„Brüssel ist nicht Bionade“
Warum Europa zwar erfolgreich ist, bei seinen Bürgern aber kaum ankommt
Europa hat die Wahl, doch keiner geht hin: Wenige Wochen vor dem Urnengang zum EU-Parlament zieht es gerade einmal ein Viertel der Stimmberechtigten in die Wahlkabine. Ein Gespräch mit Lutz Meyer, Geschäftsführer Agenda der Werbeagentur Scholz & Friends, über Europas müde Bürger, die EU als Marke und das Gefühl fehlender politischer Relevanz.
IP: Herr Meyer, „Wir können alles außer Hochdeutsch“, „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“: Scholz & Friends hat sich nicht zuletzt mit seiner Werbung für Baden-Württemberg oder die FAZ einen Namen gemacht. Beide Kampagnen bestechen durch Leichtigkeit und Wortwitz. Nun werben Sie unter dem Motto „It’s your choice!/Deine Entscheidung“ für die Europawahl Anfang Juni. Diesmal kommt Ihre Kampagne jedoch eher ernst und ironiefrei daher. Sie spricht allein den Kopf an – nicht Bauch und Herz. Verträgt Europa keinen Humor?
Meyer: Natürlich verträgt Europa Humor, aber wir haben in Europa sehr viele und ganz unterschiedliche Humorkulturen. Was die Briten witzig finden, darüber können die Deutschen nicht lachen, und die Italiener nehmen es möglicherweise gar nicht erst als Witz wahr. Eine Kampagne kann also nur funktionieren, wenn sie im jeweiligen Kontext als überraschend wahrgenommen wird, und bei einer europaweiten Kampagne müssen wir nun mal 27 verschiedene Länder und damit unterschiedliche Kontexte berücksichtigen. Es kommt hinzu, dass wir mit den europäischen Institutionen einen Absender haben, dessen Kommunikation bisher um Humor einen weiten Bogen gemacht hat, weil immer eine ganze Reihe von politischen Erwägungen mit einbezogen werden mussten…
IP: Also am Ende eine bewusst verkopfte Strategie…
Meyer: Ja, wir zielen auf den Kopf, denn da werden Entscheidungen getroffen. Die EU ist ein anderes Produkt als eine Flasche Bionade. Insofern verträgt politische Kommunikation hier auch mehr Rationalität als Werbung für Limonade oder Kaugummi. Politik ist etwas Rationales, aber die Ergebnisse von Politik haben einen sehr persönlichen Bezug. Im Fokus der Kampagne steht daher der Gedanke der Relevanz. Relevanz hat zwei Aspekte. Zum einen die persönliche Betroffenheit: Relevant ist alles, was sich auf mein Leben auswirkt. Zum anderen braucht es eine Handlungsoption: Wenn ich eine Entscheidung treffe, steigert es die Relevanz. Deshalb zeigt die Kampagne, wie die EU unser tägliches Leben beeinflusst und was jeder Einzelne entscheiden kann.
IP: Es gab einmal vom Deutschen Gewerkschaftsbund eine Imagekampagne, die nach einem ähnlichen Muster warb: „Wer stoppt die Gier? Wer, wenn nicht wir?“ Es wird eine suggestive Frage gestellt, und die Antwort lautet dann: Wir, die Bürger!
Meyer: Genau das ist die Idee. Dennoch halte ich die Ähnlichkeit der Kampagnen für begrenzt. Wir sagen zum Beispiel: In Europa wird über die Sicherheit Deiner Lebensmittel entschieden. Nutze Deine Stimme, um für mehr Bio, mehr konventionelle oder mehr Genprodukte zu sorgen. In zweierlei Hinsicht ist die Kampagne für europäische Kommunikation ein großer Fortschritt: Man hat eine klare visuelle Identität über alle Länder hinweg. Zum anderen haben wir einen sehr reduzierten und zugleich hochwertigen optischen Auftritt – normalerweise finden Sie auf EU-Plakaten viel Text und schlechte Bilder. Und wir setzen auf PR-Effekte, nicht auf bezahlte Werbung. So touren zum Beispiel 40 sechs Meter hohe dreidimensionale Hühnchen über Europas Marktplätze mit der Frage: „Verbraucher schützen – aber wie?“ Ein nacktes Huhn sieht in solch einer Größe ziemlich lustig aus. Dann steht das Ding da irgendwo, die Leute fangen an, darüber nachzudenken, und am Ende finden sich die Hühnchen auf den Titelseiten der Lokalmedien wieder.
