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01. Nov. 2016

Auf den Spuren von Boko Haram

Eine Reise in den Norden Kameruns offenbart das ganze Ausmaß der Krise

Immer und immer wieder attackierte die dschihadistische Boko Haram auch kamerunisches Territorium, vor allem in der Region des „Hohen Nordens“. Dann begann die Armee mit einer Gegenoffensive. Die Miliz konnte sie damit zwar schwächen – aber nicht besiegen. Eine Reportage aus dem Grenzland zwischen Kamerun und Nigeria.

Um acht Uhr morgens halten die Fahrzeuge vor meinem Hotel in Maroua: zwei Mannschaftswagen und fünf Autos mit Allradantrieb. Insgesamt 40 Soldaten sollen sieben Journalisten und mich in den Hohen Norden Kame­runs bringen, der immer noch erheblich unter der islamistischen Terrormiliz Boko Haram leidet.

Ich will wissen, wie Boko Haram in dieser Gegend operiert und wie stark die Dschihadisten heute noch sind, nachdem die Regierung vor zwei Jahren begonnen hat, massiv gegen sie vorzugehen. Ich will erkunden, welche Auswirkungen die Angriffe von Boko Haram und die Gegenoffensive des Militärs auf die dort lebenden Menschen haben, will verstehen, ob es Boko Haram immer noch möglich ist, Kämpfer im Hohen Norden zu rekrutieren, erfahren, was von derem Netzwerk aus Sympathisanten noch vorhanden ist. Schließlich möchte ich herausfinden, ob und wie man Boko Haram auch mit anderen als militärischen Mitteln bekämpfen kann. Und nicht zuletzt will ich auch mehr über die lokalen Selbstverteidigungsgruppen lernen, die im Kampf gegen den Terror in Kamerun eine inzwischen nicht unbedeutende Rolle spielen.

Der Ausgangspunkt unserer Reise ist Maroua, eine lebendige Stadt mit 400 000 Einwohnern und Hauptstadt der Region Extrême Nord. Diese Region hat zwar niemals die traurige Berühmtheit des im Westen angrenzenden nigerianischen Bundesstaats Borno erreicht, wurde aber dennoch in den 2000er Jahren zu einem wichtigen Zufluchtsort für Boko-Haram-Kämpfer. In den vergangenen Jahren hat diese Region immens gelitten, besonders seit 2014, als es zur offenen Konfrontation zwischen Boko Haram und dem kamerunischen Militär kam.

Die Taktik der Terroristen hat sich seither geändert: Zunächst hatte die Miliz kleinere Attacken verübt und immer wieder auch Menschen entführt. Mit der Offensive des Militärs verlegte sich Boko Haram auf größere Raubzüge durch Städte und Dörfer und strategische Angriffe auf die kamerunische Armee. In nur zwei Jahren zeichneten die Dschihadisten für über 500 Anschläge und Übergriffe sowie rund 50 Selbstmordanschläge in Kamerun verantwortlich. Das Land hat damit nach Nigeria die meisten Attacken durch Boko Haram zu erleiden. Nach Angaben des kamerunischen Militärs lieferten sich Soldaten in den Jahren 2014 und 2015 vierzehn Mal heftige Auseinandersetzungen in den Orten Kolofata, Amchidé, Fotokol und Bargaram mit Hunderten, manchmal sogar Tausenden schwer bewaffneten Boko-Haram-Kämpfern. Die meisten kamen aus Nigeria, Kamerun und Tschad. Insgesamt haben die Dschihadisten in den vergangenen zweieinhalb Jahren mindestens 1300 Zivilisten und 120 Soldaten getötet und schätzungsweise 1000 Menschen in Kamerun verschleppt. Sie haben Hunderte Schulen und Geschäfte niedergebrannt und ­Tausende Menschen zur Flucht gezwungen. Laut Zahlen des UN-Büros OCHA befinden sich heute 190 000 Binnenvertriebene und rund 65 000 Flüchtlinge aus dem angrenzenden Nigeria im Hohen Norden Kameruns.

Ein umkämpftes Grenzgebiet

Bevor wir Maroua verlassen, versorgen uns die Soldaten mit Helmen und schusssicheren Westen. Das ist Standardausrüstung für jeden, der in diese Region reist. Um der Regierung den Zugang zu erschweren, wenn nicht zu versperren, hat Boko Haram Straßen und Wege mit Minen und selbstgebauten Sprengkörpern gepflastert. Seit Oktober 2014 wurden über 50 Zwischenfälle registriert, bei denen 22 Minen mindestens 30 Soldaten getötet und viele weitere verletzt haben. Ich klettere in einen minengeschützten Mannschaftswagen. Aber unsere Sicherheit hat ihren Preis: Trotz Klimaanlage herrschen im Wagen an die 45 Grad. Mit verschwitzten Gesichtern schauen die Journalisten und ich uns an. Plötzlich verstehen wir – zumindest ein wenig – die physischen Anstrengungen, denen die in dieser Region patrouillierenden Soldaten jeden Tag ausgesetzt sind.

