Internationale Presse

01. Sep 2012

Auf der Suche nach einem neuen Europa

Bislang hat Frankreichs Präsident noch keine klaren Vorstellungen

Ein Vierteljahr ist Frankreichs sozialistischer Staatspräsident François Hollande jetzt im Amt. Von Anfang an hat die europäische Agenda seine Präsidentschaft bestimmt: Euro-Rettung, Fiskalvertrag, institutionelle Weiterentwicklung der Euro-Zone, das sind die Themen, denen Hollande sich stellen muss.

In Deutschland machte man sich während des Wahlkampfs große Sorgen, dass die zuletzt relativ reibungslose Zusammenarbeit mit der französischen Regierung enden könnte. Nicht umsonst hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel sich für Amtsinhaber Nicolas Sarkozy eingesetzt und seinen sozialistischen Herausforderer nicht einmal empfangen.

Tatsächlich wurden die ersten Wochen von Hollandes Amtszeit zu einer Belastungsprobe für das deutsch-französische Verhältnis. Zwar reiste der neue Präsident noch am Tage seiner Amtseinführung nach Berlin und stellte den Wunsch nach enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung heraus. Doch anschließend nutzte er einen dosierten Konflikt mit Merkel, um sich zu profilieren und für innenpolitische Zwecke den Eindruck zu erwecken, dass auch in der Europapolitik der von ihm im Wahlkampf beschworene „Wandel jetzt“ Einzug halte. „Hollande ist der Champion all derer, die sich dem Diktat der Kanzlerin widersetzen“, kommentierte Libération (14. Mai). Von einem „verschärften Ton und zahlreichen Widersprüchen im deutsch-französischen Verhältnis“ berichtete L’Express und stellte gar einen „Fieberanfall“ in den Beziehungen fest (15. Juni). Der Nouvel Observateur sah am selben Tag ein „Paar Hollande–Monti gegen Merkels Austerität“ entstehen.

Mittlerweile ist Hollande auf eine kooperative Linie im Verhältnis zur Bundesregierung eingeschwenkt. Doch eine klare Vorstellung davon, wo Europa und die Euro-Zone sich seiner Ansicht nach hin entwickeln sollen, vermittelt er noch nicht: Hollande wirkt wie ein Suchender.

Im Wahlkampf und in den ersten Wochen seiner Amtszeit hat Hollande versucht, sich auch in der Europa-politik von seinem Vorgänger abzugrenzen, eine Alternative zur vermeintlich unerbittlichen „deutschen Austerität“ zu demonstrieren. Den von der Bundeskanzlerin angeregten Fiskalpakt, der einen ausgeglichenen Staatshaushalt und zwingende Vorschriften zur Einhaltung dieses Zieles verlangt, wollte er neu verhandeln, weil er angeblich das Wachstum abwürge. Den Partnern vor allem im Süden der Euro-Zone bot er sich als Alternative zu Angela Merkel an. So schrieb Le Figaro: „Die deutsche und die französische Auffassung sind gegensätzlich“ (27. Juni).

Von diesem Gegensatz ist inzwischen nicht mehr viel übrig geblieben. Der EU-Gipfel im Juni hat eine Reihe von Initiativen für mehr Wachstum beschlossen. Doch der eigentliche Fiskalvertrag wurde nicht verändert. Die Ankündigung Hollandes am Rande des Gipfels, den Vertrag zu ratifizieren, sei auch eine Geste an die Adresse Merkels, interpretierte Le Monde (30. Juni). Die Bundesregierung redet nicht darüber, verzichtet auf politisches Auftrumpfen, um in Frankreich keine schlafenden Hunde zu wecken – doch auch so kritisieren die äußerste Linke und Teile der Sozialisten, dass Hollande sein Versprechen der Neuverhandlung gebrochen habe. Ende September soll die französische Nationalversammlung den Vertrag in unveränderter Form ratifizieren.

