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01. Sep 2012

Aufschwung der Autobauer

Detroit erlebt die Wiedergeburt der amerikanischen Schlüsselindustrie

Langsam erholen sich die „Big Three“ der amerikanischen Autoindustrie von Wirtschaftskrise und Rezession. Damit schöpft nicht nur Detroit, die Heimat von General Motors, Ford und Chrysler, neue Hoffnung. Der Aufschwung bildet das Fundament für die wirtschaftliche Gesundung der USA. Doch noch ist Amerikas Schlüsselindustrie nicht über den Berg.

Früher einmal war es der erste Spatenstich für einen neuen Wolkenkratzer im Stadtzentrum oder für eine große Industrieanlage am Stadtrand, der den entscheidenden Wendepunkt für die Wirtschaft einer US-Metropole bildete. So auch im Falle von Detroit, wo der Bau des „Renaissance Center“, einer Büroanlage mit 85 Stockwerken am Ufer des Detroit River, 1976 abgeschlossen wurde.

Doch das ist lange her. 2012 setzt die „Motor City“ ihre Hoffnungen eines wirtschaftlichen Wiederaufstiegs auf den Bau eines einzelnen Discount-Shopping-Zentrums, dem Gateway, am nordwestlichen Ende, fast schon außerhalb der Stadt gelegen. Der 72 Millionen Dollar teure Einzelhandelskomplex liegt an der Kreuzung zweier Verkehrsstraßen, die einst Kultcharakter besaßen – der Woodward Avenue und der 8-Mile-Road. Er soll den Konsum in Detroit ankurbeln, das Interesse der Vorstädter, nach „the D“ zu kommen, wieder aufleben lassen und die lang ersehnte wirtschaftliche Wiedergeburt mit anstoßen.

Gebremste Erwartungen

Die immense Aufmerksamkeit, die dem Gateway Center zuteil wird, verdeutlicht die stark reduzierten Erwartungen an die Zukunft Detroits. Einst war Detroit eine überaus lebenswerte Stadt im Herzen des Mittleren Westens und der Inbegriff der wirtschaftlichen Hegemonie Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen ist Detroit – außer in der Innenstadt – eine fast unbewohnbare Stadt und ein Paradebeispiel für städtischen Verfall und Misswirtschaft.

Die Dinge haben sich so verschlechtert, dass die Bevölkerungszahl im Detroiter Stadtgebiet in einem halben Jahrhundert von zwei Millionen auf derzeit 700 000 Einwohner gesunken ist. Das öffentliche Schulwesen ist in einem desolaten Zustand; mancherorts müssen die Kinder ihr eigenes Toilettenpapier zur Schule mitbringen. Die Stadtverwaltung ist nur eine Karikatur ihrer selbst: Der frühere Bürgermeister war in einen Skandal involviert, bei dem es um den Missbrauch von städtischen Geldern in Millionenhöhe und das Versenden Tausender SMS an seine Geliebte, ebenfalls eine Angestellte der Stadt, ging; inzwischen sitzt er im Gefängnis. Kein leichtes Erbe, das der amtierende Gouverneur Rick Snyder übernommen hat. Mittlerweile steht zu befürchten, dass der Bundesstaat Michigan die klamme Kommune unter seine Fittiche nehmen muss.

Doch es gibt Hoffnung für Detroit und den ganzen Bundesstaat Michigan. Die Hoffnungsträger sind drei alte Bekannte: General Motors, Ford und Chrysler, die „Big Three“ der amerikanischen Autoindustrie. Nach einer Ära der Rezession, Rettungsaktionen durch die Regierung und hoher Benzinpreise von vier Dollar pro Gallone (ungefähr 3,8 Liter) stehen diese drei Konzerne in vorderster Linie bei der Erholung des amerikanischen Automarkts. Sie scheinen bereit, auf ihren jüngsten Erfolgen aufzubauen, statt die Chance verstreichen zu lassen.