IP: Sie werben nicht nur mit Plakaten, sondern auch im Fernsehen. Wie?
Meyer: Es gibt für jedes Land TV-Spots, die wir zentral in Berlin produziert haben. Wir bieten diese Spots in allen 27 Ländern der EU den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern an – zur kostenlosen Ausstrahlung. Die Nachfrage ist groß, denn die Sender dürfen und sollen ihre eigenen TV-Prominenten einfügen, um den Spot als Teil des eigenen Programms erscheinen zu lassen. In vielen Ländern sind wir auch im Radio präsent, vor allem in den östlichen Mitgliedsländern. Es gibt eine umfangreiche Online-Plattform, 40 interaktive Bürgerstudios, die durch Europa touren, und vieles mehr. Alle Projekte funktionieren nach dem gleichen Prinzip: eine zentrale Idee, aber mit lokaler Anpassung in den Ländern. Das hat es in Europa in diesem Umfang noch nicht gegeben.
IP: „Deine Entscheidung“: Warum das IKEA-„Du“ in einer ansonsten zutiefst seriösen Kampagne?
Meyer: Das ist doch kein Widerspruch. Gerade bei den Jüngeren baut diese Form der Ansprache Distanz ab. Der empirische Befund ist eindeutig: Je jünger die Leute sind, desto weniger gehen sie wählen. Wir wollen die Jüngeren erreichen, weil sie die EU in der Regel am wenigsten verstehen. Die Älteren haben meist eine gute Vorstellung, was aus ihrem Land ohne Europa geworden wäre. Für die Jüngeren war die EU immer schon da. Und wer das Problem nicht kennt, kann die Lösung kaum wertschätzen.
IP: Suggeriert die Kampagne nicht, dass man vergleichsweise viel mitentscheiden kann, obwohl das Parlament nur reagieren kann, während die Musik weiterhin in der Kommission und im Rat spielt?
Meyer: Am institutionellen Gefüge können wir nichts ändern, aber man muss wissen: Das Parlament gewinnt zunehmend an Kompetenzen. Zudem ist es das einzige direkt demokratisch legitimierte Organ auf europäischer Ebene. Daher haben wir zunächst zehn Themen identifiziert, die laut Eurobarometer für die EU-Bürger besonders relevant sind, wenn sie an die EU denken, etwa Finanz- und Wirtschaftskrise , Verbraucherschutz, Energie, Bildung, Agrarpolitik oder Gleichberechtigung. Ein weiteres Kriterium war eine Kompetenz des Europäischen Parlaments. So taucht die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht auf; da hat das Parlament – noch – keine Entscheidungsbefugnis. Aus diesen zehn Themen haben sich die Länder dann vier Motive rausgesucht, die bei ihnen von besonderer Bedeutung sind. So ist etwa in Schweden das Thema Gleichberechtigung wichtiger als in Italien, in Deutschland diskutieren wir über Energie lebhafter als in Portugal, dafür spielt dort wiederum das Thema offene Grenzen eine größere Rolle. Einige Themen wurden besonders häufig gewählt: die Finanz- und Wirtschaftskrise, Energieversorgung, Grenzen und Verbraucherschutz.
IP: Es geht also um Relevanz, es geht aber auch um Legitimitätskommunikation. Der amerikanische Wahlforscher Seymour Lipset definiert Legitimität als „die Fähigkeit des Systems, die Überzeugung herzustellen und aufrechtzuerhalten, dass die existierenden politischen Institutionen die für die Gesellschaft angemessensten sind“. Wird Werbung hier zum Vehikel für eine Legitimitätsdebatte der europäischen Institutionen?
