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22. Juni 2022

Brücken bauen: Scholz und die Südhalbkugel

Die Außenpolitik von Kanzler Olaf Scholz wird derzeit öffentlich fast nur über die Ukraine-Politik wahrgenommen. Dabei hat Scholz in aller Stille als G7-Gastgeber eine Rolle als „Demokratien-Sammler“ aufgebaut und sein außenpolitisches Koordinatensystem abgesteckt. Er will nicht mehr und nicht weniger als eine Blockbildung zwischen einer „G7 plus“ und einer „BRICS plus“ verhindern. Eine Analyse nach dem Gipfel in Elmau.

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Bild: Olaf Scholz bei seiner Ankunft in Dakar
Bundeskanzler Olaf Scholz wird von Macky Sall, Präsident der Republik Senegal mit militärischen Ehren am Flughafen begrüsst.
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Olaf Scholz gilt als überaus selbstbewusst, aber wenig eitel. Als der Kanzler im Mai im prächtigen Garten des südafrikanischen Union Buildings stand, verzog er keine Miene, als ihn sein Gastgeber mit falschem Namen anredete. „Kanzler Schulz und ich hatten ein paar gute Minuten im Vieraugengespräch“, sagte der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa in Pretoria. Scholz schaute stoisch nach vorne. Er wollte sich sichtlich an seine Devise halten, die er sich nach Angaben von Hamburger Weggefährten schon zu Zeiten als Erster Bürgermeister der Hansestadt bis 2017 auf die Fahnen geschrieben hatte: „Nie beleidigt sein, nie hysterisch.“

 

Als Ramaphosa allerdings hinterherschob, dass „Kanzler Schulz“ auch Verständnis für Länder habe, die in der UN-Vollversammlung gegen eine Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine gestimmt hätten, wurde es Scholz doch zuviel. Denn Südafrikas Präsident stellte die Mission des Kanzlers infrage. „Das kann ich nicht akzeptieren und das ist auch nicht hinnehmbar“, antwortete Scholz deutlich mit Blick auf das Votum von Nordkorea, Belarus, Eritrea und Syrien zusammen mit Russland.

 

Eine Bekehrungsreise

Scholz, der gerade den G7-Vorsitz der wichtigsten westlichen Industriestaaten innehat, befand sich auf einer Art Bekehrungsreise auf dem südlichen Kontinent: Übereinstimmend wird bei Gesprächen mit Regierungsvertretern darauf verwiesen, dass der SPD-Politiker derzeit Demokratien und Gleichgesinnte in der Auseinandersetzung mit Russland „sammelt“. Zuvor hatte Scholz Senegal und Niger besucht, wenige Tage zuvor den argentinischen Präsidenten im Kanzleramt empfangen. Auch Außen- und Entwicklungsministerin werden in die Welt geschickt.

 

Denn im Kanzleramt sieht man seit Wochen mit Sorge, dass sich westliche Regierungen in ihrem Kurs gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu sicher gefühlt haben. Auch wenn öffentlich die Einheit des Westens und die Tatsache bejubelt werden, dass Anfang März 141 Länder in der UN-Vollversammlung den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt hatten: Dies verdeckt nur, dass sich – neben den fünf Gegenstimmen – 35 Länder enthielten und einige bewusst gar nicht abstimmten.

 

Diese Länder machten 40 bis 50 Prozent der Weltbevölkerung aus, warnte etwa der Staatssekretär im Kanzleramt, Jörg Kukies, vor Kurzem mit Blick auf Staaten wie Indien oder China. Man erlebe etwa in Südafrika, Lateinamerika oder Indien Skepsis gegenüber den westlichen Sanktionen, sekundierte Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt auf einer Abendveranstaltung in Berlin. Beide gehören zu den engsten Vertrauten des Kanzlers. In deutschen Sicherheitskreisen wird auf massive Versuche Russlands und Chinas verwiesen, die westlichen Sanktionen gegen Moskau für die explodierenden Energie- und Nahrungsmittelpreise weltweit verantwortlich zu machen. Dabei soll eigentlich eine internationale Isolation Russlands Putin zum Einlenken bewegen.

