Bargeld hat ausgedient
In Somaliland wird fast überall per Mobile Money bezahlt, selbst Bettler halten Pappen mit Zahlen hoch.
Auf der Brücke, die mitten in Somalilands Hauptstadt Hargeisa über ein seit Langem ausgetrocknetes Flussbett führt, sitzt ein Mann im klapprigen Rollstuhl. Sein T-Shirt ist ausgeblichen, die helle Hose fleckig. Auf seinem Schoß liegt eine braune Pappe mit einer Nummer darauf. Sobald ein Auto an ihm vorbeifährt, hält er sie hoch in der Hoffnung, dass sich irgendjemand so schnell den Zahlencode merken kann. In einem der ärmsten Länder der Welt, in dem etwa jeder Dritte in Armut lebt, bettelt der hagere Mann; aber nicht um Bargeld, sondern um einen mobilen Transfer. Er ist nicht der einzige: Ein paar Straßen entfernt steht an einer Tankstelle eine junge Frau, ebenfalls mit Pappe und Zahlenfolge in der Hand. „Erfunden“ haben das allerdings nicht die Somaliländer selbst, sondern 2014 Flüchtlinge aus Syrien, die das Geld teils gleich zurück in ihr Heimatland schickten.
Bargeldloses Betteln ist jedoch zum Standard geworden und passt ausgezeichnet nach Somaliland. Bereits seit 2009 bietet das größte Mobilfunkunternehmen Telesom den Handybezahldienst ZAAD an. Mitbewerber Somtel betreibt heute eDahab. Bargeldlose Transaktionen gehören auch deshalb zum Alltag, weil die große Diaspora unermüdlich Geld in die Heimat schickt. 2018 machten die Rücküberweisungen nach Angaben der Weltbank 50 Prozent des Staatshaushalts aus.
Jetzt kleben überall im Land Sticker mit Überweisungsnummern: an Zapfsäulen, an der Schranke zum Flughafen für das Parkticket, in Frisörsalons und Schnellrestaurants. Nur in den unzähligen Khat-Shops – die Pflanze mit stimulierender Wirkung wird im Nachbarland Äthiopien angebaut und von etwa 70 Prozent der männlichen Somaliländer konsumiert – muss noch bar bezahlt werden. In dem kleinen Land mit einer Bevölkerung von rund 3,5 Millionen lebt eine zunehmend bargeldlose Gesellschaft.
Das wundert mich nicht. Mit Geldscheinen zu bezahlen, ist eine echte Herausforderung. Somaliland hat sich 1991 nach jahrelangen Kämpfen gegen die Regierung von Diktator Siad Barre von der Republik Somalia abgespalten. International anerkannt wird der Staat aber nur von Taiwan. Trotzdem gibt es eine Regierung, Opposition, Ministerien, einen mageren Staatshaushalt, Pässe sowie Visa und vor allem eine eigene Währung, den Somaliland-Schilling. Die zerknitterten und schmutzigen Scheine in grün und pink taugen zum Bananenkauf auf dem Markt, und im Supermarkt gibt es sie manchmal als Wechselgeld – immer ein Problem – zurück. Ansonsten muss in US-Dollar bezahlt werden. Aber wehe, ein Schein hat auch nur einen kleinen Riss, selbst wenn er aus dem Geldautomaten kommt. Dann ist er wertlos, zumindest in Somaliland, auch wenn es sich um eine 100-Dollar-Note handelt. Mit einem Wort: Bar zu bezahlen, das ist lästig.
Ein mobiles Bezahlsystem macht aber noch aus einem anderen Grund Sinn. Somaliland ist bis heute eine durch und durch landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft. Die Viehproduktion macht gut 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Über den Hafen von Berbera werden vor allem rund um die Pilgerfahrt nach Mekka jährlich Millionen Kamele und Ziegen verschifft. Die Kamelmilch ist fester Bestandteil des süßen traditionellen Tees und war einst Geschenk sowie Tauschgut unter Familien. Heute diskutiert man, welche Bedeutung sie für die Wirtschaft hat und wie sich Produktion, Verarbeitung und Vermarktung professionalisieren lassen. Einige Kamelfarmen gibt es zwar. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass selbst irgendwo in Hargeisa plötzlich eines der großen, beigefarbigen Tiere mit freundlichem Blick und langen schwarzen Wimpern auftaucht, an einem trockenen Strauch knabbert und dann in einer kleinen Gruppe weiterzieht.
Der Griff zum Handy ist effizienter
Dabei ziehen heute längst nicht alle Nomaden noch über Wochen und Monate mit ihrem Vieh auf der Suche nach Futter über Land. Denn das Horn von Afrika erlebt die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten. Nach Einschätzung der Welthungerhilfe ist in ganz Somalia die Ernährung von rund 6,7 Millionen Menschen gefährdet. Immer mehr Familien bleiben in selbst zusammengezimmerten Hütten an einem Ort, sind nur noch tagsüber unterwegs oder schicken ein Familienmitglied mit den Tieren los. Wenn Kinder Glück haben, können sie dadurch eine Schule besuchen. Anders als in anderen Ländern Afrikas gibt es keine mobilen Schulen oder Lehrer, die die Familien begleiten. Das führt dazu, dass nur etwa jeder Zweite der Sechs- bis 13-Jährigen überhaupt die Schulbank drückt. Dass es mehrheitlich Jungen sind, überrascht nicht. Ist der Standort gut gewählt, macht das auch den Weg zur nächsten Krankenstation berechenbarer. Bis heute werden in ländlichen Regionen mehr als 70 Prozent der Kinder ohne ausgebildete Hebamme auf die Welt gebracht.
Über asphaltierte Straßen sind nur die größten Städte verbunden. Ansonsten sind es sandige und ruckelige Pisten, für die ein Geländewagen oder ein Kamel benötigt wird. Dass sich das in absehbarer Zeit ändert, ist unwahrscheinlich. Bargeld ist also extrem unpraktisch. Wer will schon Dutzende Kilometer zum nächsten Bankautomaten zurücklegen, um dann festzustellen, dass er leer ist, nur große und völlig unbrauchbare Scheine hat oder der häufig durch Dieselgeneratoren erzeugte Strom mal wieder nicht geht? Da ist der Griff zum Handy doch viel schneller und effizienter: Das kleine Gerät aus der Tasche gezückt, ein paar Mal die richtigen Haken in der Suchmaske angeklickt, und schon sind 1000 Dollar für das Kamel überwiesen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 114-115
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