Meyer: Nicht Werbung, aber Kommunikation insgesamt ist ein entscheidender Faktor für die Legitimität von Institutionen. Das grundsätzliche Problem von Institutionen ist, dass der Großteil des Kommunikationsaufwands auf Prozesse gerichtet ist, also auf die Information über die Entscheidungsabläufe. Diese Transparenz ist natürlich auch ein Teil der Legitimation. Aber die Bürger interessieren sich am Ende mehr für das Ergebnis als für den Prozess. Wenn Sie zu BMW in die Verkaufshalle kommen, und der Verkäufer erzählt Ihnen lang und breit von den Produktionsprozessen im Werk, dann werden Sie recht bald sagen: „Alles schön und gut, aber jetzt erzählen Sie mir doch einmal etwas über das Auto…“
IP: …„wie schnell fährt das, was verbraucht es…“
Meyer: Die Menschen wollen wissen, was sie von einem Produkt haben – im Marketingdeutsch heißt das „Consumer Benefit“. Kein Käufer will wissen, wann sich die Motorenabteilung mit der Entwicklungsabteilung gestritten hat und ob der Vorstand eingreifen musste. Ebenso ist es dem Bürger auch ziemlich egal, in welchem Verfahren Ministerrat, Parlament oder Kommission ihre Themen bearbeiten und welche Detailschritte erreicht wurden. Die Menschen können ja schon auf nationaler Ebene nicht auseinanderhalten, was die Regierung, Parteien, Parlamente und der Bundesrat entscheiden. Es kommt auf die Ergebnisse an. Und die müssen im Sinne der Legitimation der europäischen Institutionen viel besser erklärt werden. Die EU muss lernen, Prozess von Produkt zu unterscheiden und Entscheidungen zugespitzt zu kommunizieren.
IP: Aber wie kann man bei der Europawahl für diese Zuspitzung sorgen?
Meyer: Das ist in der Tat ein Problem. Wir müssen hier ohne weithin bekannte Spitzenkandidaten auskommen, ohne Köpfe, die polarisieren, die sich mit ihren Konzepten präsentieren und die mediale Debatte prägen. Wir haben zwar nationale Spitzenkandidaten der Parteien, doch die werden nicht so wahrgenommen wie eine Angela Merkel, ein Frank-Walter Steinmeier oder gar wie Obama und McCain. Die Kampagne kann deshalb nur auf die Wahl an sich aufmerksam machen und es damit den Kandidaten und Parteien ermöglichen, gehört zu werden. Dazu setzen wir in einigen Ländern in den TV-Spots auch auf nationale Testimonials.
IP: In Deutschland ausgerechnet auf Olli Kahn?
Meyer: Olli Kahn ist ein überaus bekanntes Gesicht. Er ist sicher kein EU-Experte, aber die Leute hören ihm zu. Insofern ist er genau der Richtige für einen TV-Spot zur Europawahl, denn er sagt dem Bürger: „Jetzt bleib mal hier sitzen! Ich verbürge mich mit meiner Person dafür, dass das, was jetzt kommt, kein Unsinn, sondern für dich relevant ist“, und am Ende kommt die Wahlaufforderung: „Du entscheidest.“
IP: Und wenn die Bürger gar nicht entscheiden wollen? Das ist ja letztlich auch eine demokratietheoretische Frage: Wenn die Leute nicht wählen wollen, kann man sie nicht dazu zwingen. Ist es nicht absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass in anderen Ländern die Leute nicht wählen dürfen, und hier wollen sie es gar nicht? Kommen wir hier nicht an die Grenzen der Demokratie?
Meyer: Nichtwählen kann ja durchaus eine rationale Entscheidung sein. Der Akt des Wählens bedeutet eine bewusste und oft auch öffentliche Willensentscheidung, die mich mit einem bestimmten Aufwand konfrontiert. Ich muss mich informieren, muss ins Wahllokal gehen und mich hinterher für meine Entscheidung rechtfertigen, vor mir selbst und vor anderen. Das alles sind Gründe, diesen Aufwand möglichst zu vermeiden. Nur wenn der Wahlausgang eine besondere Relevanz für die Menschen hat, machen sie von ihrem Wahlrecht gerne Gebrauch. Deshalb ist der Schlüssel zur Erhöhung der Wahlbeteiligung immer die Erhöhung der Relevanz. Es werden erst dann massenhaft Bürger zur Europawahl gehen, wenn in Europa die fünf für sie täglich wichtigsten Entscheidungen zur Abstimmung stehen – und zwar ausschließlich dort.
IP: Bedeutet dies nicht auch eine Reform des Systems?