 

Also sieht sich gerade Scholz mit Blick auf die G7-Präsidentschaft gefordert, in direkten Gesprächen mit Regierungen der Südhalbkugel verstärkt gegenzuhalten – per Besuch und am Telefon. Noch nie ist ein deutscher Kanzler so früh in seiner Amtszeit nach Afrika gereist oder hat sich so schnell um Kontakte mit der Milliarden-Demokratie Indien bemüht. „Mein erster Auslandsbesuch in diesem Jahr führt mich nach Deutschland. Mein erstes Telefongespräch, das ich in diesem Jahr mit einem Regierungschef eines anderen Landes geführt habe, fand ebenfalls mit meinem Freund Bundeskanzler Scholz statt“, lobte Indiens Ministerpräsident Narendra Modi bei seinem Besuch im Kanzleramt Anfang Mai.

 

Zum G7-Gipfel Ende Juni im bayerischen Elmau hatte Scholz gezielt gleich drei von fünf Ländern eingeladen, die sich bei der UN-Abstimmung enthalten hatten. Was gerne übersehen wird: Russlands Angriffskrieg hat sein Werben um Länder der Südhalbkugel zwar beschleunigt. Aber schon in seinem Buch „Hoffnungsland“ von 2017 hatte Scholz von einer „Zeitenwende“ in den internationalen Beziehungen geschrieben – und eine andere Form der Globalisierung gefordert. „Ich versuche immer, allen den Blick dafür zu öffnen, dass wir nicht nur auf die Welt schauen, wie sie jetzt ist, sondern vielleicht auch auf die Welt des Jahres 2050. Da ist es doch offensichtlich, dass die relative Bedeutung der eingeladenen Länder erheblich zunehmen wird“, betonte er auch nach dem G7-Gipfel in Elmau.

 

Scholz steckt Koordinatensystem ab

Auch wenn derzeit die aufgeheizte innenpolitische Diskussion gerade über Waffenlieferungen an die Ukraine die Debatte über Scholz dominiert: Gut sechs Monate nach Amtsantritt hat der Kanzler sein außenpolitisches Koordinatensystem weitgehend abgesteckt. Nun wird deutlich, welche außenpolitische Rolle der Kanzler für Deutschland unter seiner politischen Führung sieht:

  • zentrale Macht in Europa auch mit dem von ihm durchgedrückten 100 Milliarden Euro-Sonderfonds für die Bundeswehr;
  • Reformer in der EU, der etwa unbedingt die Einstimmigkeit in vielen Entscheidungen abschaffen und die Westbalkan-Staaten in die EU holen will;
  • Brückenbauer zu Ländern auf anderen Kontinenten.

Bei seinem Besuch im deutschen Bundeswehr-Ausbildungsstützpunkt in Niger betonte Scholz die langfristige Bereitschaft Deutschlands zum Engagement in der Sahelzone. Mit einer Zwei-Tages-Visite durch fünf Länder auf dem Balkan machte Scholz allen EU-Partnern deutlich, wie ernst er seine Ansage meint, dass die sechs Westbalkan-Staaten in die EU geführt werden sollen – auch gegenüber dem EU-Partner Bulgarien. Die Regierung forciert zudem die Zusammenarbeit bei der Produktion von Corona-Impfstoffen, die bereits unter seiner Vorgängerin Angela Merkel begonnen wurde. Und mit den gleichzeitigen Waffenlieferungen an die Ukraine, einem harten Sanktionskurs gegen Moskau und Telefonaten mit dem russischen Präsidenten will Scholz deutlich machen, dass die Bundesregierung bei aller Solidarität mit der Ukraine nicht in Sprachlosigkeit gegenüber Moskau verfällt – auch wenn Scholz derzeit ausschließt, dass Putin einlenken wird und in einem CBS-Interview nun sogar von einem möglicherweise sehr langen Krieg durch Russland spricht.

 

Manko China-Politik

Nur ein entscheidendes Element fehlt noch: eine klare China-Politik, auch wenn Scholz mit einer Tradition seiner Vorgänger brach und als erstes Ziel in Asien Japan ansteuerte. Das war nach Angaben aus Regierungskreisen zwar durchaus ein Signal an Peking – sollte aber auch nicht überbewertet werden. Denn ein Antrittsbesuch wäre wegen der Corona-Pandemie ohnehin erst in der zweiten Jahreshälfte möglich gewesen. Das Zögern liegt aber auch daran, dass man in Berlin wie in anderen westlichen Hauptstädten aufmerksam beobachtet, ob und wie China Russland beistehen wird.

