Aufstand und Stillstand
An Themen und Forderungen der Proteste in Russland hat sich seit 2011 wenig geändert. Doch vorerst sitzt der Kreml am längeren Hebel.
Der Sacharow-Prospekt liegt außer Sichtweite von Kreml, Parlament und Geheimdienstzentrale und ist doch Teil des Moskauer Stadtzentrums, breit und eindrucksvoll – und einer der wenigen Orte, die nach Dissidenten aus Sowjetzeiten benannt sind. Wenn die Moskauer Behörden Großdemonstrationen genehmigen, finden diese häufig hier statt. So war es am 24. Dezember 2011, und so war es am 10. August 2019.
Auf den ersten Blick gleichen sich die Anlässe. Zehntausende Menschen protestieren gegen Wahlmanipulationen, werfen den Regierenden vor, die Wahlen zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs zu nutzen, ohne sich echtem politischem Wettbewerb zu stellen. Anfang Dezember 2011 hatten Parlamentswahlen stattgefunden, Videos von Fälschungen überfluteten die sozialen Netzwerke. Im August 2019 bereitete sich Moskau auf Wahlen zum Stadtparlament vor – und die Behörden schlossen 23 oppositionelle Kandidaten aufgrund angeblicher Formfehler aus.
Und auch die Bilder ähneln sich: Menschen zumeist jungen und mittleren Alters halten farbenfrohe, teils ironische Plakate in die Höhe; auf der Bühne schließen sich bekannte Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur den Forderungen nach freien Wahlen und einem fairen Umgang des Staates mit seinen Bürgern an.
Der Eindruck drängt sich auf, dass es sich hier um wiederkehrende Zyklen handelt, dass sich trotz der immer wieder aufkeimenden Hoffnung wenig ändert: Die Institutionen stützen ein autoritäres Regime, ihre Manipulation sorgt hin und wieder für Protest der urbanen Mittelschicht, der aber verpufft und keine wirkungsvolle Oppositionsbewegung hinterlässt. Doch trügt der Schein vielleicht? Was hat sich zwischen diesen beiden Großprotesten verändert?
Das vergangene kurze Jahrzehnt zwischen der „Bolotnaja-Bewegung“ von 2011/12 und den Moskauer Protesten von 2019 ist aus Sicht der demokratischen Opposition durch fundamentale Veränderung bei gleichzeitiger Stagnation gekennzeichnet: Wenngleich sich das Legitimationsmodell des Staates und sein Umgang mit Dissens sowie Akteure und Zusammensetzung politischer Proteste in wechselseitiger Anpassung entwickelt haben, sind Kernforderungen und Konflikte kaum verändert.
Reaktionen auf Bolotnaja
Die Protestbewegung von 2011/12 erreichte nie eine Größe und Kraft, die die Regierenden ernsthaft in Bedrängnis gebracht hätte – zumal viele der Protestierenden keinen Regimewechsel, sondern liberale Reformen und einen ehrlicheren Umgang mit der Bevölkerung forderten. Gleichwohl reagierten Regierung, Justiz und kremlfreundliche Medien mit einem teils konzertierten, teils dezentralen Backlash an Gesetzen, Präzedenzfällen und PR-Kampagnen: Deutlich sichtbare (wenn auch selektive) Repressionen und Gesetzesverschärfungen trieben die persönlichen Kosten für Protest und politischen Aktivismus in die Höhe. Dissens wurde allgemein gleichgesetzt mit einer unpatriotischen Haltung, oft explizit mit dem Vorwurf westlicher Beeinflussung.
Diese bereits 2012 einsetzende Dynamik verschärfte sich erheblich mit dem ukrainischen Maidan und dem Konflikt in der Ostukraine im Jahr 2014 – Ereignisse, die vermeintlich ein Argument für die chaotischen Folgen demokratischer Massenproteste lieferten. Zugleich eröffnete sich die Gelegenheit, das Legitimationsmodell der frühen Putin-Jahre, das im Wesentlichen auf ökonomischer Leistung basierte, zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. Dieses Modell war seit der Wirtschaftskrise von 2008/09 und spätestens seit dem Protest „enttäuschter Modernisierer“ von 2011/12 schwer angeschlagen. Die Annexion der Krim bereitete den Boden für eine Stärkung der patriotischen, identitätsbasierten Erzählung von Putin als Stabilitätsgarant eines Russlands, das sich in seiner staatlichen und moralischen Souveränität von innen und außen bedroht sieht.
Diese Entwicklungen, die zu einem Gutteil als direkte Reaktion auf die Bolotnaja-Proteste aufgefasst werden können, veränderten die Bedingungen für oppositionelle Mobilisierung. Dies betrifft zentral das Verhältnis von Protest und Opposition.