Meyer: Eine Reform des Systems, aber auch eine entsprechende Kommunikation über Europa. Wir haben keine ausgeprägte europäische Öffentlichkeit. Die Leute lesen ihre Lokalzeitungen, ihre Landeszeitung, von mir aus noch die FAZ, aber der Fokus ist auf das Lokale gerichtet. Das ist auch in Ordnung, weil dort die relevanteren Sachen entschieden werden: der neue Bürgermeister, die gesperrte Straße, das kaputte Klärwerk.
IP: Lässt sich denn ein Durchbruch allein über Kampagnen schaffen?
Meyer: Nein. Kampagnen können Wahrnehmungen nur punktuell verstärken, aber Grundüberzeugungen nicht kurzfristig verändern. Die Kampagne ist eine attraktive Verpackung für das Produkt, aber das Produkt selbst können wir nicht beeinflussen. In Europa ist der Kommunikationserfolg zu 50 Prozent eine Frage der Kompetenzen, zu 50 Prozent eine der Kommunikation. Die Kompetenzen wandern auf europäischer Ebene weiter in Richtung Parlament. Wir werden hier in naher Zukunft das normale Drei-Organe-System haben. Mit jedem Kompetenzzuwachs merken die Bürger, dass in Europa die für sie wichtigen Sachen entschieden werden.
IP: Nicht zur Wahl gehen ist das eine. Wenn die Bürger aber bei einem Referendum ausdrücklich „Nein“ sagen, hat das eine andere Qualität. Dreimal haben Europas Bürger dem geplanten EU-Verfassungsvertrag bereits die Rote Karte gezeigt und die Union damit in eine existenzielle Krise gestürzt. Welche Konsequenzen lassen sich aus den gescheiterten Volksabstimmungen für die Europawahl ziehen?
Meyer: Wir haben uns vor allem die Lage in Irland angeschaut und zwei Schlüsse daraus gezogen. Erstens: Nicht kommunizieren ist auch kommunizieren. Die damalige irische Regierung hat bewusst spät und „low-profile“ kommuniziert, um keine Angriffsfläche zu bieten. Das war falsch, weil die Gegner in erheblichem Ausmaß mobilisiert hatten. Es gab also keine „Yes“-Kampagnen. Und als diese Kampagnen dann anliefen, haben sie den erwähnten „Consumer Benefit“ nicht glaubhaft vermittelt. Im Gegenzug wurde von den Gegnern alles Mögliche vorgebracht, was uns Europa Schlimmes bringen würde.
IP: Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass es einfacher ist, gegen Europa zu werben als dafür. Oder waren die Gegner so gut, dass Sie als Werber den Hut vor ihnen ziehen?
Meyer: Die EU-Gegner haben sich einfach auf ganz wenige Themen konzentriert und frühzeitig und systematisch kommuniziert; das haben sie ohne Zweifel sehr gut gemacht. Wer für Europa kommunizieren will, muss sich deshalb im doppelten Sinn anstrengen: Er muss in gleicher Weise zuspitzen wie die Gegner, und er muss die Komplexität des Systems selbst mit begründen. Pro-EU-Kommunikation ist deshalb wesentlich anspruchsvoller.
IP: Hatten Sie denn erwogen, eine reine Pro-Europa-Kampagne zu machen?
Meyer: Wir haben uns das überlegt, aber wir haben uns dagegen entschieden, weil dies in vielen Ländern einen Rückschritt bedeutet hätte. Wenn Sie eines der klassischen Pro-Europa-Länder wie Luxemburg nehmen, dann haben Sie dort eine Traumquote von etwa 90 Prozent Wahlbeteiligung. Deutschland liegt im soliden Mittelfeld mit 45 Prozent. Und dann haben Sie die Ausreißer nach unten, vor allem die südosteuropäischen Länder wie Rumänien. Ich glaube, für ein Land, das erst seit ein paar Jahren in der Europäischen Union ist, stellt sich die Tatsache, dass man da irgendetwas wählen kann, relativ abstrakt dar. In solchen Ländern wäre eine vorgeschaltete Pro-Europa-Kampagne sicherlich sinnvoll. Aber letztlich geht es darum, wie wir Europa gestalten wollen.