 

Auch der G7-Gipfel in Elmau betonte ein „ambivalentes Verhältnis“ (Scholz) zu China, das einerseits systemischer Rivale geworden ist, aber eben auch Partner. Nur betonte Kanzleramts-Staatssekretär Kukies am 1. Juli, dass man nach der Lehre einer gefährlichen Energieabhängigkeit von Russland nun nicht von China abhängig bleiben dürfe – und erwähnte dabei etwa die für viele Hightech-Produkte wichtigen Seltenen Erden.

 

Scholz hat zugleich sehr deutlich gemacht, dass er das transatlantische Verhältnis als entscheidenden Pfeiler der Sicherheit Deutschlands und Europas sieht. „Scholz hat schon immer sehr stark auf die USA geschaut“, sagt ein alter Weggefährte aus Hamburger Zeiten, der aber wegen der vom Kanzler bewusst gepflegten Vertraulichkeit in dessen „inner circle“ anonym bleiben will.

 

Tatsächlich hat selten ein Kanzler so sehr von einem US-Präsidenten geschwärmt, wie Scholz dies von Joe Biden auch im Hintergrund tut. Trotz des erheblichen Altersunterschieds zu dem 1942 geborenen Biden schätzt Scholz dessen internationale Ausrichtung, sieht eine Mischung aus Vorsicht und Entschiedenheit in der Ukraine-Politik. Zudem hält er wie der US-Demokrat gerade das Konzept von „Respekt“ für von der Globalisierung und der technischen Entwicklung abgehängte Gruppen der Bevölkerung als entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung westlicher Demokratien. „Die Beziehungen zwischen beiden Regierungen sind ungewöhnlich eng“, werden in der Bundesregierung deshalb regelmäßige Medienberichte über Verstimmungen etwa bei der Unterstützung der Ukraine dementiert. „Der Kanzler knüpft auch ganz an Ideen einer Demokratie-Allianz an, die Biden hat“, heißt es im Scholz-Umfeld mit Blick auf den Demokratie-Gipfel, zu dem die US-Regierung Anfang Dezember 2021 eingeladen hatte.

 

Biden erwiderte die Freundlichkeiten auf dem G7-Gipfel und dankte Scholz dafür, dass dieser seit Amtsantritt Führung gezeigt habe – was auch ein Hinweis an die osteuropäischen NATO-Partner angesichts der von dort kommenden Dauerkritik an der oft als nicht ausreichend kritisierten deutschen Unterstützung für die Ukraine gewesen sein dürfte.

 

Allianz der Demokratien

Allerdings: Der Kanzler zieht den Kreis der potenziellen Partner weiter, eher wie der frühere Außenminister Heiko Maas mit seiner angestrebten Allianz der Multilateralisten. Und unter amerikanischer Führung will der SPD-Politiker einen weltweiten Demokratie-Klub nicht sehen – auch nicht als Beitrag zum Decoupling von China. Scholz hält im Gegenteil amerikanisch-chinesische Vorstellungen für völlig unrealistisch, beide Länder könnten in einer bipolaren Welt den Kurs vorgeben. Seit Jahren bewegt ihn vielmehr, dass es viele Machtzentren geben wird und dass die EU in ihren Reformen vorankommen muss, weil sie aus seiner Sicht sowohl die ökonomische als auch die politische Kraft hätte, das 21. Jahrhundert entscheidend mitzuprägen. 

 

Dieses Drängen auf EU-Reformen hat er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gemein, mit dem er Vorstellungen einer strategischen Souveränität der EU und einer dafür nötigen aktiven Industriepolitik teilt.

 

Mit der Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine auf dem EU-Gipfel Ende Juni hofft Scholz nun einen Hebel in der Hand zu haben, mit dem er auch Reformskeptiker in der Union dazu bringen kann, Schritte wie das Zurückdrängen der Einstimmigkeit bei EU-Entscheidungen anzugehen. Denn eines hat er ebenso wie Macron klar gemacht: Ohne eine bessere Aufstellung der EU wird es keine Erweiterungsschritte in dem ohnehin schon 27 Mitglieder umfassenden Bündnis geben.

