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31. Dez. 2010

Bremse oder Motor?

Bosnien hat ohne internationale Führung wenig Chancen auf Stabilität

In Bosnien-Herzegowina sind noch immer starke Spannungen zwischen den Ethnien zu spüren – daran können auch internationale Präsenz, Visaliberalisierung und vorsichtige Verwaltungsreformen nichts ändern. Ein Patentrezept für die Gestaltung der Zukunft des Landes gibt es nicht. Wer kann Bosnien in die EU führen?

Fragt man bosnische Politiker nach ihren Wünschen für die Zukunft, so wird man in der Regel folgende Antwort bekommen: erst Mitgliedschaft in der NATO, dann Aufnahme in die EU – wobei die Mitgliedschaft in der NATO inzwischen als sehr viel wichtiger und positiver gesehen wird als die in der EU. Dass bis zum Erreichen dieser Ziele ein langer, steiniger Weg zu beschreiten ist, der nicht nur Kompromisse zwischen lokalen und regionalen Akteuren, sondern auch eine effektive Zusammenarbeit mit der ungeliebten internationalen Gemeinschaft erfordert, dürfte den Beteiligten bewusst sein. Doch zwischen Einsicht und Handeln klafft, wie so oft, eine beträchtliche Lücke.

So waren auch die Erwartungen an den Ausgang der Wahlen am 3. Oktober gemischt. Überraschungen hat es kaum gegeben, der Wahlsieg der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der bosniakisch-kroatischen Föderation und der Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) in der Republika Srpska werden nicht als Zeichen für einen Wandel zu Kompromiss und Reform gesehen. Trotz wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung wurden der kroatische Vertreter, Zeljko Kornsic, und der Serbe Nebosja Radmanovic im Staatspräsidium bestätigt. Die Abwahl des muslimischen Mitglieds des bosnischen Staatspräsidiums, Haris Silajdzic, und die Neuberufung von Bakir Izetbegovic, Sohn des ersten Präsidenten, Alija Izetbegovic, waren die Resultate der Wahlen, die noch die größten Diskussionen auslösten.

Auf das neue Präsidium warten gewaltige Aufgaben, will es das Land zukunftsfähig machen. Staats- und Privateigentum, Vergabe von Stimmrechten nach Ethnien oder Entitäten, Verbleib von Waffen und Munition, ungelöste Sicherheitsprobleme, ungeklärte Territorialansprüche, die längst überfällige Reform des Bildungssystems in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft: Die Liste ist lang. Auch geht es weiterhin um die Folgen des Krieges, vor allem die Rückkehr von Flüchtlingen: Eigentumsansprüche, Zugang zu Pensionen und Sozialleistungen. Viele Politiker instrumentalisieren immer wieder die Ängste und Traumata, die durch den Krieg entstanden sind. Eine Entwicklung des Landes wird dadurch nicht gefördert.

Die Wirtschaftslage in der Föderation aus Bosniaken und Kroaten ist durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise nicht besser geworden. Zudem haben Streitigkeiten innerhalb der Regierung grundlegende und dringend notwendige Wirtschaftsreformen behindert. Da machen Bemerkungen des Präsidenten der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, dass es in „seinem“ ethnisch nicht gemischten Teil Bosniens wirtschaftlich besser vorangehe, so manchen bosnischen Politiker der Föderation nervös. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, was die Wirtschaftslage der Republika Srpska angeht: Mit einem Budgetdefizit von 370 Millionen Euro in diesem Jahr wird es Präsident Dodik schwer fallen, seine Staatsbediensteten überhaupt zu bezahlen und Pensionen und andere notwendige Vorhaben, so im Gesundheitswesen, zu finanzieren.

Auch das Tempo der Reformen fällt enorm hinter das der Nachbarstaaten zurück. Eine Ausnahme bildet die Visaliberalisierung, die Brüssel Ende letzten Jahres genehmigt hat. Die EU tritt aber sogleich auf die rhetorische Bremse und warnt die Bürger Bosniens und Mazedoniens vor Missbrauch der neuen Reisefreiheit. Die Angst vor Einreisenden, die nicht wieder ausreisen, hat in einigen europäischen Ländern dazu geführt, dass man die Zahl der Besuche reduzieren oder aber wieder von einem Visumantrag abhängig machen möchte.

