Buch des Jahres
Was man 2016 gelesen haben sollte
Niels Annen
Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Selten war eine historische Studie so aktuell wie Kristina Spohrs Buch über Helmut Schmidt. Sein erfolgreiches Management der ökonomischen Krisen hat uns nicht nur bleibende Formate wie G7 hinterlassen, sondern auch das damals noch geteilte Deutschland als Gesprächspartner auf Augenhöhe mit den führenden Mächten der Welt etabliert. Ein unterschätztes Verdienst seiner Kanzlerschaft. Lesenswert!
Kristina Spohr: The Global Chancellor. Helmut Schmidt and the Reshaping of the International Order, Oxford University Press 2016
Stefanie Babst
Leiterin der strategischen Planungsabteilung, NATO
Einmal das große Ganze verstehen, ohne in einer Flut wissenschaftlicher Theorien und Details unterzugehen: Yuval Noah Harari schafft das glänzend. Ohne überflüssige Schnörkel erzählt der israelische Historiker die Geschichte des Homo Sapiens, die vor rund 2,5 Millionen Jahren in Afrika begann.
Yuval Noah Harari: Sapiens, Harper 2015
Thomas Bagger
Leiter des Planungsstabs, AA
Die Dissertation des großen deutsch-amerikanischen Historikers von 1961 liest sich heute (wieder) als irritierend aktuelle Zeitdiagnose. Er beschreibt eindrücklich den Verlust der Vernunft – nicht an den Rändern, sondern in der Mitte der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Der Triumph der Irrationalität geht dem Extremismus voraus. Was vermag die Kraft der Vernunft heute gegen jene, die die Gegenwart zugunsten einer idealisierten Vergangenheit zerstören wollen?
Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Klett-Cotta 2005
Klaus-Dieter Frankenberger
Leiter Außenpolitik, FAZ
Wer verstehen will, was viele weiße Wähler zu Donald Trump treibt, wird hier fündig. Eine erschütternde und bewegende Familien-, Kultur- und Sozialstudie über Enttäuschung, Verbitterung und Verrohung eines Teiles der Bevölkerung, dessen Schicksal die Politik viel zu lange ignoriert hat.
J. D. Vance: Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, Harper 2016
Ulrike Guérot
Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems
In Zeiten der grassierenden Re-Nationalisierung in Europa, in denen wieder Kriegsgeruch in der Luft liegt, mag es erhellend sein, noch einmal in jenem kleinen Büchlein zu blättern, das Immanuel Kant 1795 der Welt schenkte. Darin skizziert der große Philosoph den radikalen Entwurf eines Weltbürgertums, einer Weltgemeinschaft ohne Nationalstaaten. Bei der Lektüre könnte man sich dann daran erinnern, dass das Ursprungsmotiv des europäischen Friedensprojekts nichts geringeres als die Überwindung der Nationalstaaten war.
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, De Gruyter 2015
Eric Gujer
Chefredakteur der NZZ
Richard Nixons Präsidentschaft ist ein Lehrbeispiel für das Verhältnis von Innenpolitik und Außenpolitik. Seine Annäherung an China, mit der er Russland zu Konzessionen zwingen wollte, ist große Strategie und eine bis heute bemerkenswerte Leistung. Doch Nixon stürzte über illegale Machenschaften im Wahlkampf und seine Paranoia. Evan Thomas hat eine der widersprüchlichsten Politikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts mit dem Sinn für Zwischentöne porträtiert. Nixon bleibt in dem Welttheater namens Außenpolitik eine Figur mit shakespearehaften Zügen.
Evan Thomas: Being Nixon. A Man Divided, Paperback Random House 2016
Emily Haber
Staatssekretärin, Bundesministerium des Innern
John Darwin ist einmal als Virtuose der Globalisierungsgeschichte bezeichnet worden. Mit Recht. Hier beschreibt er, wie nahöstliche, asiatische und europäische Aufstiegs-, Rivalitäts- oder Niedergangsgeschichten von Wechselwirkungen geprägt waren – hochkomplex, sprunghaft, widersprüchlich und zu keinem Zeitpunkt gradlinig in die Zukunft extrapolierbar. Dass er als Ausgangsschauplatz Sultan Tamerlans Eurasien wählt, illustriert die Grundthese: Globalisierung war keine selbstverständliche, unvermeidlich angelegte Aufstiegsgeschichte des Westens.