 

„Die Verteidigung von freiheitlicher Demokratie, von gesellschaftlicher Teilhabe und Pressefreiheit, die Abwehr von Desinformation und Cyberangriffen, das alles setzt eigene Stärke voraus“, mahnte Scholz Ende März auf dem Global Solution Summit – und er meinte damit nicht nur die EU, sondern auch den G7-Klub. Drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine beschrieb er am 27. Februar deshalb in einer Regierungserklärung im Bundestag eine außen- und sicherheitspolitische „Zeitenwende“ und drückte der Ampelkoalition massiv steigende Rüstungsausgaben auf.

 

Scholz erwartet Ende westlicher Dominanz

Mit Blick auf die kommende Zeit dürfen sich Scholz‘ Meinung nach keinesfalls nur die westlichen Demokratien untereinander absprechen. Schon beim Modi-Besuch wurde ihm klar, wie illusorisch der etwa von London mit viel moralischem Impetus geforderte Ausschluss Russlands aus dem G20-Kreis ist. Weder Indien noch Südafrika noch G20-Gastgeber Indonesien unterstützen dies – China ohnehin nicht. Mit Interesse verfolgte die Bundesregierung zudem, dass der Ausschluss von Kuba, Venezuela und Nicaragua beim ersten Amerika-Gipfel in den USA seit 1994 dazu führte, dass auch eine G20-Demokratie wie Mexiko aus Protest nicht mehr anreiste. Die US-Regierung lieferte damit eine Blaupause, wie man es nicht machen sollte. In Berlin wird zudem darauf verwiesen, dass die US-Regierung im Kampf gegen die Inflation und auf der Suche nach einer Entlastung des weltweiten Ölmarkts dabei an anderer Stelle plötzlich wieder Kontakt zu zuvor hart kritisierten und sanktionierten Ländern wie Venezuela sucht.

 

Doch amerikanische und deutsche Positionen klingen an vielen Stellen kompatibel: „Eine Einladung bedeutet nicht unbedingt, dass wir deren Demokratieform billigen. Und ein Ausschluss bedeutet nicht, dass wir sie ablehnen“, hatte die damalige Sprecherin des Weißen Hauses, Jennifer Psaki, die Einladungspolitik der USA zum Demokratie-Gipfel Anfang Dezember kommentiert. „Zu lange haben wir ‚Demokratie‘ praktisch gleichgesetzt mit dem ‚Westen‘ im klassischen Sinne“, mahnte auch Scholz auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos im Mai 2022. Wie Scholz denkt, führte er am 17. Juni in der Evangelischen Akademie in Tutzing noch weiter aus: „Es ist eine verblüffende Zahl: Aber überhaupt nur sieben Staaten auf der Welt nehmen nicht für sich in Anspruch, Demokratien zu sein. Das sind Saudi-Arabien, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Brunei, Afghanistan – und der Vatikan“, sagte er. Alle anderen Regierungen, egal wie demokratisch sie in Wirklichkeit seien, suchten ihre Legitimation darüber, dass sie das „Volk“ vertreten würden. Genau deshalb will sich der Kanzler dem Abgesang der Demokratien in der Systemauseinandersetzung mit autoritären Staaten nicht anschließen. „Wo immer sich Herrscher auf den ‚Volkswillen‘ berufen, da bleibt mehr Demokratie, bessere Demokratie, wirkliche Demokratie eine Möglichkeit am Horizont.“ Das mache Mut. Seit Beginn seiner Amtszeit pflegt Scholz im Systemwettbewerb daher einen eher kämpferischen, optimistischeren Ton – ähnlich wie Biden oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

 

 Ein kleiner Westen gegen den Rest der Welt?

