht im Guten, nicht im Schlechten. Mit einer optimistischen Pointe, die der Titel nicht vermuten lässt (siehe dazu die Buchkritik auf S. 136 f.).

Ivan Krastev, Europadämmerung, Suhrkamp 2017

Derek Chollet

Executive Vice President, German Marshall Fund (GMF)

Wie konnte es passieren, dass aus der US-Präsidentschaft eine Realityshow wurde? Der Journalist Kurt Andersen zeichnet einen zentralen Strang des amerikanischen Exzeptionalismus nach – die Tatsache, dass „Realität und Fantasie auf verrückte und gefährliche Weise verschwimmen und miteinander verwoben sind“. Wer dieses Buch liest, der versteht, wie es dazu kam, dass Trump gewählt wurde, und wie fundamental die Bedrohung für die amerikanische Demokratie ist, die von ihm ausgeht.

Kurt Andersen: Fantasyland, Random House 2017

Klaus-Dieter Frankenberger

Leiter Außenpolitik, FAZ

Die politisch-­kulturellen Gegensätze im Innenleben der Vereinigten Staaten explodieren in einem zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. Diese Apokalypse am Ende des 21. Jahrhunderts wird erzählt am Schicksal einer Familie. Sie spült Konflikte an die Oberfläche, deren Wurzeln einem bekannt vorkommen.

Omar El Akkad: American War, S. Fischer 2017

Ulrike Guerot

Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, Donau-Universität Krems

Es gibt kein besseres Buch, um einem deutschen Leser auf rund 160 dichten und mit Informationen und Zahlen gespickten Seiten zu erklären, warum Frankreich Probleme mit dem Euro hat. Mehr noch: Das Buch macht deutlich, dass Macron für seine Politik keine soziale Basis hat und eigentlich nur scheitern kann – wenn, ja, wenn Deutschland nicht endlich versteht, dass Frankreich ein anderes Europa braucht.

Bruno Amable und Stefano Palombarini: L’Illusiondu bloc bourgeois, Raisons d’agir 2017

Eric Gujer

Chefredakteur, NZZ

Derzeit gibt es kaum ein Thema, das mit derart bangem Tremolo verhandelt wird wie der angebliche Untergang der liberalen Weltordnung. Richard Haass beschreibt nüchtern, wie sich die Welt nach dem Ende der unipolaren Ordnung verändert. Auch wenn die USA derzeit von ihrer Innenpolitik absorbiert werden, bleiben sie die militärische und ökonomische Führungsmacht. Das setzen sie auch unter Trump nicht aufs Spiel.

Richard Haass: A World In Disarray, Penguin Press 2017

Christoph Heusgen

Deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen

Schonungslos reißt Bernd Ulrich den Schleier der Gewissheiten von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA, in Russland, in Europa, in Deutschland. Ulrich fordert den Leser; er muss vom Denken in vorgefertigten Mustern Abstand nehmen. Seine klaren Analysen und seine klugen Anregungen tragen dazu bei, dass man am Ende der Lektüre nicht in eine tiefe Depression fällt.

Bernd Ulrich: Guten Morgen, Abendland, Kiepenheuer & Witsch 2017

Joachim Krause

Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik, Universität Kiel

Dieses Buch ist die derzeit sachkundigste Auseinandersetzung mit der Rolle nuklearer Waffen der USA in einer Zeit internationaler Ungewissheit. Wir werden uns auf härtere Zeiten einstellen und wieder über nukleare Abschreckung reden müssen, auch wenn sich heute kein deutscher Politiker daran wagt.

Brad Roberts: The Case for U.S. Nuclear Wea­pons in the 21st Century, Stanford U. P. 2016

Stefan Liebich

Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Die Linke

In seinem Roman beschreibt von Dittfurth die Vereinigung von DDR und Bundesrepublik Deutschland. Nur verläuft sie hier anders herum. Das Buch ist amüsant, erschreckend und macht an vielen Stellen nachdenklich. Bei den Konflikten, die wir gegenwärtig in der EU, mit der Türkei, Russland, Nordkorea oder Donald Trump haben, erinnert es daran, dass es nicht schadet, sich vorzustellen, wie andere auf die Welt schauen, wenn man Lösungen finden möchte.

