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01. Mai 2006

Bildersprache und Politik

Über die deutsch-tschechische Bewältigung der Vergangenheit

Jahrzehntelang haben die Vertriebenenfrage und der Umgang mit der Historie das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen vergiftet. Heute, zwei Jahre nach Tschechiens EU-Beitritt, ist diese Phase vorbei. Das Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem/Aussig soll bald einen komplexen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Böhmen werfen.

Als Gründungsdirektor des tschechischen Zentrums in München (1999–2004) konnte ich ein Böhmen erleben, das in Böhmen kaum existiert. Verschiedene böhmische Kulturschichten haben in München ihren Platz gefunden. Würdig und ein bisschen traurig, wie Blumen in der Vase. München nennt man die größte sudetendeutsche Stadt. Es leben dort mehr Deutsche aus Böhmen als vor dem Krieg in Reichenberg/Liberec in Nordböhmen. München gilt neben Wien auch als die Hauptstadt des tschechischen Exils. Ich lernte dort die tschechischen Exilanten der Exilwellen von 1948 und 1968 kennen. Ich konnte die Organisierten und die Nichtorganisierten hören, die Dauerbetrof­fenen und die ewigen Gewinner. Ich hatte eine offizielle Kultureinrichtung mit großen Freiheiten und durfte diese nutzen, um die Vergangenheit in ihrer „Kulturform“ zu präsentieren.

Wir haben dort eine Art Bildersprache entwickelt – man darf nur das aus­sprechen, was verständlich ist. Ein Beispiel möchte ich erzählen. Die Deut­sche Elena Florentine Kühn (Jahrgang 1960), die in der Nähe von Hamburg lebt, kam mit ihrem Projekt „Spurensuche“ zu uns. Anfang der neunziger Jahre reiste sie mit ihrem Lebensgefährten und dessen Vater nach Böhmen. Der Vater war zum ersten Mal nach fast 50 Jahren wieder in seiner alten Hei­mat. Seine Erinnerungen sprudelten nur so. Elena nahm seine Erzählungen auf Band auf und malte dann einen Zyklus von Landschaften. Es sind verletzte Landschaften, Landschaften, denen die Geschichte eingeschrieben ist, meint die Malerin. Ein Bild aus dem Zyklus hängt bei mir in Prag, eins bei Dr. Eva Habel, der Heimatpflegerin der Sudetendeutschen, in München. Sie und das Tschechi­sche Zentrum waren Veranstalter der Ausstellungsreihe, der Deutsch-tschechische Zukunftsfonds unterstützte das Projekt. Gemeinsam haben wir auspro­biert, ob man sich auf Bilder und auf die Reflexion von Einzelschicksalen eini­gen kann. Es war ein Versuch, die Vergangenheit wieder zu beleben – was nur beschränkt möglich ist; man verbindet das Vergangene mit persönlichen Erfah­rungen. Auch in die nordböhmische Landschaft der Malerin mischte sich mei­ner Meinung nach die Landschaft Norddeutschlands. Auf die Bilder konnten wir uns einigen. Auf die Interpretation der Geschichte nicht.

Faktoren der Verunsicherung

In der internationalen Politik war die Vergangenheitspolitik für die Tsche­chische Republik extrem bremsend und rufschädigend. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung erwähnt den Präsidenten Edvard Beneš, meiner groben Schätzung nach, öfter als jeden anderen tschechischen Politi­ker. Die Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg keine Friedenskonfe­renz stattfand, hat in der Tschechischen Republik schlimme Spätfolgen gehabt. Es gab nach der Wende für die Tschechen zu viele Faktoren der Ver­unsicherung auf einmal: Ökonomische und rechtliche Reformen, die Tren­nung von der Slowakei, die Vergangenheits-Auseinandersetzung mit Deutschland, die zeitweise von der Bedeutung her fast ebenso wichtig wie die Trennung war. Viele Tschechen waren am Anfang nicht fähig zu unter­scheiden, wo die Landsmannschaft endete und wo die deutsche Regierung anfing. Im Sozialismus gab es keine profilierten Lobbygruppen: Alle haben nur ein Lied gesungen. Auch nach dem Zerfall des Sozialismus blieb die Liederzahl überschaubar. Die Deutsch-tschechische Erklärung aus dem  Jahr 1997 wurde sehr mühsam ausgehandelt. Unter anderem wollten die Tschechen Sicherheit in der Eigentumsfrage. „Die Eigentumsfrage bleibt offen“, sagte Helmut Kohl gleich bei der ersten Pressekonferenz der Sudetendeutschen Zeitung. Noch im Jahr 2004 haben die neun bayerischen EU-Abgeordneten gegen den Beitritt Tschechiens gestimmt. Tschechische Probleme in der künftigen EU kommentierte die CSU im Nachbarland Bayern damals mit dem lakonischen Satz: „Die Tschechen sind zu neuem Unrecht bereit, weil sie das alte nicht bereut haben.“ Eine gewisse Erleichterung für die Tschechische Republik war das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Herbst 2005. Die vollkommene Bestätigung der tschechischen Position dort hat aber nur geringe Publizität gehabt.

Sehr wichtige europäische Worte wie Unrecht, Wahrheit und Versöhnung wurden im deutsch-tschechischen Verhältnis ein bisschen degradiert. Die ständigen Wiederholungen von Argumenten und indirekten geschichtlichen Anschuldigungen gingen bei den Gesprächen oft bis zur Schlacht am Weißen Berg zurück – bis zum Jahr 1620 also. Bei Symposien haben wir gern gewet­tet, wer mit diesem Datum wohl als Erster kommen würde, und wann – oft lag die Quote bei unter 20 Minuten.