Auch weniger demokratische Länder, die aber zumindest den Bestand von Grenzen und das Völkerrecht achten, gelten für den Kanzler als potenzielle Partner gegenüber Russland – wie auch das öl- und gasreiche Katar. Deshalb telefoniert er im Hintergrund nicht nur mit dem kolumbianischen Präsidenten, sondern auch mit dem vietnamesischen Regierungschef. Denn Scholz sorgt sich durchaus, dass die bewusst gesetzte russische Erzählung einer Teilung der Welt à la ein kleiner Westen und der Rest aufgehen könnte. Auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg sprach Putin am 17. Juni wieder davon, dass der Westen dem Rest der Welt seinen Willen aufdrücken wolle und sich wie zu Kolonialzeiten verhalte – wohl wissend, dass er damit durchaus auf Resonanz in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern stößt.

 

Ein erheblicher Teil der Gespräche mit den fünf Gastländern auf dem G7-Gipfel kreiste deshalb darum, ihnen klarzumachen, wer die Verantwortung für den Krieg trägt – und dass der Westen sich sehr wohl kümmert. In Elmau stellten die Staats- und Regierungschefs ein 600 Milliarden Dollar schweres Investitionspaket vor, das den Schwellen- und Entwicklungsländern ein Alternativangebot zu Chinas Seidenstraßen-Konzept machen soll. Zudem geben die G7-Staaten weitere 4,5 Milliarden Dollar für den Kampf gegen Hungersnöte und versuchen, das ukrainische Getreide auf die Weltmärkte zu bringen.

 

„Unsere Länder teilen den Respekt für eine demokratische Kultur und unser Engagement für eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung“, hatte Scholz deshalb schon in Pretoria Südafrikas Präsidenten Ramaphosa gleich mit dem Hinweis auf Gemeinsamkeiten umgarnt. „Wenn Scholz die Länder nicht in eine neue Allianz drängt, sondern ihnen zu verstehen gibt, dass er sie ernst nimmt, wäre das der richtige Weg“, sagt Stefan Mair, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im Gespräch mit Reuters. „Es geht darum, ihnen zu vermitteln, dass auch sie in einer multilateralen Welt ein Interesse an der Einhaltung internationaler Grundregeln haben müssen – und Russland genau diese verletzt hat.“ Deutschland genieße weltweit großes Vertrauen, um für ein solches Anliegen zu werben.

 

Scholz, der sich schon in seinen Juso-Zeiten mit internationaler Politik beschäftigte, ist zudem überzeugt, dass sich der Westen allzu viel Hochmut gar nicht mehr leisten kann. Gerade weil Putin die Spaltung sucht, mahnte der Kanzler in Afrika die Europäer, dass die früheren Kolonialmächte selbst lange für die Unterdrückung demokratischer Reformen in Entwicklungsländern verantwortlich gewesen seien. Belehrungen über die Politik der Schwellenländer verböten sich deshalb. 

 

Das westlich geprägte Zeitalter nähert sich für Scholz ohnehin dem Ende. Die nächsten 30 Jahre würden von den aufsteigenden Schwellenländern geprägt, die bis 2050 Deutschland, aber auch die USA teilweise an Wirtschaftsleistung überholen „und die denselben Wohlstand beanspruchen und um dieselben Güter konkurrieren wie wir“, sagte er in Davos. Mit Blick auf die Gastländer beim G7-Gipfel sagte er in Tutzing: „Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit die Welt braucht, um die globalen Probleme unseres Jahrhunderts zu meistern.“ Die Schwellenländer würden künftig ein viel größeres Gewicht auch in einer von zwei Supermächten geprägten Welt haben, meint auch SWP-Chef Mair. Also will sich Scholz frühzeitig als vertrauenswürdiger Partner präsentieren.

 

Verachtung des Nationalismus

Deshalb verachtet Scholz – ähnlich wie Merkel – den Nationalismus des früheren US-Präsidenten Donald Trump ebenso wie die imperialen Träume des russischen Präsidenten. „Wir brauchen noch mehr Multilateralismus, noch mehr internationale Zusammenarbeit“, rief er den Managern auf dem Weltwirtschaftsforum mit Blick auf Menschheitsprobleme wie den Klimawandel, aber eben auch Ernährungskrisen oder Pandemien zu. Scholz hatte schon in seiner Zeit als Finanzminister zwischen 2017 und 2021 erfahren, wie notwendig eine Abstimmung auch mit politisch schwierigen Ländern ist, als er eine globale Mindeststeuer durchzusetzen half. „Respekt statt Lektionen“ lässt sich sein selbst erklärter Ansatz beschreiben.