John Darwin: After Tamerlane, Penguin 2008
Wolfgang Ischinger
Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz
Wer wissen will, wie das begann, was zu G7, G8 und G20 führte, und wie vor 35 Jahren über nukleare Nachrüstung mit der Sowjetunion verhandelt wurde, muss dieses Buch lesen.
Kristina Spohr: The Global Chancellor. Helmut Schmidt and the Reshaping of the International Order, Oxford University Press 2016
Hans-Ulrich Klose
ehem. stellvertr. Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss, Deutscher Bundestag
Frank Bascombe, Makler, Ex-Sportreporter, ist ein hinreißend genauer Beobachter der heutigen USA, die – davon ist er überzeugt – von Leuten regiert werden, die sich vor allem auf ihre Vorteile verstehen: Bush jr. und überhaupt „Republikaner“. Eine lohnende Lektüre für Amerika-Freunde, die gern auf Menschen treffen, die so gar nicht dem vorurteilsbeladenen Klischee „des“ Amerikaners entsprechen.
Richard Ford: Frank, Hanser Berlin 2015
Stefan Kornelius
Leiter Außenpolitik, SZ
In den Erinnerungen an sein noch gar nicht so langes Leben eröffnet Vance einen sensationellen Blick auf die weiße Unterschicht Amerikas, einen vergessenen Teil der Gesellschaft, abgehängt, ohne Hoffnung, ohne Antrieb. Gemeinsam mit den Globalisierungsverlierern aus der unteren Mittelschicht bilden sie eine mächtige Wählergruppe. Für alle, die wissen wollen, warum Donald Trump funktioniert.
J. D. Vance: Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, Harper 2016
Joachim Krause
Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik, Universität Kiel
Das Buch behandelt Kleptokratien und korrupte Herrschaftssysteme und eröffnet einen realistischen Blick auf die internationalen Beziehungen. Eines der Hauptanliegen deutscher Außenpolitik ist die Heilung fragiler Staatlichkeit außerhalb Europas. Sarah Chayes zeigt auf, dass die Probleme, die aus starker und krimineller Staatlichkeit erwachsen, viel bedeutsamer sind.
Sarah Chayes: Thieves of State, Norton 2015
Stefan Liebich
Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Die Linke
„Chinas Bauch“ nimmt den Leser mit auf eine sehr persönliche Reise und erklärt in wunderbaren Worten, warum die Menschen im Reich der Mitte so sind, wie sie sind. Es geht um Traditionen, Bräuche, Gefühle, nicht um die große politische Strategie. Mir hat das Buch im Umgang mit chinesischen Gesprächspartnern mehr geholfen als die Halbjahresberichte des Auswärtigen Amtes.
Marcus Hernig: Chinas Bauch, Edition Körber-Stiftung 2015
Georg Löwisch
Chefredakteur der taz
Hat man diese Biographie gelesen, kann man Erdogans Handeln lesen. Aber Obacht, denn – das lehrt uns die Autorin – der Präsident ist „ein Taktiker erster Güte – oder aber übelster Sorte“.
Cigdem Akyol: Erdogan. Die Biographie, Herder 2016
Almut Möller
Leiterin Berliner Büro, European Council on Foreign Relations
Johann Gottlieb Fichtes Antwort auf die durch aggressiven wirtschaftlichen Wettbewerb ausgelösten Konflikte zwischen Staaten ist der „geschlossene Handelsstaat“, der den Wohlstand der eigenen Bürger nach innen zu sichern vermag, ohne dies auf Kosten anderer in der Welt zu tun. Sperrige Lektüre, aber es hat in diesen Tagen etwas Beruhigendes zu lesen, wie tief unsere heutigen Auseinandersetzungen um die Gestaltung Europas und der Welt in der europäischen Ideengeschichte verwurzelt sind.
Johann Gottlieb Fichte: Der geschlossene Handelsstaat (1800), Hofenberg 2015
Rolf Mützenich
Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
Eine umfassende, interdisziplinäre und grenzüber-schreitende Darstellung der europäischen Expansion und Durchdringung der Welt, die der Ausdauer des Lesers einiges abverlangt, dafür aber manche internationalen Verwerfungen, Widerstände und Lösungsmängel erklären hilft.
Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. C.H. Beck 2016
Omid Nouripour
Außenpolitischer Sprecher Bündnis 90/Die Grünen
Nur, wenn wir den Irak – das Kernland des IS – verstehen, können wir den Kampf gegen die Terrormiliz gewinnen: Emma Skys fesselnd geschriebener Bericht über ihre Jahre im Irak an der Seite der US-Truppen erzählt, wie der IS aus den Trümmern des Zweistromlands entstand. Daneben liefert sie ausgesprochen aufschlussreiche Einblicke in die Dynamiken, die die Politik des Landes bis heute bestimmen – und den Schlüssel für eine Stabilisierung liefern können.