Mit ihren steigenden Verkaufszahlen bilden die Geschäfte der Autokonzerne ein solides Fundament für die wirtschaftliche Gesundung Amerikas, so wie sie in den vergangenen 50 Jahren häufig wirtschaftliche Aufschwünge begründet haben. Das amerikanische Wirtschaftswachstum von 2,0 Prozent im ersten Quartal beruhte fast zur Hälfte auf der Leistungsfähigkeit der Autoindustrie und ihren Verstärkereffekten. „Der Autoabsatz ist Vorreiter in den Konsumausgaben“, meint George Magliano, Wirtschaftsexperte beim Marktforschungs- und Beratungsunternehmen IHS Automotive in New York. „Das resultiert aus dem Nachholbedarf und all dem, was mit einer sich erholenden Wirtschaft einhergeht. Wenn es der Autobranche gut geht, nützt das allen.“ Das gilt natürlich besonders, wenn es die einheimischen Autoproduzenten sind, die am stärksten profitieren. Von den großen amerikanischen Autobauern werden die „Detroit Three“ die einzigen sein, die auf dem US-Markt hinzugewinnen werden. Zu diesem Ergebnis kommt John Murphy, Wertpapierexperte von Bank of America/Merrill Lynch, in seiner aktuellen Jahresprognose. Seiner Ansicht nach sind die Zugewinne der drei Unternehmen größtenteils auf „den erhöhten Fokus auf das Produkt und die Verbesserung der relativen Wettbewerbsfähigkeit“ zurückzuführen.

Dem Bericht zufolge wird Ford mit 0,8 Prozent bis 2015 den höchsten Zugewinn am amerikanischen Automarkt erzielen können, womit Fords Anteil auf rund 16 Prozent stiege. GM wird 0,5 Prozent hinzugewinnen und damit seinen Absatz auf 18,2 Prozent des US-Automarkts steigern. Chrysler dagegen, das sich in Fiat-Hand befindet, wird nach Murphys Einschätzung lediglich den aktuellen Anteil von 11,6 Prozent halten – dies allerdings vor dem Hintergrund, dass das Unternehmen eine Durststrecke hinter sich hat und sein Marktanteil noch vor einem Jahr bei nur 10,7 Prozent lag.

Von den wichtigsten Konkurrenten der Detroit Three, so Murphys Prognose, wird nur Toyota seinen Marktanteil in den kommenden drei Jahren um 0,3 auf 14,6 Prozent ausbauen können. Alle anderen wichtigen Mitbewerber – Nissan, Honda, die europäischen und koreanischen Marken – werden im besten Fall ihre derzeitigen Marktanteile halten können. Würde dieses Szenario Realität, dann wären die Auswirkungen auf die Autoindustrie in Detroit und Michigan beträchtlich. Die Stadt und die Region würden damit fortfahren, ihre Wirtschaft wieder aufzubauen, indem sie an ihr historisches Erbe anknüpfen, was stets der Weg des geringsten Widerstands ist.

Hollywood des Mittleren Westens?

In den wirtschaftlich schweren Zeiten hat man in Michigan auch eine Reihe von anderen Ansätzen diskutiert, um neue Impulse für die Ankurbelung der Wirtschaft zu setzen. So gehen einige selbsternannte Visionäre davon aus, dass man verlassene Teile der Stadt am besten durch „Urban Farming“ aufwerten könne. Dazu sollen die weitläufigen ungenutzten Gebiete der Detroiter Stadtlandschaft eingeebnet, durchpflügt und bepflanzt werden. Jedoch gibt es, verständlicherweise, viele, die daran zweifeln, ob aus solchen Versuchen je ein signifikanter Wirtschaftssektor entstehen kann.