Der Versuch aber, eine Vereinheitlichung oder Harmonisierung des Bildungssystems zu erreichen, um so Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen zu überwinden, erscheint hoffnungslos. Allein die Existenz von 16 Bildungsministerien in einem Land mit einer Bevölkerung von etwa 4,5 Millionen zeigt, dass es an Effizienz und politischem Willen mangelt. Wie tief die Gräben sind, zeigt die Tatsache, dass viele Kinder nach Religion und Ethnien getrennte Eingänge in ihre Schulen benutzen müssen.

Einmischen und überwachen

Die Gründe für diese Probleme sind vielfältig. Da ist zum einen das Abkommen von Dayton, dessen Bestimmungen von einigen Beobachtern als eine wesentliche Ursache für die Stagnation in der Region gesehen werden, für die ungünstigen Grenzen, für die problematische Lage der Flüchtlinge und Rückkehrer. Zentraler Bestandteil des Abkommens, mit dem 1995 der dreieinhalbjährige Bürgerkrieg beendet wurde, ist der Zusammenhalt der Republik Bosnien und Herzegowina als souveräner und ungeteilter Staat mit international anerkannten Grenzen. Das Land besteht aus der serbischen Teilrepublik, der Föderation von Bosnien und Herzegowina und dem Brcko-Distrikt. Dieser der Zentralregierung angegliederte, unter lokaler Selbstverwaltung stehende Bezirk wurde Anfang März 2000 eingerichtet, da sich beide Teilstaaten nicht auf eine Zuordnung des Gebiets einigen konnten.

Was der zentrale Makel des Abkommens ist, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander. Während Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, das Beharren der internationalen Gemeinschaft auf einem Zusammenhalt der Teilrepubliken als Kern des Problems ausmacht, war der nun abgewählte Haris Silajdzic, Präsident der bosniakisch-kroatischen Föderation, ganz anderer Meinung: Der bosnische Nationalstaat habe nur dann eine Zukunft, wenn die Unabhängigkeit der Republika Srpska verhindert werden könne. Ob sein Nachfolger Bakir Izetbegovic, der bisher eher wegen möglicher Vetternwirtschaft als durch politische Verve von sich reden gemacht hat, mit Dodik zu einer Lösung gelangen wird, gilt als unwahrscheinlich.

Andere bosnische Entscheidungsträger machen die Einmischung von außen, genauer: die vielen Nichtregierungsorganisationen, die sich in der Region betätigen, dafür verantwortlich, dass Bosnien nicht so recht vorankommt. Und für viele Bosnier ist und bleibt das Hauptproblem die De-facto-Alleinvertretung der internationalen Gemeinschaft, das Büro des Hohen Repräsentanten (OHR), das auf Grundlage der Resolution 1031 des UN-Sicherheitsrats die Einhaltung des Friedensabkommens überwacht und über weit gehende Vollmachten verfügt. Bis heute ist man sich in der internationalen Gemeinschaft völlig uneins, ob man das Büro des Hohen Repräsentanten nach Wunsch der USA und der Türkei wahlweise mit noch weiter reichenden Befugnissen ausstatten, ob man es, ganz im Gegenteil, kurzerhand ganz schließen sollte, wie es die EU und Russland überlegten, oder ob nicht doch die Schaffung eines EU-Sonderbeauftragten die Lösung wäre, der dabei helfen könnte, Bosnien in die EU zu führen.

Derweil scheint man sich weder in Bosnien noch auf Seiten der EU oder der USA im Klaren, geschweige denn einig, wie die Zukunft des Landes zu gestalten wäre. Ist man bereit, Bosnien mehr Eigenverantwortung ohne internationale Führung zuzugestehen? Fällt bei Abzug der internationalen Gemeinschaft das Land in einen Zustand wie zur Zeit des Bürgerkriegs zurück? Wird Bosnien zu einem Rückzugsort islamistischer Terrorgruppen? Oder wird das Land wirtschaftlich kollabieren – mit der Folge, dass sich Tausende von Wirtschaftsflüchtlingen auf den Weg in Richtung EU-Staaten machen?