Opposition als lästiges Label
Zwar richtete sich der Protest in den Jahren 2011/12 gegen die Regierungspartei, doch war er zu großen Teilen weniger von Unzufriedenheit mit politischen Programmen und Akteuren getragen als von allgemeiner Entrüstung über die Gleichgültigkeit, mit der Wählerstimmen behandelt wurden, sowie der Forderung nach Anerkennung demokratischer Spielregeln. Entsprechend legten viele Protestierende Wert darauf, nicht als Opposition, sondern als Teil des „Volkes“ bezeichnet zu werden. Beliebt war etwa der Slogan: „Wir sind nicht die Opposition, wir sind eure Arbeitgeber.“
In einem Umfeld, das Loyalität mit Patriotismus gleichsetzt und das die politische Auseinandersetzung per se delegitimiert, ist es schwieriger geworden, sich neutral zu positionieren. Selbst, wer lediglich die Achtung der von den demokratischen Institutionen suggerierten Regeln einfordert, wird schnell einem Lager zugeordnet. Es hat daher seit 2012 eine gewisse Polarisierung stattgefunden. Sie kommt in einer Äußerung eines langjährigen Aktivisten aus Jekaterinburg zum Ausdruck:
„Es gibt jetzt eine größere Unversöhnlichkeit. Damals (bei den Protesten von 2011/12) gab es einen Raum, in dem sich viele Menschen trafen: Es war egal, ob man Kosake war oder orthodox. Jetzt spielen diese Faktoren eine Rolle: Ein Priester kommt zu einem Protest, das hat automatisch eine Bedeutung; Kosaken treten auf, sie sind sicher Provokateure.“
Dazu passt, dass die Behörden im Jahr 2019 früher und drastischer mit Repression reagierten als bei vorherigen Protesten: Im Juli wurden über 2000 Menschen verhaftet, Gerichte verurteilten einige Demonstranten im Eilverfahren zu mehrjährigen Haftstrafen, und nach den Wahlen im Herbst konfiszierten Polizei und Geheimdienste im ganzen Land Ausrüstung und Finanzen des regionalen Netzwerks von Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Die Grenzen, so scheint es, werden heute von allen Seiten schneller und deutlicher gezogen.
Akteure und Programme
Zugleich wäre es nicht korrekt, von „der Opposition“ zu sprechen, als handele es sich um eine stabile Gruppe mit einheitlichen Zielen. Das Feld der oppositionellen Akteure ist nach den Bolotnaja-Protesten zwar zunächst kleiner geworden, weil einige Führungsfiguren emigrierten oder in Haft kamen. Der liberale Oppositionsführer Boris Nemzow fiel zudem im Jahr 2015 einem Attentat zum Opfer. Doch nach und nach etablierten sich neue Protagonisten – zum Beispiel infolge der ausdauernden Graswurzelarbeit von Dmitriy Gudkov und Maksim Kats im Umfeld der Lokalwahlen in Moskau im Jahr 2017. Auch Alexei Nawalnys breit angelegte Kampagnen brachten einige talentierte Politikerinnen und Politiker hervor, etwa die Juristin Lyubov Sobol.
Innerhalb dieser zumeist liberal-demokratisch orientierten Gruppe gibt es – wie sollte es anders sein – persönliche und strategische Differenzen, die oft die Koordination und Nutzung der ohnehin geringen Ressourcen erschweren. Hinzu kommen inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen Linken, Liberalen und Nationalisten. Zu diesen Spannungen haben die Ereignisse von 2014 eine weitere Konfliktlinie hinzugefügt („Wem gehört die Krim?“), die die Allianzbildung und -wahrung noch einmal erschwert hat.
Auch wenn weltanschauliche Differenzen im Dienste der Kräftebündelung projektweise hintangestellt werden, gibt es viele, die sich trotz ihres Engagements gegen soziale Ungleichheit, Umweltverschmutzung oder Korruption der Einordnung als politische Opposition entziehen. Viele dieser Bürgerinnen und Graswurzelaktivisten verdächtigen die, die Probleme durch einen Systemwandel von oben lösen wollen, pauschal (doch nicht immer unrichtig) des karrieristischen Aktionismus.
Um die Politik von diesem Generalverdacht des „schmutzigen Geschäfts“ zu befreien, streben Oppositionelle seit einigen Jahren vermehrt in die lokalen Parlamente. Hier sind die vom autoritären Regime errichteten Zugangsbarrieren oft niedriger und es bietet sich die Chance, lokale Probleme zu lösen und in direkten Kontakt mit potenziellen Wählerinnen und Wählern zu treten.