Christian von Dittfurth: Die Mauer steht am Rhein, Kiepenheuer & Witsch 1999

Hanns W. Maull

Senior Fellow bei MERICS und SWP

Das Buch hält uns in einer brillanten, gedankenreichen Philippika vor Augen, wie prekär die Verfassung der Welt und auch der Menschheit selbst durch die ungebremste Machtentfaltung unserer Spezies inzwischen geworden ist. Vielleicht hilft es, das „Prinzip Verantwortung“ neu zu beleben, das Hans Jonas ja schon 1979 eindringlich angemahnt hat.

Yuval Noah Harari: Homo Deus, Eine kurze Geschichte von Morgen, C.H. Beck 2017

Almut Möller

Leiterin Berliner Büro, European Council on Foreign Relations

Die Erinnerungen eines der größten Architekten der europäischen Integration sind ein persönlicher und detailreicher Einblick in das Zusammenspiel von Konflikt und Kooperation zwischen den politischen Kräften in der EU. Wir brauchen viel mehr solcher Einblicke, wie in Europa Politik gemacht wird, damit unser Verständnis von der EU als politischer Gemeinschaft reifen kann.

Jacques Delors, Erinnerungen eines Europäers, Parthas 2004

Hildegard Müller

Hauptgeschäftsführerin, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft

T.C. Boyles Roman aus dem Jahr 1995 behandelt virtuos die Themen amerikanische Werte, die teils begründeten, teils paranoiden Ängste und die Ausländerfeindlichkeit einer gehobenen Mittelschicht. Eine fast tragikkomische Geschichte, die uns hilft, das Amerika des Jahres 2017 besser zu verstehen.

T.C. Boyle: The Tortilla Curtain, Viking Press 1995

Nora Müller

Leiterin des Hauptstadtbüros, Körber-Stiftung

Herfried Münkler beleuchtet Ursachen, Verlauf und Folgen des europäischen Großkonflikts. Er verdichtet den historischen Kontext zum Analysemodell für aktuelle Krisen. Eine lohnende Lektüre auch für Außenpolitiker im 21. Jahrhundert. Denn miteinander verwobene Hegemonial- und Religionskonflikte, lokale Warlords, Kriegsunternehmer und Regionalmächte, die sich Stellvertreterkriege liefern, sind kein Alleinstellungsmerkmal der Frühen Neuzeit.

Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg, Rowohlt Berlin 2017

Cem Özdemir

Bundesvorsitzender, Bündnis 90/Die Grünen

Ivan Krastev macht in seinem wunderbar lesbaren Essay deutlich, dass wir Ost und West zusammenbringen müssen, um die Einheit Europas zu wahren. Er fordert uns zum dringend notwendigen Nachdenken über die Ursachen der europäischen Krise und mögliche Antworten darauf heraus. Ich teile mit ihm den Glauben, dass die Zukunft Europas im Miteinander statt in einem Rückfall ins Gegeneinander liegt.

Ivan Krastev: Europadämmerung, Suhrkamp 2017

Volker Perthes

Direktor, Stiftung Wissenschaft und Politik

Ein lesenswerter Versuch, aus eher globaler als westlicher Perspektive Faustregeln zu definieren, um die Chancen und Risiken des wirtschaftlichen Auf- oder Abstiegs einzelner Staaten erfassen zu können. Einige davon orthodox, andere recht unorthodox (darunter die Suche nach den guten und schlechten Milliardären!).

Ruchir Sharma: The Rise and Fall of Nations, Penguin Books 2017

Verena Ringler

Leiterin Internationale Verständigung, Stiftung Mercator

Ein ungewöhnlicher und anregender Blick auf die Frage nach der „Input-Legitimität“ unserer Demokratien. Der Archäologe Van Reybrouck zeichnet die Rollen von Schöffen und von per Los ausgewählten Gruppen in Aushandlungsprozessen von der antiken Polis bis zu den jüngsten Verfassungsprozessen in Irland und Island nach. Für die Weiterentwicklung der Demokratie in Europa empfiehlt er deliberative Verfahren – die nicht mit direkter Demokratie zu verwechseln sind.

David Van Reybrouck: Gegen Wahlen, Wallstein 2016

Constanze Stelzenmüller

Senior Fellow, Brookings

Vom Autor, einem Freund und Kollegen, als Fibel für die Regierung von Hillary Clinton geschrieben, steht dieses Buch nun als Warnung vor dem Chaos der Regierung Trump da. Auch für Europa, das mehr tun muss, um die globale Ordnung zu erhalten, von der es geschützt wird.

Thomas Wright: All Measures Short of War, Yale University Press 2017

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2017, S. 132 - 135

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