Das Pendeln zwischen Hoffen und Bangen, Misstrauen und Kontrolle auf beiden Seiten bestimmt die Politik gegenüber Bosnien. Die USA werfen der EU vor, nicht genug Werbung für eine Mitgliedschaft in ihrem „Club“ zu machen und übersehen damit gründlich den für eine Aufnahme notwendigen Prozess. Inzwischen hegt man in Bosnien den wohlbegründeten Verdacht, man sei in Brüssel und Washington an einer bosnischen Mitgliedschaft in NATO oder EU nicht übermäßig interessiert und spiele auf Zeit.

Umgekehrt sehen Europäer und Amerikaner in der verbockten Haltung bosnischer Politiker ein Zeichen, dass man sich nicht ernsthaft mit den Vorgaben für die nächsten Schritte in Richtung EU oder NATO auseinandersetzt, sondern Reformen blockiert und ein sicherheitspolitisch wenig verlässlicher Partner ist. Etwa bei der Frage nach einer Entsendung von Kräften für den Afghanistan-Einsatz im Rahmen der Partnership for Peace: So wollen einige Mitglieder der bosnischen Regierung einem solchen Einsatz nur zustimmen, wenn auch türkische Einheiten beteiligt sind, während andere einen Einsatz nur ohne die türkischen Einheiten akzeptieren möchten.

Ähnliches gilt für die Reform des Wahlrechts: Ein Teil der Abgeordneten will einer solchen Reform nur unter Einbeziehung der Diaspora zustimmen, der andere nur ohne sie. Zudem weigert man sich in Bosnien, die Volkszählungen durchzuführen, die notwendig wären, um die tatsächliche Bevölkerungslage des Landes zu ermitteln. Stattdessen wird die Datenlage von 1991 herangezogen, um bestimmte politische Privilegien zu sichern und künstlich Mehrheiten zu bewahren, die es de facto nicht mehr gibt. So herrscht etwa Unklarheit darüber, wie viele Muslime im Vergleich zum Jahre 1991 noch in Bosnien leben und wie hoch der Anteil der anderen Gruppen an der Gesamtbevölkerung ist. Dadurch wird eine ethnische Trennung weiter manifestiert und verhindert, dass sich die Bosnier als Bürger ihres Landes fühlen und nicht in erster Linie als Vertreter bestimmter ethnischer Gruppen.

Zwischen allen Stühlen

Eine schwierige Ausgangslage, in der der Hohe Repräsentant, derzeit vertreten durch den Österreicher Valentin Inzko, zwischen allen Parteien makeln muss. Nicht nur, dass viele Bosnier ihm die Schuld an den Missständen geben, weil er die Autorität der bosnischen Entscheidungsträger untergrabe und eigenverantwortliches Handeln unmöglich mache. Zudem ist er politisch angeschlagen durch das uneinheitliche Vorgehen der EU und der USA, durch die Tatsache, dass er zu den von den USA und der EU einberufenen Verhandlungen über die Zukunft des Landes in Butmir Ende 2009 nicht eingeladen war, und durch die fortgesetzten Provokationen des Präsidenten der Republika Srpska.

Bisher hat der Hohe Repräsentant seine Exekutivbefugnisse sehr umsichtig eingesetzt. So ist es unter seiner Ägide eher die Ausnahme als die Regel, dass bosnische Politiker von Wahllisten gestrichen oder abgesetzt werden. Gleichzeitig zeigt er sich unnachgiebig bei den heftigen Diskussionen in Sachen staatliches Eigentum. Während die Republika Srpska insistiert, dass staatliches Eigentum und die dazugehörigen Gebiete in den Besitz der Teilstaaten übergehen, wollen die Vertreter der bosniakisch-kroatischen Föderation diese im Besitz der Zentralregierung belassen. Immerhin hat der Hohe Repräsentant erwirkt, dass bislang keiner der Beteiligten über dieses staatliche Eigentum verfügen kann. Und das ist nur eine der Sachfragen, die dringend geklärt werden müssen, bevor das Büro des Hohen Repräsentanten aufgelöst werden kann oder einem EU-Sonderbeauftragten weicht.

