Brüssel und die Bürgermeister
Wie steht die EU heute da, nach Finanz-, Flüchtlings- und Corona-Krise? Besser als viele denken. Europa hat dazugelernt. Und die großen Städte tragen viel dazu bei, der Union ein stabiles Fundament zu verleihen.
Erneut blickt die Europäische Union auf ein Krisenjahr zurück. Im Repertoire der Krisen der vergangenen Jahre – Brexit, Flüchtlingskrise, Finanzkrise – bedeutete die Covid-19-Pandemie eine neuartige Form der Herausforderung, für die es keine europäische Blaupause gab. Zugleich wirkte sie sich auf uns alle unmittelbarer aus als die Krisen zuvor. Heute geht es darum, durch eine bessere Verzahnung der verschiedenen Ebenen der Europapolitik gemeinsam Probleme zu bewältigen. Nicht nur die EU und ihre Mitgliedstaaten, auch Städte und Regionen lernen dabei fortlaufend hinzu.
Die Zeit nach der Pandemie
Im Frühsommer 2021 kann Europa vorsichtig optimistisch auf eine Zeit „nach der Pandemie“ blicken. Aber ist die Union dafür gerüstet? Als Covid-19 sich zu Beginn des vergangenen Jahres immer schneller ausbreitete, bedeutete dies auch einen Stresstest für die EU. Ihr Erfolg gründet sich in erster Linie auf einen offenen Binnenmarkt. Der aber entsteht durch wirtschaftliche Aktivität und Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Menschen. Durch die Pandemie wurde beides empfindlich getroffen. Gleichzeitig ist die Gesundheitspolitik keine Aufgabe der EU, sondern vorrangig ihrer Mitgliedstaaten und deren regionaler und kommunaler Untergliederungen.
Und so hat Covid-19 ein Spannungsverhältnis aufgezeigt: Natürlich macht ein Virus nicht an Grenzen halt. Aber die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Menschen liegt gerade nicht bei der EU, sondern bei den Staaten, Regionen, Städten und Gemeinden der Europäischen Union – und diese Kompetenzverteilung ist schon im deutschen Bund-Länder-Verhältnis ziemlich anspruchsvoll. Das Ineinandergreifen von lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebenen, das das Zusammenwachsen unseres Kontinents unter dem politischen Dach der EU kennzeichnet, macht das Management von Krisen nicht einfacher. Das war so bei den Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa vor einigen Jahren und zeigt sich auch in der Covid-19-Pandemie.
Insbesondere bei der Impfstoffbeschaffung wurde in öffentlichen Debatten die Frage laut, ob angesichts der Erfolge von Großbritannien und den USA nicht der Alleingang die bessere Strategie im Vergleich zum gemeinsamen europäischen Vorgehen sei. Diese Debatte hatte durchaus das Potenzial, Kritikern der europäischen Integration Rückenwind zu geben. Doch sie ist wieder verstummt. Bei aller zwischenzeitlichen Kritik war es rückblickend richtig, gemeinsam europäischen Kurs zu halten. In einem politischen Raum mit einem Patchwork von Mitgliedstaaten und der Geografie Europas ist es vollkommen klar, dass die Pandemie nicht durch eine letztlich trügerische Form von Abschottung hätte gemeistert werden können. Die EU ist eben keine Insel.
Im Unterschied zu anderen Krisen in der Vergangenheit konnten sich die EU und ihre Mitglieder kritisch mit den Fehlern bei der Impfstoffbeschaffung auseinandersetzen, ohne gleich das Ende der Union an die Wand zu malen – ein Zeichen von Fehlerkultur und politischer Reife.
Und auch dies hat das vergangene Jahr gezeigt: Die Europäische Union hat nach einer Reihe von Krisen in den vergangenen 15 Jahren handwerklich und politisch dazugelernt. Im Zuge der globalen Banken-, Finanz- und Staatsschuldenkrise standen die Mitglieder der Eurozone zeitweise vor der Frage, ob die Währungsunion in ihrer damaligen Form dem Druck standhalten würde.
2015/2016 rangen die Regierungen mit der EU um einen gemeinsamen Weg in der Flüchtlingsfrage. Beides waren Themen, die das Potenzial hatten, die Union auseinanderzureißen, weil die politischen Fliehkräfte immer stärker wurden. Über Monate, gar Jahre, wurde damals verhandelt und rückblickend wichtige Zeit verloren – und vielerorts auch die Unterstützung der Wählerinnen und Wähler für die Europapolitik der nationalen Regierungen.