IP: Gleichwohl stellt Europa offenbar das Gegenteil des Wowereitschen Berlin-Diktums „arm, aber sexy“ dar: erfolgreich, aber unattraktiv …
Meyer: Ich bezweifle, dass die Menschen Europa tatsächlich nicht attraktiv finden. Ich glaube eher, dass sie die Vorteile einer europäischen Gemeinschaft schon als so selbstverständlich erachten, dass sie sich gar nicht mehr die Frage stellen, wo das eigentlich alles herkommt: Reisefreiheit, Sicherheit, Normierungen. Wir alle sind eigentlich gegen Normierungen, aber wenn wir in einem Hotel keinen passenden Internetstecker bekommen, regen wir uns auf. Ich bin sicher, dass die grundsätzliche Zustimmung zu Europa nicht abnehmen, sondern weiter zunehmen wird – auch durch die Finanz- und Wirtschaftskrise.
IP: Die Finanzkrise trägt dazu bei, dass bei den Bürgern das Gefühl wächst: „Gut, dass wir die EU haben“?
Meyer: In der Tat gibt es eine Reihe von Entwicklungen, die durch die Finanzkrise ausgelöst wurden und sich positiv für die Europäische Idee auswirken. Zum ersten ist das Vertrauen in die Kraft Amerikas gesunken. Zweitens erlebt die schützende Hand des Staates eine Renaissance. Und drittens hat das Thema internationale Koordination an Bedeutung gewonnen. Alles das dürfte dazu führen, dass die EU als nicht nur bekannte, sondern auch relevantere Einrichtung wahrgenommen wird.
IP: Wie bekannt ist sie überhaupt?
Meyer: Wir haben eine Markenbekanntheit der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments, die in Deutschland über den Marken Armani und Apple liegt. Apple kennen in Deutschland 79 Prozent, Armani 66 Prozent, das Europäische Parlament 90 Prozent, die Europäische Kommission 80 Prozent. Insgesamt ist die EU eine der stärksten Marken, die es auf der Welt gibt. Noch höher liegen nur die Vereinten Nationen oder die NATO.
IP: Bekannt, aber auch beliebt? In den siebziger Jahren hieß es über das EU-Parlament: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.“ Auch wenn das Parlament nicht mehr der Altherrenverein ist, der es einmal war: Warum hält sich das schlechte Bild noch immer, und warum kann daran selbst eine Silvana Koch-Mehrin nichts ändern?
Meyer: Zunächst einmal sind Abgeordnete, die es häufig in die Medien schaffen, natürlich ein großer Gewinn für Europa. Sie sorgen dafür, dass Europa in der Berichterstattung vorkommt und mit Gesichtern und Personen verbunden ist. Und es erhöht die Relevanz Europas, wenn dort Menschen agieren, die mir vom Alter, der Sprache und ihren Wünschen her ähnlich sind. Dennoch: Das Vertrauen sinkt, beim Parlament zuletzt von 55 auf 52 Prozent, bei der Kommission von 50 auf 47 Prozent.
IP: Nicht nur bekannt, sondern auch beliebt ist Europa, wenn man sich die Wahrnehmung in anderen Teilen der Welt anschaut. Gerade in Asien sieht man die EU durchaus als leuchtendes Vorbild, was regionale Integration angeht. Wieso wird die EU nur von außen so positiv gesehen?
Meyer: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass Europa – je weiter man sich wegbewegt – reduziert wird auf Sicherheit, Wohlstand oder Frieden; Kernbegriffe der europäischen Einigung, die wir jedoch kaum noch als solche wahrnehmen.
IP: Stichwort Sicherheit: Sie haben gerade eine Kampagne für die NATO gemacht. Dort tauchen ähnliche Begriffe auf …
Meyer: NATO und Europa haben ein ähnliches Problem: Beide sind so erfolgreich, dass man vergisst, wem der Erfolg zu verdanken ist. Die NATO hat als westliches Verteidigungsbündnis dafür gesorgt, dass gerade wir Europäer in Frieden, Wohlstand und Freiheit leben.
IP: Das heißt, der Erfolg spiegelt sich im Image gar nicht wider?