Zwei Jahre nach dem EU-Beitritt Tschechiens ist diese Periode definitiv vorbei. Die Geschichte wurde durch die Zukunft befreit. Statt der deutschen Bedrohung, die meistens hinter den Grenzbergen blieb, fühlen wir jetzt alle die Bedrohung der Globalisierung: die Deutschen wie die Tschechen. Nicht hinter den Bergen, sondern dauerhaft zu Hause.

Die heutige tschechische Gesellschaft erlebt jetzt, obwohl sie ständig jam­mert, fette Jahre. Investitionen, europäische Zuschüsse, Arbeitsplätze aus dem Westen, alles frisch geliefert. Wenn keine Katastrophe kommt, werden die fetten Jahre bis zur nächsten Wahlperiode andauern. Egal, wer regiert. Die Vergangenheit ist endlich nicht mehr bedrohlich. Als erster hat das Mi­nisterpräsident Jirí Paroubek begriffen. Er hat die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus geehrt und eine Million Euro für ein Projekt zur Verfügung gestellt, welches das Schicksal dieser Sudetendeutschen dokumen­tieren soll. Das Projekt wird zeigen, dass auch viele Helden als Verräter be­handelt wurden. Das Wort „Verräter“ wurde als die offizielle Bezeichnung nach dem Krieg benutzt: Deutsche, Ungarn, Verräter. Es werden aber nicht die Verräter gesucht. Die Tschechen können sich das in Deutschland häufig gebrauchte Wort „Unrecht“ nun im Zusammenhang mit den Antifaschisten vorstellen. Die Tschechen haben drei Millionen Deutsche vertrieben und 15 000 bis 25 000 dabei direkt oder indirekt umgebracht. Zurzeit sieht es so aus, als ob die Tschechen, dank des historischen Kontexts, damit leben könnten. Aber stolz auf die Vertreibung ist – außer den Extremisten – niemand. Es gibt die Bereitschaft zu Scham und Trauer. Zu Zahlungen nicht, denn die Tschechen haben im 20. Jahrhundert schon viel gezahlt.

Paroubek weiß, dass uns nun eine neue Periode bevorsteht. Die heutige politische Korrektheit hat dabei sehr geholfen. Man darf heute nicht mehr „die Deutschen“ oder „die Tschechen“ sagen. Kollektivschuld-Thesen wer­den durch die Kollektivbezeichnung erleichtert. Glücklicherweise ist heute die Kollektivbezeichnung nicht mehr möglich. Auch durch das Training mit Deutschland in den neunziger Jahren haben die Tschechen in Sachen Ver­gangenheit eine innere Ruhe gefunden. Viele tschechische Intellektuelle haben in den Neunzigern einen Nachholbedarf in Sachen Selbstkritik ge­habt. Der deutsche Weg der Vergangenheitsbewältigung wurde dabei als mögliches und wünschenswertes Muster empfunden. Die Deutschen haben aber bei Null angefangen. Die Tschechen wollten die Kriegsgewinner blei­ben. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute kennt man andere Schutzmittel gegen künftige Kriege als die Vertreibung, die man auch mit den ural­ten nationalistischen Floskeln begründet.

Der Spielraum öffnet sich dort, wo es nicht mehr um den Krieg geht, son­dern um Humanität, um Mitleid und um die kulturelle Leistung der Deut­schen in Böhmen. Zwei Jahre nach dem tschechischen EU-Beitritt ist zwar keine einheitliche deutsch-tschechische Erinnerungskultur entstanden, aber der Freiraum für die Zusammenarbeit ist bekannt und wird auch genutzt. Das geplante Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem/Aussig soll einen komplexen Blick auf die Jahrhunderte der Deutschen in Böhmen vermitteln. Es soll ein Museum für die Deutschen in Böhmen und ein Museum des Zusammenlebens werden. Wir wollen die Leistung einer sehr fleißigen und kultivierten Minderheit würdigen. Wir wollen dabei aber auch nicht verschweigen, dass das NS-Regime, das die Tschechen liquidieren wollte, durch diese Minderheit mit beachtlicher Be­reitschaft und Stimmenmehrheit unterstützt wurde. Wir suchen noch nach einer Bildersprache, welche dem tschechischen Publikum diese Inhalte glaubwürdig vermittelt.

Ich habe Glück gehabt, weil ich viele geschichtliche und kulturelle Impulse empfangen konnte, für die die frühere Politik keinen Platz frei gelassen hat. Ich habe das Gefühl, dass die deutschen Freunde unter dem Begriff Vergangenheitsbewältigung einen Prozess verstehen, in dem etwas definitiv und in­tensiv bearbeitet und geordnet wird. Wir versuchen auch Vergangenheitsbe­wältigung, und wir lassen uns nicht dadurch abschrecken, dass die tschechi­sche Sprache kein eigenes Wort dafür hat, nur die Übersetzung aus dem Deut­schen. Für meine eigene Arbeit in diesem Bereich hilft mir die Erfahrung aus dem kleinen Projekt mit der deutschen Malerin, bei dem sich die böhmischen mit den norddeutschen Landschaften vermischten. In der Geschichtsarbeit sucht man nur das, was man kennt und will. Die alten Welten sind nicht laut genug. Sie sind vergangen.

JAN ŠÍCHA, geb. 1967, war nach dem Studium der Bohemistik, Geschichte und Philosophie u.a. in der Kulturabteilung der Tschechischen Botschaft in Bonn tätig. 1999 war er Gründungsdirektor des Tschechischen Zentrums in München. Derzeit ist er Projektleiter des Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem/Aussig.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 49 - 51

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