Unter der demokratischen Gouverneurin Jennifer Granholm hatte Michigan Film- und Fernsehunternehmen einige Jahre finanzielle Anreize geboten, wie es sie nirgendwo sonst in den USA gab: Man gewährte bis zu 42 Prozent Nachlass auf die Umsatzsteuer. Und tatsächlich genossen die Bewohner Michigans es, ihre Lieblingsfilmstars vor Ort in der Innenstadt Detroits, im Vorort Rochester Hills oder an verschiedenen Schauplätzen an der Ostküste des Lake Michigan zu sehen. Doch erwuchsen aus dem Versuch Michigans, das Hollywood des Mittleren Westens zu werden, keine langfristigen ökonomischen Vorteile. Als der Republikaner Rick Snyder 2010 zum Gouverneur des Bundesstaats gewählt wurde, fuhr er die Steuervorteile für die Filmindustrie schnell wieder zurück.

Stärker am industriellen Erbe Michigans orientiert sind die Bemühungen des Bundesstaats, Hersteller von Batterien für Hybrid- und Elektroautos anzulocken. Seit 2006 werben Michigans Politiker mit Steuervorteilen in Höhe von mehr als 400 Millionen Dollar um Batterieproduzenten, und das Energieministerium beteiligt sich zusätzlich mit Darlehen im Umfang von 860 Millionen Dollar. Fünf Batteriefabriken sind entstanden, womit der Bundesstaat Michigan landesweit mit Abstand über die umfangreichste Infrastruktur verfügt, die allein Hybrid- und Elektroautos gewidmet ist. Die Vision einer rosigen Zukunft der Batterieindustrie hat aber bereits erheblich an Strahlkraft verloren: Trotz stetig steigender Benzinpreise, reichlich fließender staatlicher Fördermittel und dem unablässigen Werben für die neue Technologie durch Präsident Obama und einen Großteil der Medien konnten sich die amerikanischen Konsumenten noch nicht für Elektro- oder zumindest Hybridautos erwärmen.

Dennoch bieten sich den Bewohnern Michigans heute, wenn sie ihre Autoindustrie betrachten, glänzende Aussichten. Ob im Chrysler-Montagewerk in der Detroiter Jefferson Avenue, wo der Verkaufsschlager Grand Cherokee gebaut wird, in den zwischen Detroit und der alten polnischen Enklave Hamtramck gelegenen Produktionshallen von General Motors, wo der Chevrolet Volt und der neue Chevrolet Impala gefertigt werden, oder in den Ford-Anlagen in einem Vorort von Detroit, wo verschiedene Varianten des Ford Focus vom Band rollen: Es sind Tausende Arbeitsplätze, die hier wieder eingerichtet oder neu geschaffen werden.

Innerhalb von zwei Jahren wird Chrysler in China und Europa die Auslieferung des Maserati Kubang starten, einem neuen, luxuriösen Geländewagen. Chrysler wird den Maserati am selben Fließband fertigen, an dem derzeit der Grand Cherokee gebaut wird. Und Gouverneur Rick ­Snyder bemüht sich, den Fiat-Chef Sergio Marchionne zu überzeugen, den gemeinsamen Hauptfirmensitz von Chrysler und Fiat von Turin nach Michigan zu verlegen.

Außerdem könnte Michigan wirtschaftliche Vorteile mitnehmen, die daraus resultieren, dass ausländische Automarken ihre Produktion verstärkt in die USA verlagern, ob die Autos nun in Michigan oder South Carolina hergestellt werden. Toyota etwa wird in seinen technischen Zentren in Ann Arbor und Saline (Michigan) bis Ende des Jahres 150 neue Arbeitsplätze für Ingenieure, Techniker und Forscher schaffen. Weitere 100 solcher Stellen, so die Ankündigung, will man innerhalb der nächsten fünf Jahre einrichten. Diese werden vor allem in den Bereichen Autodesign und -entwicklung für den nordamerikanischen Markt angesiedelt sein.