Meyer: Die Wertschätzung der NATO ist in den neuen Mitgliedsländern sehr hoch. Aber in den Kern-NATO-Ländern ist sie zu niedrig, gemessen an der Leistung und der Bedeutung des Bündnisses. Die NATO wird meist mit Problemen verbunden: Soldaten haben auf das falsche Camp geschossen, Auslandseinsätze kosten viel Geld und so fort. Die positiven Nachrichten sind wie immer langweiliger als die schlechten. Wir haben deshalb drei Film-Spots gedreht: Wir sehen Menschen in Kriegssituationen, die sich aber später als harmloser Alltag in einer sicheren Umgebung herausstellen. Der Abbinder sagt: „Viele halten Frieden und Sicherheit für selbstverständlich. Sie können. Weil wir es nicht tun. NATO.“ Das Gleiche gilt auch für die EU.
IP: Sehen Sie denn eine europäische Symbolsprache, ein Zeichen, auf das man sich verständigt und sagt: Das ist Europa?
Meyer: Auf der Symbolebene steht die Farbkombination gelb-blau ganz klar für Europa. Zusätzlich haben wir die Sternchen und die Fahnenvielfalt, also die vielen Nationalflaggen zusammen. In der Bildsprache muss die Europäische Kommission oft als Symbol für die ganze EU herhalten, wie das Weiße Haus in den USA. Dabei ist Europa deutlich mehr als nur die Kommission.
IP: Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom sagte einmal: „Europäer wird man nicht durch Geburt, sondern durch harte Arbeit.“ Gleichzeitig sieht er „Einheit in Verschiedenheit“ als Klammer unseres Kontinents. Lässt sich das nicht auf die Wahlen übertragen?
Meyer: Nein. Weil Vielfalt, außer beim Thema Reisen und Essen, keinen „Consumer Benefit“ enthält. Was bringt mir Vielfalt? Und was habe ich von Einheit? „Einheit in Verschiedenheit“ ist eine schöne Formulierung, aber ungeeignet für die Kommunikation.
IP: Damit sind wir mitten in der Identitätsdebatte. So sieht der Soziologe Ulrich Beck die EU als „kosmopolitische Vision“, während sein französischer Kollege Bernhard-Henri Levy die „negative Utopie“ Europas beschwört…
Meyer: Vision, Mission, Utopie – wenn Sie Europa definieren, bekommen Sie 624 verschiedene Antworten. Europa ist eine Projektion, ein Versprechen, vor allem aber Sicherheit, Hoffnung und das Glück, in einem der besseren Teile der Welt geboren worden zu sein. Für die Älteren ist die EU sozusagen die Lehre aus dem Krieg und eine der größten historischen Errungenschaften.
IP: Und für die Jüngeren?
Meyer: Für die Generation, die Krieg nur aus dem Fernsehen kennt, ist das völlig irrelevant. Europa muss sich heute im Alltag beweisen und nicht aus der Historie heraus. Es gibt zwar handfeste Vorteile wie Euro oder Reisefreiheit, aber das reicht nicht aus, dass man mit stolzgeschwellter Brust herumrennt und sagt: Ich bin Europäer! Eine schöne Idee wäre einmal eine Europakampagne der anderen Art: Wir verzichten auf alles, was ohne Europa nicht möglich wäre. Da würde wenig funktionieren.
IP: Wie würde eine solche Kampagne aussehen?
Meyer: Wir lassen am Europatag alles weg, was uns die EU beschert hat: internationale Stromversorgung, italienische Tomaten, spanischen Wein, polnische Handwerker, französischen Käse, Autoteile aus Osteuropa. Und wer eine Auslandsreise machen will, muss vorher in die Botschaft, Währungen tauschen und an der Grenze reichlich Kontrollen ertragen. Das würde die Bedeutung der EU recht gut erklären. Ich bin allerdings nicht sicher, dass die Menschen den notwendigen Humor dafür aufbringen. Nirgendwo in Europa.
Das Interview führten Achim Rust und Joachim Staron.
Dr. LUTZ MEYER ist Partner von Scholz & Friends in Deutschland und Leiter des Brüsseler Büros. Er war Büroleiter des Wahlkampfmanagers der SPD im Bundestagswahlkampf 2002, Pressesprecher von Bundesinnenminister Otto Schily und Gastprofessor für Politikwissenschaften in Bangkok.
Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 21 - 31.