Auch Nawalny versucht mit seinen Büros in den Regionen, lokale Anliegen mit großen politischen Themen zu verknüpfen, sich auf lange Sicht als Problemlöser zu etablieren und sich so eine Reputation für den Fall zu erarbeiten, dass er in freien Wahlen antreten kann. Ein zweiter Teil dieser Strategie ist spätestens seit Nawalnys Präsidentschaftskampagne von 2017 die Verbindung seines Lebensthemas der Korruptionsbekämpfung mit einer Mitte-Links-Plattform: Er fordert einen höheren Mindestlohn, mehr staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur und hat eine Gewerkschaft für Staatsbedienstete gegründet. Indem er seine liberal-konservative Grundhaltung zurückstellt und die kolossale Ungleichheit beim Namen nennt, versucht er, die von vielen Menschen als zu abstrakt empfundene liberale Fokussierung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch konkretere Themen zu ergänzen und die zahlreichen sozioökonomischen Probleme zu politisieren.
An dieser Stelle ist Putin, der einst seine Beliebtheit aus dem wirtschaftlichen Aufschwung der 2000er schöpfte, eigentlich verwundbar – sei es aufgrund der Erhöhung des Rentenalters im Jahr 2018, der seit Jahren stagnierenden Reallöhne oder der teils unhaltbaren Zustände im Gesundheitssystem. Doch der Wandel der Legitimationsstrategie von Wirtschaft zu Patriotismus drängt Nawalny und seine Mitstreiter in einen Kulturkampf, in dem sie fortwährend der Illoyalität und der Missachtung Russlands traditioneller Werte beschuldigt werden. Wer bestimmt, an welcher Front gekämpft wird, hat eben einen entscheidenden Vorteil.
Angst vor Unordnung und Chaos
Die beiden Proteste auf dem Sacharow-Prospekt umspannen eine Zeit dramatischer Veränderungen der Bedingungen für Protest bei gleichzeitiger Stagnation zentraler Konflikte und Forderungen. Selbstverständnis und Legitimationsbasis des russischen Regimes haben sich verschoben, die Reaktionen des Staates auf Dissens haben sich verschärft, Opposition ist systematisch mit Verrat identifiziert worden. Auch die Protestler sind zum Teil andere: Es hat sich eine neue Generation gut vernetzter, strategisch agierender Liberaldemokraten etabliert, deren Aktionen sich jedoch nur selten außerhalb der Stadtzentren abspielen.
Da eine Opposition in den großen Medien kaum mit eigener Stimme sprechen kann, spielt Protest bei der Verbreitung politischer Botschaften eine zentrale Rolle. Doch ziehen Proteste weiterhin weit weniger Menschen an als in anderen postsowjetischen Staaten wie in der Ukraine oder Armenien. Große politische Proteste sind in ihren Forderungen zudem noch immer auf die Einhaltung der Regeln beschränkt – und bleiben selbst entschieden regelkonform: Jeder direkten Aktion, zumal der gewaltsamen Antwort auf Polizeigewalt, wird kategorisch abgeschworen. Wie der linke Soziologe Aleksander Bikbov dazu kürzlich anmerkte, mag dies mit dem Selbstverständnis vieler urbaner Liberaler zu tun haben, die vom Staat die Bereitstellung unparteiischer und exakt arbeitender Institutionen erwarten. Diese Aktivisten lehnen Unordnung und Barrikaden schon aus einer Art Klassendünkel heraus ab. Jedoch ist Gewaltlosigkeit in einer Gesellschaft, in der die Angst vor Chaos seit der Krise der 1990er Jahre den Aktionsradius politischer Akteure maßgeblich bestimmt, neben offensichtlichen moralischen Vorzügen der einzig mögliche Weg.
Dies aber bedeutet, dass auf mittelfristige Sicht das Regime am längeren Hebel sitzt, da es, wenn nötig, zur Eskalation bereit ist. Daraus ergibt sich, dass Protest den russischen Autoritarismus in nächster Zeit wohl kaum in Gefahr bringen wird. Sollte das Vertrauen der Bevölkerung in Putin abnehmen und er so die Fähigkeit verlieren, die Elite zusammenzuhalten und Einheit und Stärke zu symbolisieren, sind solche Veränderungen zwar nicht ausgeschlossen. Proteste wären dabei aber wohl eher Begleiterscheinung als Ursache.
Dr. Jan Matti Dollbaum arbeitet im Forschungsprojekt „Comparing protest actions“, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung koordiniert wird.
Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 32-36