 

Also will der 64-Jährige die deutschen Kontakte künftig breiter aufstellen als bisher. Ganz freiwillig ist dies nicht: Das muss er auch, weil Deutschland derzeit wegen Putins Krieg die Rohstoffabhängigkeit der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt von Russland dringend und ein für alle Mal abbauen will. In Afrika hatte Scholz zu hören bekommen, dass Deutschland und die EU dann doch bitte etwas genauer zuhören sollten, was Länder wie Senegal und Südafrika eigentlich für Bedürfnisse hätten.

 

Was hat der Westen zu bieten – Waffen und Finanzen?

Doch wie schon seine Vorgängerin entdeckt nun auch Scholz die Grenzen seiner Macht als Kanzler – nicht nur, weil Deutschland in seinen Worten eben nur eine „Mittelmacht“ ist. Im Inland muss er um seine Reputation kämpfen, weil auch aus den Reihen der Koalitionspartner seine Ukraine-Politik hart infrage gestellt wird. In Europa ist die Zusammenarbeit mit dem sicherlich wichtigsten Partner Macron trotz der gemeinsamen Reise nach Kiew durchaus schwierig – Positionen in Paris und Berlin sind oft nicht deckungsgleich. Scholz‘ Mahnung an frühere Kolonialmächte, nicht arrogant aufzutreten, kann man durchaus auf früheres Handeln Frankreichs von Mali bis Zentralafrika beziehen.

 

Wie kompliziert das Werben um neue Partner in aller Welt ist, zeigte der Besuch des senegalesischen Präsidenten Macky Sall in Moskau. Obwohl ihm der Kanzler beim Besuch in Dakar gerade zu erklären versuchte hatte, wieso der russische Angriffskrieg der Kern allen Übels sei, beklagte der derzeitige Präsident der Afrikanischen Union (AU) westliche Auflagen gegen russische Lebensmittelexporte – die in Wahrheit gar nicht existieren. „Die Sanktionen gegen Russland haben zu großen Problemen geführt, da wir keinen Zugang mehr zu Getreide aus Russland haben, insbesondere zu Weizen, aber vor allem zu Düngemitteln. Und das führt zu ernsthaften Bedrohungen für die Ernährungssicherheit des Kontinents“, sagte Sall in Moskau und stellte damit einen Schulterschluss zwischen westlichen Staaten und wichtigen Entwicklungsländern auf der Südhalbkugel kurzerhand infrage.

 

„Länder wie Indien oder Südafrika wollen wissen: Was habt ihr uns zu bieten?“, sagt SWP-Chef Mair. Tatsächlich haben sich viele Schwellen- oder Entwicklungsländer in den vergangenen Jahren auch deshalb an Russland und China gewandt, weil vor allem die Europäer zu viele und rigide Bedingungen für eine Zusammenarbeit aufstellten – und dazu noch schlechte Finanzierungskonzepte mitbrachten. Selbst im Rennen um LNG-Gas als Ersatz für russisches Pipelinegas mahnen etwa afrikanische Länder, dass die Deutschen und Europäer mit ihnen doch bitte auf Augenhöhe reden und sich anhören sollten, was sie eigentlich wollen und benötigen. Staatssekretär Kukies verwies darauf, dass ihm vorgehalten werde, dass die Europäer zwar jahrzehntelang billiges russisches Gas genutzt hätten, aber nun Probleme hätten, wenn afrikanische Staaten ihre natürlichen Ressourcen ebenfalls erschließen wollten. Dies erklärt, wieso die G7-Staaten Investitionen in Gasexplorationen plötzlich wieder als vorübergehende Maßnahme billigten.

 

Die Zeitenwende wird Kreise ziehen

In Regierungskreisen fragt man durchaus selbstkritisch, „ob wir Waffeneinkäufe erwünschter Partner wie der Türkei oder Indiens in Russland kritisieren können, wenn wir selbst ihnen als Westen die gewünschte Technologie verweigern“.  Denn die Türkei kauft ein Luftabwehrsystem in Russland, die Atommacht Indien deckt sich ebenfalls in Russland mit Waffen ein. Schon Kanzlerin Merkel hatte bei ihrer „Ertüchtigungsinitiative“ erfahren, wie groß die innenpolitischen Vorbehalte in Deutschland sogar dann sind, wenn Berlin Streitkräfte von Staaten mit Waffen ausrüsten will, deren Polizei oder Soldaten Deutschland selbst ausbildet.