Am 9. August hat der Verfassungsrat entschieden, dass die französische Verfassung dafür nicht geändert werden müsse – falls bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden. Die allerdings sind so strikt gefasst, dass ein Konflikt mit der EU droht: Nur wenn Regierung und Parlament weiter frei über das Budget und das Staatsdefizit entscheiden könnten, sei der Vertrag mit der Verfassung vereinbar, entschieden die Wächter der „Constitution“. Sollten die Budgetvorschriften des Vertrags aber „mit zwingenden und permanenten Bestimmungen in Kraft gesetzt werden“, sei eine Ratifizierung nur nach Änderung der Verfassung möglich.

Der europäische Fiskalvertrag verlangt aber in Artikel 3, Absatz 2 explizit diese „zwingenden und permanenten“ Regelungen. Sie sind der Sinn des Vertrags, der den immer wieder umgangenen Stabilitätspakt festigen und verschärfen soll. Gingen die französischen Medien anfangs völlig über dieses vermeintliche Detail hinweg und erklärten lediglich pauschal, der Verfassungsrat habe grünes Licht für eine Ratifizierung ohne Verfassungsänderung gegeben, melden sich mittlerweile immer mehr Experten zu Wort, die die Zusammenhänge überblicken und auf den drohenden Dissens hinweisen.

So kommentierte die Juraprofessorin Anne Marie Le Pourhiet am 13. August auf der Internetseite des Magazins Marianne, dass der Verfassungsrat „nicht einfach grünes Licht gegeben“ habe, sondern „zwei Alternativen aufzeigt: eine ohne Verfassungsänderung und eine andere, die eine Reform der Verfassung notwendig“ mache. Bemerkenswert ist auch, dass Frankreichs Verfassungsrat in die Fußstapfen des Bundesverfassungs-gerichts tritt und sich ebenfalls mit dem Europäischen Gerichtshof anlegt: Nicht der, sondern die nationale französische Instanz habe die Einhaltung des Vertrags zu überwachen. So sehr die Regierung nach der Entscheidung vom 9. August also auch jubelte – die Ratifizierung des Fiskalpakts ist noch immer kein Selbstläufer und wird für Debatten mit der EU sorgen, die eine völlig unverbindliche Formulierung im fran-zösischen Zustimmungsgesetz kaum -akzeptieren wird.

Von deutscher Seite aus muss man bei aller Detailkritik Hollande zugutehalten, dass es ihm gelungen ist, den Flügel seiner Partei einzufangen, der noch im vergangenen Jahr den Schuldenabbau und jede Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU scharf ablehnte. Mit dem Versprechen der Neuverhandlung hatte er die Europaskeptiker unter den Sozialisten während des Wahlkampfs zufriedengestellt. Die Wachstumsprojekte des EU-Gipfels werten die meisten Sozialisten nun als eine Neuorientierung der europäischen Politik – selbst wenn die tatsächliche Wirkung längst nicht gesichert ist.

Momentan sieht es so aus, als habe Hollande dank seines erfolgreichen Taktierens freie Bahn, um sich der Haushaltssanierung zu widmen. Damit steht er bei der EU im Wort. Mehrfach haben der Präsident und Finanzminister Pierre Moscovici bestätigt, dass sie keinen Aufschub bei der Sanierung wünschen. Was in den letzten Wochen beschlossen wurde, um die Neuverschuldung zu verringern, traf die Wähler der Sozialisten kaum: Überwiegend waren es steuerliche Mehrbelastungen für Bezieher hoher Einkommen.

Doch das allein reicht nicht. Die Regierung muss sich nun auch an Ausgabenkürzungen machen. Sie hat zugesagt, dass diese genau die Hälfte zur Sanierung beitragen sollen. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, dass Hollande versprochen hat, die Zahl der Beamten in den Schulen, in Polizei und Justiz aufzustocken. Er muss folglich in den anderen Ressorts umso stärker kürzen. Premierminister Jean-Marc Ayrault hat unmittelbar vor der Sommerpause den einzelnen Ministerien ihren jeweiligen budge-tären Rahmen vorgegeben. Wo das zu Kürzungen führen wird und wie sich diese auswirken, welche Bevölkerungsgruppen es letzten Endes treffen wird, ist noch völlig unbekannt. Je mehr sich der Nebel in den nächsten Wochen verzieht, umso unangenehmer dürfte es für die Regierung werden.