Die Einrichtung eines solchen Postens wurde fast zwei Jahre lang im Peace Implementation Council (PIC) diskutiert, dem Gremium, das die Umsetzung des Friedensprozesses in Bosnien nach Dayton beaufsichtigt und dem der Hohe Repräsentant untersteht. Ziel der Konferenz in Butmir war es dann auch, mit der Berufung eines EU-Sonderbeauftragten das Ende der Nachkriegsphase zu markieren und den Prozess der Aufnahme Bosniens in die EU zu beschleunigen. Doch die Realität hat gezeigt, dass es für einen solchen Schritt noch zu früh ist. So wurden die Verhandlungen eher zu einem Symbol für eine ratlose internationale Gemeinschaft, die sich auf Minimalreformpakete einlassen musste, den Hohen Repräsentanten zunächst im Amt beließ und dabei sehr genau von den bosnischen Akteuren beobachtet wurde. Daraus resultierten eine geschwächte Position des Hohen Repräsentanten, ein weiterer Glaubwürdigkeitsverlust Brüssels und Washingtons und eine tief gespaltene politische Führung in Bosnien.

Da darf es nicht verwundern, wenn andere Staaten diese Lücke füllen,
so etwa Saudi-Arabien mit seiner kritisch beäugten Initiative, neue Moscheen zu bauen. Auch die saudische Unterstützung von Religionsschulen und der Einfluss auf Glaube und Gesinnung werden eher mit Sorge vor unkontrolliertem Einfluss von außen betrachtet.

Hoffnungsschimmer

Doch es gibt auch positive Anzeichen für einen Wandel in Bosnien. Das liegt zum einen daran, dass ein Generationenwechsel stattgefunden hat und „mit dieser Generation“, wie die Pariser Zeitschrift Libération treffend schreibt, „kein Krieg mehr zu machen ist“. Reisen ins europäische Ausland, Studienaufenthalte und die Interaktion mit den Vertretern von NGOs, OSZE, NATO und EU haben das Land und die Menschen verändert. Projekte wie das Young Leaders Forum des Aspen-Instituts oder solche von Stiftungen, die junge Entscheidungsträger aus der Region auf internationalen Konferenzen zusammenbringen, tragen dazu bei, dass sich eine zukünftige Elite in der Region herausbildet, die ihre Nachbarn nicht mehr als Feinde sieht, sondern als politische und wirtschaftliche Partner.

So wird auch die Präsenz der internationalen Gemeinschaft nicht von allen als Ursache für den stagnierenden Reformprozess gesehen, sondern von vielen als notwendige Einrichtung zur Begleitung eines Prozesses, der noch einige Jahre dauern wird. „Wir sind sehr froh, dass wir hier die internationale Gemeinschaft in Gestalt des Hohen Repräsentanten haben, denn wir brauchen dessen Unterstützung“, sagt Ana Trisic-Babic, stellvertretende Außenministerin Bosnien-Herzegowinas. „Unsere Jugend ist unser Kapital. Sie braucht einen zukunftsfähigen Staat. Sie sieht Bosnien als ihr Land, das genauso vielfältig zusammengesetzt ist wie die bosnische Fußballnationalmannschaft. So darf das Bildungssystem nicht weiter eine Trennung entlang von Ethnien fördern, und es müssen ernsthafte Schritte in Richtung Völkerverständigung und Versöhnung unternommen werden.“

In der Terrorismusbekämpfung hat sich die Zusammenarbeit der bosnischen Behörden mit dem Hohen Repräsentanten und anderen Vertretern der internationalen Gemeinschaft als effizient erwiesen, etwa bei der Polizeiaktion gegen mutmaßliche islamistische Extremisten in Gornja Maoca in Ostbosnien. Dass bei diesen Razzien Einheiten beider bosnischen Teilstaaten mitwirken bedeutet auch, dass, wenn es um praktische Ziele geht, genug Kooperationswillen zur Förderung der Stabilität des bosnischen Staates herrscht.

Frühwarnsystem für Spannungen

Selbst in den wohl sensibelsten Bereichen der Völkerverständigung und Aussöhnung zeigen sich Fortschritte. Das serbische Parlament gestand die Verantwortung Serbiens für das Massaker von Srebrenica ein und der serbische Präsident Tadic nahm an der Gedenkfeier für die muslimischen Opfer teil, obwohl es seitens verschiedener bosnischer Opfervereinigungen dagegen Vorbehalte gab. Sie kritisieren die Regierung in Belgrad, weil der flüchtige ehemalige Militärchef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, bisher immer noch nicht festgenommen wurde.