In der Covid-19-Pandemie gab es zwischen Brüssel und den nationalen Regierungen vergleichsweise früh ein gemeinsames Verständnis dafür, dass die EU flankierend zu den Maßnahmen in den Mitgliedstaaten ein eigenes Konjunkturpaket auflegen müsse. In einem gemeinsamen Binnenmarkt haben die Regierungen ein vitales Interesse an der Stärke der anderen. Wie viel Unterschiedlichkeit die Union aushalten kann, ist dabei keine theoretische Frage. Sie stand ganz konkret im Raum, als es darum ging, wie man die Folgen der Pandemie gemeinsam abfedern könnte.
So gelang es Brüssel und den Regierungen nach intensivem Ringen bereits im Juli 2020, einen Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“) in Höhe von 750 Milliarden Euro auszuhandeln. Damit wurde ein Instrument geschaffen, das der EU in der Krise eine neue Form der Handlungsfähigkeit verleihen sollte. Es umfasst die Möglichkeit für die Europäische Kommission, Mittel an den Finanzmärkten aufzunehmen und diese durch eigene Mittel langfristig zurückzuzahlen. Ein Meilenstein für die europäische Handlungsfähigkeit.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz bezeichnete das damals zu Recht als „Hamilton-Moment“ – nach dem ersten Finanzminister der USA, der am Ende des 18. Jahrhunderts dem neuen Staatenbund durch die Möglichkeit gemeinsamer Einnahmen und einer eigenständigen Verschuldungsfähigkeit ein tragfähiges Fundament verliehen hatte.
Die parallel laufenden Verhandlungen zum EU-Haushaltsrahmen 2021–2027 wurden in Einklang mit den Zielen des Wiederaufbaus nach der Pandemie gebracht. So wurde das bisher größte Wachstumspaket in der Geschichte der EU geschnürt – ein Plan, der den wirtschaftlichen Neustart mit einem Schub für grünes Wachstum und Digitalisierung verzahnen soll.
Verhalten optimistisch
Etwas in den Hintergrund gerückt ist dabei eine Frage, mit der sich die Europäische Union im vergangenen Jahr endlich ernsthaft beschäftigt hat: Wie soll Europa mit wachsenden Problemen bei der Rechtsstaatlichkeit in EU-Ländern umgehen? Seit Anfang 2021 gilt ein Mechanismus, nach dem die EU durch einen Beschluss des Ministerrats mit qualifizierter Mehrheit Haushaltsmittel kürzen kann, wenn Mitgliedstaaten gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Außerdem hat die Kommission im Herbst 2020 zum ersten Mal einen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit vorgelegt, der die Entwicklungen in allen Mitgliedstaaten beleuchtet und nun jedes Jahr vorgelegt wird.
So kann die EU im Frühsommer 2021 nicht nur auf einige Erfolge bei der Pandemiebekämpfung blicken; sie hat auch wichtige Weichen für die eigene Zukunftsfähigkeit gestellt. Vermutlich, so sagte mir ein langjähriger Beobachter der Brüsseler Europapolitik neulich lakonisch, habe dabei auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass der gemeinsame Gegner im Unterschied zu den vergangenen Krisen ein Virus war.
Und es gibt noch einen weiteren Faktor, der dazu beigetragen haben dürfte, dass die EU-Länder in der Krise vergleichsweise schnell zueinander fanden: Inzwischen haben sich die Mitgliedstaaten sehr viel besser auf einen verschärften globalen Wettbewerb eingestellt und ein gemeinsames Verständnis von ihrem Selbstbehauptungswillen entwickelt. Der Begriff der „Europäischen Souveränität“ ist mittlerweile auch auf der Konferenz der Europaministerinnen und -minister der Bundesländer angekommen. Es ist ein schillernder Begriff. Im Kern bedeutet er, dass es der EU auch in Zukunft gelingen soll, gemeinsam mit ihren Mitgliedern einen Rahmen zu schaffen, in dem die Menschen selbstbestimmt und in Frieden und Wohlstand leben können. Um nicht weniger und nicht mehr geht es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.
Jetzt, wo eine Aussicht auf die Überwindung der Pandemie besteht, ist es für die EU wichtig, in den Modus der „Zukunftsgestaltung“ umzuschalten. Ganz wesentlich wird es dabei darauf ankommen, ob die Europäer erfolgreich die Transformation in ein neues, postfossiles Zeitalter vorantreiben. Es gilt, die Klimawende als Schwungrad für Innovation zu nutzen – und umgekehrt Europas innovative Wirtschaftskraft darauf zu verwenden, die Klimawende umzusetzen. Dies ist eine Aufgabe, die überall in der Union gelingen muss, nicht nur an einzelnen, besonders innovativen und progressiven Orten.