Pflicht und Kür

Der Abbau der Neuverschuldung ist europäische Pflicht. So gut es ist, dass Hollande entschlossen zu sein scheint, sie zu absolvieren – man fragt sich immer noch, worin seine europapolitische Kür besteht. Merkel und Hollande seien entschlossen, „alles zu tun, um den Euro zu retten“, stellte Le Monde zufrieden fest (27. Juli) und interpretierte das zugleich als stillschweigende Unterstützung für Eingriffe der Europäischen Zentralbank.

Welche Art von Europa will der Politiker mittelfristig erreichen, der sich während des Wahlkampfs als politischer Schüler des großen Europäers Jacques Delors bezeichnet hat? Zu den verschiedenen integrationspolitischen Vorstößen aus Berlin hat sich die neue Regierung nicht klar geäußert. Wiederholt hatten sich Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble für mehr Europa, weitere Kompetenzübertragungen an die EU oder die -Euro-Zone und gar eine volle Politische Union mit der Entwicklung der EU-Kommission zu einer europäischen Regierung ausgesprochen. Von Hollande und seinen Ministern kamen bisher nur ausweichende Stellungnahmen, nach dem Motto: Jetzt sei nicht die Zeit für große Würfe, man müsse erst den Euro retten. Bissig stellte Le Monde in einem Gastkommentar fest, dass Hollande am Nationalfeiertag nichts zu Europa gesagt habe: „Das Thema ist offenbar so wichtig, dass es warten muss“ (27. Juli).

Im Vorfeld des EU-Gipfels Ende Juni schickte Hollande ein elfseitiges Memorandum an die Partner, das er „Wachstumspakt“ nannte. Doch das Memorandum befasst sich fast ausschließlich mit kurzfristigen Aufgaben wie der Schaffung einer Bankenunion im Euro-Gebiet. Nur ganz am Ende wird auf einer halben Seite eine „Roadmap“ für die nächsten zehn Jahre erwähnt. Dazu sollen eine dauerhafte Wachstums-politik gehören sowie eine größere finanzielle Solidarität über -gemeinsame Anleihen, ein „steuerlicher Rahmen“ für die Unternehmen und ein „sozialer Sockel“, der nationale Traditionen berücksichtigen müsse. Dieses Programm erlaube es dann, „die Integra-tionsbedingungen, vor allem fiskalischer Art, und den institutionellen und politischen Rahmen zu erörtern“. Mehr als diese äußerst dürren Sätze hat die neue Regierung noch nicht an eigenen Vorstellungen zur weiteren Integration formuliert.

Zu einem guten Teil liegt das sicher am ungeheuren Zeitdruck, unter dem die neue Mannschaft stand und steht. Doch eine weitere Ursache liegt darin, dass die Sozialisten tief zerstritten sind, was die Europapolitik angeht. Anlässlich des Referendums über den Verfassungsvertrag hat sich die Partei regelrecht zerlegt – ein Teil mit dem damaligen Vorsitzenden Hollande war dafür, ein anderer dagegen, unter Verweis auf die angeblich gefährdete Souveränität Frankreichs.

Der Euro habe „zwei Feinde“, warnte Le Monde in einem Kommentar (9. August): die Londoner City und die bedingungslosen Befürworter staatlicher Souveränität. Gemeint sind damit wohl auch einige prominente Sozialisten: Zu den Gegnern zählten damals ausgerechnet der heutige Außenminister Laurent Fabius und Europaminister Bernard Cazeneuve. Ein europapolitisches Projekt zu formulieren und in der eigenen Regierung durchzusetzen, ist deshalb eine der Aufgaben, die Hollande noch vor sich hat.

THOMAS HANKE ist Korrespondent des Handelsblatts in Paris.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 132-135

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