Und so erkennt auch mittlerweile mancher bosnische Entscheidungsträger den Sinn des Hohen Repräsentanten in Bosnien. Die EU sollte sich erinnern, dass sie in Gestalt des Hohen Repräsentanten nach wie vor einen wichtigen Mediator vor Ort hat, der zum einen als Frühwarnsystem für Spannungen in der Region dienen kann, gleichzeitig aber auch als mahnende Instanz, die die bosnische Regierung immer wieder aufs Neue daran erinnert, dass sie ihre Pflichten zu erfüllen hat.

Natürlich weiß der Hohe Repräsentant genauso gut wie die Entscheidungsträger in Washington und Brüssel, dass dieser Schwebezustand Bosniens als Quasi-Protektorat der internationalen Gemeinschaft eines Tages beendet werden muss. Dazu gehört, dass EU und USA den Prozess des EU- und NATO-Beitritts weiter engagiert begleiten. Das kann langfristig durch die Einrichtung eines EU-Repräsentanten geschehen, auch wenn der dann nicht über die Exekutivbefugnisse eines Hohen Repräsentanten verfügt.

Allerdings wäre die bosnische Regierung dann auch gefordert, sich einig zu werden, welchen Staat sie überhaupt möchte. Bisher gibt es keine klare Meinung darüber, ob Bosnien ein zentralisierter oder dezentralisierter Staat sein soll. Möglicherweise erwägen bosnische Politiker auch noch einmal, ob der gewiss mühsame Prozess hin zu einer NATO- und EU-Mitgliedschaft nicht doch eher geeignet ist, den Bürgern des Landes langfristig eine Zukunft zu verschaffen, als das Beharren auf archaischen Ideen eines ethnisch nicht gemischten Teilreichs. Zumal möglicherweise zwei Staaten, Kroatien und Serbien, dann schon EU-Mitgliedsländer sind und wenig Interesse an Vereinigungsphantasien ihres Nachbarstaats oder auch nur Teilen davon haben.

Letztlich ist es also weniger die Frage, ob und wann das Büro des Hohen Repräsentanten geschlossen wird und was an dessen Stelle treten sollte. Vielmehr gilt es, den Hohen Repräsentanten für die Dauer seiner Existenz konsequent zu stärken und in Verhandlungen einzubeziehen. Die Kriterien, die erfüllt sein müssen, bis das Büro seine Aufgaben erledigt hat, wurden vom PIC schon vor einigen Jahren festgelegt.

Vorerst wird Bosnien nichts anderes übrig bleiben, als sich auf einen Status quo einzurichten, der nicht immer der schlechteste sein muss. Zum einen sichert die Präsenz des Hohen Repräsentanten oder langfristig die eines EU-Sonderbeauftragten die Aufmerksamkeit der EU und der USA. Zum anderen eröffnet sie Wege, gemeinsam an Lösungsmöglichkeiten für die Region zu arbeiten. Bei allen Problemen, die die internationale Präsenz in der Region mit sich bringt, und den Fehlern, die auch die Vertreter der internationalen Gemeinschaft in ihrer Unentschlossenheit begehen, muss erkannt werden, dass Bosnien ohne eine EU- und NATO-Perspektive wenig Chancen auf Stabilität hat. Und dieses braucht die Region fast mehr als alles andere. Die Wahlen im Oktober 2010 haben keinen Durchbruch reformorientierter Kräfte gebracht, könnten eher den Zustand der gegenseitigen Blockade in den entscheidenden Positionen weiter verstärken.

Die Situation Bosniens bleibt damit auch wegen ihrer Abhängigkeit von den Entwicklungen der Nachbarländer fragil. Gerade in der Frage der umstrittenen Grenzen ist kaum davon auszugehen, dass eine Korrektur Daytons ohne Konflikte vonstatten ginge. Und jede Korrektur, etwa auch des Territoriums des Kosovo, hat Auswirkungen auf den Zusammenhalt des Staates Bosnien und Herzegowina.
Ein Scheitern des Projekts Bosnien wäre für die Region fatal, vor allem aber wäre es auch ein Versagen der EU und der USA. Das bedeutet in der Konsequenz, sich mit unliebsamen Gästen und Ämtern erst einmal zu arrangieren.

NICOLE RENVERT ist Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 80-86

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