Bei dieser epochalen Aufgabe spielen die großen Städte in Europa eine besondere Rolle. Viele von ihnen erleben gerade ihren „europäischen Moment“ – und dieser kann dazu beitragen, dass dem viel zitierten „europäischen Mehrebenensystem“ in Zukunft ein noch stabileres Fundament gebaut wird. Aber der Reihe nach.
Der Gedanke der starken Stadt
Im Turmsaal des Hamburger Rathauses ist es seit Pandemiebeginn ziemlich ruhig. Baulich und symbolisch bildet der Saal, der auch den Namen „Saal der Republiken“ trägt, die Mitte des Rathauses. Und er sagt einiges aus über das Selbstverständnis der Freien und Hansestadt Hamburg, wie es die Erbauer des Rathauses zum Ende des 19. Jahrhunderts festhielten.
In seiner runden Form ist der Saal angelehnt an den Baustil der römischen Antike. An den Wänden sind auf großen Wandgemälden die vier ältesten Stadtrepubliken verewigt: die antiken Stadtstaaten Athen und Rom sowie Venedig und Amsterdam. Allegorien des republikanischen Gedankens schmücken die Kuppel. Über dem Saal erhebt sich der Turm des Rathauses. Es ist still an diesem Ort. Aber der Gedanke der starken Stadt, dem dieser Saal gewidmet ist, ist lebendig. Und er erfährt derzeit eine neue Blüte.
Im Februar 2021 war das Rathaus erneut Kulisse einer jahrhundertealten Tradition. Einmal im Jahr lädt der Senat „Vertreter der Hamburg wohlgesonnenen Mächte“ zu einem Festmahl ins Rathaus ein, um die internationalen Beziehungen der Stadt zu pflegen, die ihren Wohlstand über Jahrhunderte besonders durch ihre Handelsbeziehungen gewahrt hat. Üblicherweise wird an einem solchen Abend an langen Tafeln festlich gegessen, während Ehrengäste aus dem In- und Ausland ihre Reden halten. In diesem Jahr fiel das Essen pandemiebedingt aus.
Was aber mit umso größerer Prominenz auf dem Menü stand, war die wichtigste politische Gestaltungsaufgabe der Gegenwart: die Klimawende und damit der Europäische Green Deal, das Schlüsselprojekt der EU-Kommission – eine umfassende Wachstumsstrategie für eine klimaneutrale und ressourcenschonende Wirtschaft.
„Drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union leben in großen Städten und urbanen Ballungsräumen“, so der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher in seiner Rede, die digital aus dem Rathaus übertragen wurde. „Die entscheidenden Schritte beim Klimaschutz müssen also in den Metropolen erfolgen.“ Die großen Städte seien nicht nur die ökonomischen Zentren ihrer Länder, sie hätten auch die Kompetenzen in Wissenschaft und Technologie, um die Energiewirtschaft so nachhaltig umzubauen, dass die CO2-Emissionen im Verkehr, in der Industrie und im Privatsektor sinken.
Dieses Beispiel steht exemplarisch für eine Bewegung, die in diesen Monaten in der EU an Fahrt gewinnt. Ehrengast des virtuellen Gipfeltreffens war der Stadtpräsident Warschaus, Rafał Trzaskowski, der 2020 als Kandidat in den Präsidentschaftswahlen in Polen nur knapp unterlegen war. Warschau hat sich auf den Weg gemacht, die Klimawende in Angriff zu nehmen. In Paris hat sich Bürgermeisterin Anne Hidalgo die „Ville du quart d’heure“ auf die Fahnen geschrieben – eine Stadt, in der jeder Ort des täglichen Bedarfs innerhalb von 15 Minuten auch ohne Auto erreicht werden kann. In Wien hat Bürgermeister Michael Ludwig nicht nur einen Fahrplan hin zur Klimaneutralität; er versucht dabei auch, die sozialen Aspekte der Klimawende im Blick zu behalten.
Nicht nur die großen Metropolen, sondern auch viele mittlere und kleinere Städte in Europa haben begonnen, die Klimawende zu gestalten. Sie alle haben unterschiedliche regionale und nationale Rahmenbedingungen, entdecken aber die Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen die EU mit ihren Programmen zum Klimaschutz bietet. Und sie vernetzen sich, um sich gegenüber den EU-Institutionen mehr Gehör zu verschaffen.