Emma Sky: The Unraveling, PublicAffairs 2015
Volker Perthes
Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik
Ferguson schildert Kissin-ger in seinem Bildungsroman als einen Idealisten, der gelernt hat, dass politische Entscheidungen meist die Abwägung zwischen zwei Übeln darstellen. Und als sehr karriereorientierten, strategischen Kopf, dem fast gleich ist, welchem Präsidenten er einmal dienen wird.
Niall Ferguson: Kissinger. Volume 1, 1923–1968: The Idealist, Penguin 2015
Ruprecht Polenz
ehem. Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss, Deutscher Bundestag
Scharfsichtig und sprachmächtig analysiert der gebürtige Russe Boris Schumatsky das heutige Russland, Putins populistische Propaganda und die Bereitwilligkeit im Westen, dieser auf den Leim zu gehen. Sehr empfehlenswert für alle und Pflichtlektüre für die, die Krone-Schmalz gelesen haben.
Boris Schumatsky: Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin, Residenz-Verlag 2016
Verena Ringler
Leiterin Internationale Verständigung, Stiftung Mercator
Bei der Lektüre dieses Buches durfte ich mich des Ur-Narrativs der europäischen Integration vergewissern. Als Visionär und Netzwerker ohne formales Amt schaffte Monnet ein wahres Wunderwerk in der Disziplin, die wir heute „Art of Hosting“ nennen: Er brachte kurz nach Kriegsende die Kohle- und Stahlbarone Frankreichs und Deutschlands in einen Raum.
François Duchêne: Jean Monnet, Norton 1994
Helga Maria Schmid
Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes
Yoko Ogawa ist eine japanische Autorin, die einen in eine etwas skurrile Welt entführt, und das mit einem ganz besonderen Schreibstil – einfach, eindringlich, berührend. Das Buch handelt von einem Professor, dessen Gedächtnis nach einem Unfall nur noch 80 Minuten reicht, seiner neuen Haushälterin – und der faszinierenden Welt der Mathematik, die unvermutete Bande entstehen lässt.
Yoko Ogawa: Das Geheimnis der Eulerschen Formel, Aufbau 2012
Daniela Schwarzer
Direktorin des Forschungsinstituts der DGAP
In einer Zeit, in der Nationalismus und Populismus unsere westlichen liberalen Demokratien be-drohen, könnte uns ein Blick auf das Leben und Werk des großen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson (1936–2015) helfen. In seiner jüngst erschienenen Autobiografie lässt Anderson den Leser an der Entstehungsgeschichte seines 1983er Meisterwerks „Imagined Communities“ teilhaben, in dem er Ursprung und Aufstieg des Nationalismus analysierte.
Benedict Anderson: A Life Beyond Boundaries. A Memoir, Verso 2016
Constanze Stelzenmüller
Senior Fellow, Brookings
J. D. Vances Familiensaga über die postindustriellen, von Arbeitslosigkeit und Drogensucht verheerten Landstriche, in denen Obamas frohe Kunde von „hope and change“ nie ankam. Wer schreibt die deutsche Version dieser Geschichte?
J. D. Vance: Hillibilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, Harper 2016
Jürgen Trittin
Mitglied im Ausw. Ausschuss für Bündnis 90/Die Grünen
Kautskys Geschichte des Ersten Weltkriegs ist auf Quellen des Auswärtigen Amtes gestützt und gut lesbar. Und anders als neuere Publikationen neigt Kautsky nicht dazu, Geschichte als Automatismus zu beschreiben. Sie wird von Interessen getrieben. Erfrischende erneute Lektüre nach dem Hype des Jahres 2014.
Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand (1919), Dearbooks 2015
Almut Wieland-Karimi
Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze
Das Buch bricht mit einem Tabu, das da lautet: Mit Terroristen sprechen wir nicht. Das haben schon viele Regierungen gesagt, obwohl sie es hätten besser wissen müssen. Denn über Frieden kann man nur mit seinen Feinden verhandeln – und am Ende landen alle am Verhandlungstisch, ob die IRA, die ETA, Hamas, die Taliban und irgendwann auch der IS. Wie sagte JFK: „Let us never negotiate out of fear but let us never fear to negotiate.“
Jonathan Powell: Talking to terrorists. How to end armed conflicts, Bodley Head 2013
Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 132-137