 

Die Zeitenwende dürfte also noch weitere Kreise ziehen. Was passiert, wenn nun auch strategisch eingesetzte Waffenexporte in außereuropäische Länder diskutiert werden? Verständnis für die Südhalbkugel hin oder her: Das würde wohl für erheblichen Streit in der Ampelkoalition vor allem mit den Grünen sorgen.

 

Ob der G7-Gipfel eine echte Wende in der neuen Aufstellung in der Welt brachte, ist offen. Modi und Ramaphosa hatten unmittelbar vor Elmau auch an dem BRICS-Gipfel mit China, Russland und Brasilien teilgenommen. Keines der fünf Gastländer schloss sich den westlichen Sanktionen an – was allerdings nach Angaben aus Regierungskreisen auch nicht erwartet worden war.  „Klar ist, dass in den Ländern des globalen Südens unterschiedliche Ansichten darüber existieren“, sagte Scholz nach dem G7-Gipfel. „Aber das ist schon mein sicherer Eindruck: Niemand hat Zweifel daran, was die Ursache für diesen Konflikt ist, niemand, mit dem wir hier gesprochen haben. Es ist ein russischer Angriff auf einen Nachbarn, der diesen Angriff nicht provoziert hat und der das Opfer einer Aggression ist.“ Er habe den „festen Eindruck“, dass es in Elmau allseits das Gefühl gegeben habe, dass „hier miteinander auf Augenhöhe und mit dem Willen gesprochen worden ist, miteinander in der Welt der Zukunft zu kooperieren“. Das soll nun nachwirken. Denn das Werben um den globalen Süden soll von nun an eine Daueraufgabe sein.

 

In Regierungskreisen in Berlin wird eingeräumt, dass Sanktionen in vielen Staaten weltweit ohnehin auf erhebliche Skepsis stoßen – schon wegen der von den USA seit Langem verhängten exterritorialen Strafen, die auch die Bundesregierung regelmäßig als unangemessen kritisiert. „Aber es wird im Süden auch mit anderen Augen gesehen, wenn Scholz sagt, die Sanktionen gegen Russland müssten das Land härter treffen als die die Sanktionen verhängenden Staaten – in dieser Abwägung fehlen eben die Drittländer, die die Auswirkungen hart zu spüren bekommen“, sagt ein EU-Diplomat. Die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor sagte im ZDF am Rande des G7-Gipfels: „Wir werden nicht der Versuchung erliegen, die Sprache von irgendjemandem zu übernehmen. Afrika war niemals gefragt worden, diese Fragen (Sanktionen) mit zu diskutieren.“

 

Ein heikler G20-Gipfel vor der Tür

Immerhin reiste Indonesiens Präsident Joko Widodo direkt nach seinem Besuch in Elmau auch in die Ukraine und dann nach Russland – und überbrachte Putin eine Botschaft des ukrainischen Präsidenten. In Moskau vermied er direkte Kritik an dem Angriffskrieg auf die Ukraine, erwähnte aber, er habe die G7 gedrängt, dass die Sanktionen gegen Russland nicht die weltweite Versorgung mit Dünger und Nahrungsmitteln belasten dürften. Putin wiederum lockte mit Düngerlieferungen.

 

Widodos Problem: Er muss nicht nur auf die keineswegs prowestliche Stimmung in seinem Land achten. Er muss als Repräsentant der aktuellen G20-Präsidentschaft auch die Gruppe der wichtigsten Industriestaaten weltweit zusammenhalten – inklusive Putin, der zum G20-Gipfel auf Bali anreisen will.

 

Bei diesem Thema kam Scholz, der ohnehin die Entkopplung einer verflochtenen Welt ablehnt, Widodo entgegen. Deutschland werde nichts tun, um die G20 zu spalten, betonte er mehrfach. Das spricht gegen einen Boykott.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exclusive, 21. Juni 2022

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Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.