Orte der Entscheidung
Natürlich ist die Klimawende eine Aufgabe nicht nur für die Städte. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass sie nur gelingen kann, wenn sie in den Städten funktioniert. Hier ist der Anpassungsdruck besonders hoch – hier liegt aber auch große Innovationskraft, hier vernetzen sich Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft für eine gesamtgesellschaftlich tragfähige „Wende“. Hier wird auch über die Zukunft der Europäischen Union im 21. Jahrhundert mitentschieden.
Dass die Europäische Kommission die Bedeutung der Städte bei der Umsetzung des Europäischen Green Deal erkannt hat, lässt sich auch an ihrer Schwerpunktsetzung im europäischen Rahmenprogramm für Forschung und Innovation ablesen. Nachdem die Kommission das Rahmenprogramm mit „Horizon 2020“ seit Jahren für städtische Bewerbungen geöffnet hat, verstärkt sie diesen Trend für die kommenden Jahre noch einmal deutlich in „Horizon Europe“, in dem es sogar eine eigene Mission für klimaneutrale und smarte Städte gibt. Ein zusätzlicher Aufruf für den Europäischen Green Deal stieß in diesen Wochen ebenfalls auf große Resonanz.
Aber auch an den „großen Rädern“ drehen Europas Städte inzwischen: So fordern sie gegenüber der EU-Kommission die Möglichkeit ein, unabhängig von ihren nationalen Regierungen auch selbst auf Haushaltsmittel der EU zugreifen zu können. Voran gingen dabei die Bürgermeister von Bratislava, Budapest, Prag und Warschau im Jahr 2019 mit ihrem „Pakt der Freien Städte“, mit dem sie sich selbstbewusst auch gegenüber ihren nationalen Regierungen präsentierten. Inzwischen ist die Riege der Unterstützer dieser Forderung noch weiter gewachsen.
Die Europäische Union sollte die Städte bei der Klimawende noch stärker berücksichtigen. Denn nicht nur wird hier in hohem Maße über den Erfolg oder Misserfolg des Green Deal entschieden. Es besteht gleichzeitig die große Chance, die Kluft zwischen der supranationalen Europäischen Union und der lokalen Ebene ein Stück weit zu schließen. Dies wäre ein wichtiger Schritt für mehr Akzeptanz der Europapolitik „vor Ort“. Und in der Zusammenarbeit in den Städten und Regionen Europas etwa bei Fragen von „Smart Mobility“ und dem Umbau der europäischen Industrie hin zur Klimaneutralität kann so die „Solidarität der Tat“ entstehen, die Robert Schuman vor 70 Jahren beschrieben hat.
Damals ging es darum, durch eine gemeinsame Bewirtschaftung der Kohle- und Stahlindustrie nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs ein festes Fundament für Frieden in Europa zu schaffen. Heute, sieben Jahrzehnte später, tritt Europa in das postfossile Zeitalter ein. Die Vision Schumans bleibt lebendig – und erfährt mit Europas Weg in die Klimaneutralität eine Aktualisierung für das 21. Jahrhundert.
Wenn in diesen Tagen die Konferenz zur Zukunft der EU an Fahrt aufnimmt, gibt dies den Unionsbürgerinnen und -bürgern die Gelegenheit, sich aktiv in die Debatte einzubringen. Das ist auch eine Chance, die verschiedenen Ebenen der europäischen Politikgestaltung miteinander zu verdrahten. Die Digitalisierung im Zuge der Pandemie und die dadurch gewachsene Akzeptanz von virtuellen Debatten eröffnen hier neue Möglichkeiten. Und es ist davon auszugehen, dass die „neue industrielle Revolution“ hier großen Raum einnehmen wird.
Wir kehren noch einmal zurück in den Turmsaal des Hamburger Rathauses. Dort befindet sich über dem mittleren Portal eine Inschrift: „Einigkeit lässt das Kleinste wachsen, Uneinigkeit zerstört das Größte.“ Die Stadt als wirtschaftliche und politische Identität ist eng mit der jahrhundertealten Geschichte Europas verwoben. Die Europäische Union sollte in Zukunft sehr viel stärker auf das Potenzial der Städte setzen. Nach vielen Jahren der Krisen kann so auch der europäische Gedanke hoffentlich eine neue Belebung erfahren.
Almut Möller ist Staatsrätin und Bevollmächtigte der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bund, der Europäischen Union und für auswärtige Angelegenheiten.
Internationale Politik Special 4, „Europa“, Juli/August 2021, S. 6-11