Katalysator Autoindustrie

Seit Mitte 2009, als die Autoindustrie in Michigan mit 104 000 Beschäftigten einen Tiefpunkt erreicht hatte, sind 32 000 Stellen in der Produktion wieder hinzugekommen. Rechnet man den Faktor 4,9 ein, den traditionellen Verstärkereffekt eines neuen Arbeitsplatzes in der Autoindustrie, dann dürfte man für den selben Zeitraum laut Angaben des Center for Automotive Research (CAR) mit insgesamt 157 000 neuen Fabrikarbeitsplätzen in Michigan rechnen. Und tatsächlich waren bis Februar dieses Jahres wieder rund 156 000 Arbeitsplätze in der Produktion entstanden. „Es war zu 100 Prozent die Erholung in der Auto­industrie, die für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung Michigans seit 2009 gesorgt hat“, so Sean McAlinden, leitender Wirtschaftsexperte des CAR-Instituts.

Der Zuwachs an Arbeitsplätzen in der Autoindustrie hat wiederum Michigans Arbeitslosenquote auf 8,6 Prozent (im Juni) gedrückt, ein Wert, den man seit August 2008 nicht mehr erreicht hatte und der um zwei Prozentpunkte niedriger liegt als noch vor einem Jahr. Der aktuelle Wert liegt damit nur knapp über der bundesweiten Quote von 8,2 Prozent. Zweifellos gleicht das nur zum Teil die erheblichen Verluste an Arbeitsstellen in Michigans Industrie aus. Laut CAR-Institut hatte die Autobranche in Michigan im Januar 2008 ein Beschäftigungshoch von 177 000 Stellen in der Fertigungsindustrie erreicht, bevor die jüngsten wirtschaftlichen Turbulenzen und die Umstrukturierungen begannen.

Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass die von Synder gestarteten Reformen die Wahrnehmung des Geschäftsklimas in Michigan von außen verbessern – ein wichtiger Vorbote der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung, die auf diese Weise ein solides Fundament bekommt, statt auf unbeständigen und unsinnigen Subven­tionen für wenige Sektoren zu be­ruhen. So ist Michigan in der jähr­lichen Studie des American Legisla­tive Exchange Council zur öko­nomischen Wettbewerbsfähigkeit auf den 25. Platz aufgestiegen. Vor zwei Jahren nahm der Bundesstaat noch Rang 34 von 50 ein. Doch macht die aktuelle Zunahme an Arbeitsplätzen den jahrzehntelangen Verfall in Michigans Schlüsselindustrie nicht wett. Und sie bedeutet nicht, dass die langfristigen wirtschaftlichen Aussichten für den Bundesstaat zwangsläufig rosig sind. David Littmann, Wirtschaftsexperte des Mackinac Center for Public Policy in Midland (Michigan), warnt, dass „Michigan sich weder mit der Autoindustrie noch mit einem anderen Sektor auf einem Pfad des nachhaltigen und langfristigen wirtschaftlichen Wachstums befindet“. Er zeigt sich beispielsweise besorgt über die gestiegene Attraktivität des benachbarten Bundesstaats Indiana für Arbeitgeber in der Branche.

Und um Rosetta Newby aus ihrem Haus in einer bedrohten Nachbarschaft in der Innenstadt ­Detroits zu retten, kommt jede makroökonomische Entwicklung zu spät, ebenso wie für Hunderte andere, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Die 75 Jahre alte Witwe lebt in einem der vielen baufälligen Gebiete der Stadt, die derzeit systematisch ignoriert werden. Detroits Möchte­gern-­Retter fokussieren ihre Ressourcen auf die Teile der Stadt, die dynamisch geblieben sind, und leiten die Mittel dorthin.

Newby hat der Detroit Free Press kürzlich erzählt, dass sie ihr Haus weder verkaufen noch ein Darlehen aufnehmen könne, um es zu reparieren. „Warum würde man auch umziehen, wenn man sein ganzes Leben lang an demselben Ort gewohnt hat?“ Im Michigan dieser Tage gibt es Tausende Rosetta Newbys. Immerhin steigt ihre Anzahl nicht.

Dale Buss arbeitet als Journalist in Detroit, u.a. für Forbes, Chief Executive Magazine und Wall Street Journal.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 112-117

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