20 Kilometer außerhalb von Maroua wird die Straße uneben, und bald darauf gibt es gar keine Straße mehr. Doch der Fahrer bahnt sich seinen Weg nach Nordosten, und vier Stunden später erreichen wir Mabass, ein Dorf direkt an der nigerianischen Grenze. Mabass und die benachbarten Städte Tourou und Ldamang hat Boko Haram 2014 wiederholt angegriffen, konnte sie jedoch nicht vollständig erobern. Wir halten auf einer steinigen Hoch­ebene und blicken über das weite, sandige Grenzland zu Nigeria. Der ört­liche Kommandant, Captain Ticko Kingue, deutet auf einen See in der Ferne: „Dort liegt die nigerianische Stadt Madagali. Das gesamte Grenzland wird von Boko-Haram-Kämpfern heimgesucht, auch gestern Nacht gab es hier Angriffe. Doch wir dürfen nicht einfach nigerianisches Territorium betreten; also können wir nur verhindern, dass die Aufständischen auch auf kamerunisches Gebiet kommen.“

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Armeen von Nigeria und Kamerun im Kampf gegen Boko Haram zusammenarbeiten. Lange Zeit verhinderten die problematischen Beziehungen eine bessere militärische Koordinierung. Heute, zwei Jahre nachdem die kamerunische Regierung Boko Haram den Krieg erklärt hat, ist der Austausch von Informationen noch immer nicht zufriedenstellend. Aber wenigstens hat sich die Kooperation der beiden Armeen erheblich verbessert: eine multinationale Joint Task Force versucht seit November 2015, Boko Haram zu zerschlagen. „Manchmal kommen die nigerianischen Soldaten zu uns, vor allem, wenn wir ihnen mit Ausrüstung helfen können“, sagt Captain Kingue. „Und sie informieren uns darüber, was auf ihrer Seite passiert.“

Auf der anderen Seite der Grenze befinden sich die meisten Städte in der Gewalt von Boko Haram. „Schon seit längerer Zeit konnte Boko Haram kein neues Terrain erobern“, sagt der Captain. „Aber deren Kämpfer versuchen es weiter. Für gewöhnlich beginnen sie nachts mit einem Überraschungsangriff. Manchmal geben sie vor, ein größeres Dorf oder eine Stadt zu überfallen, um die Aufmerksamkeit der Armee in diese Richtung zu lenken.Und dann versuchen sie, sich kleinerer Dörfer zu bemächtigen.“ Meist beschlagnahmen die Kämpfer mit roher Gewalt alles, was sie zu ihrer Versorgung brauchen. Zuweilen, wie im Dezember vergangenen Jahres in Kerawa, treiben die Dschihadisten die Dorfbewohner zusammen und halten ihnen stundenlange religiöse Predigten – damit die Botschaft auch ankommt, in verschiedenen Sprachen wie Kanuri, Haussa und Arabisch.

Geschwächt, aber noch lange nicht besiegt

Die größten Gebietsgewinne konnte Boko Haram zwischen Sommer 2014 und Frühling 2015 erzielen. Danach aber gingen die Militärs von Kamerun, Tschad und Nigeria entschiedener gegen sie vor. Mit Erfolg. Boko Haram wurde geschwächt, die Dschihadisten haben große Teile besetzten Gebiets und einen nicht ganz unerheblichen Teil ihrer militärischen Ausrüstung verloren. Die kamerunische Armee gibt an, seit 2014 die meisten Boko-Haram-Zellen im Land zerstört zu haben. Etwa 2000 Kämpfer der Miliz seien in den Auseinandersetzungen getötet worden, weitere Tausend habe man gefangen genommen. Besiegt aber ist Boko Haram noch lange nicht. Die dschihadistische Miliz kann wohl keine großangelegten Angriffe mehr durchführen. Aber unter dem Druck des Militärs hat sie ihre Taktik geändert. Sie setzt nun auf kleinere Angriffsziele und mehr Selbstmord­attentäter.

Ganz so sauber scheint der Erfolg, den sich das Militär selbst bescheinigt, aber nicht zu sein. Ein vor Kurzem veröffentlichter Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International dokumentiert schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen bei der Aufstandsbekämpfung in der Region Extrême Nord. Viele Menschen seien willkürlich von der Armee gefangen genommen, so Amnesty, und deren Rechte „routinemäßig missachtet“ worden; von fairen Gerichtsverfahren könne keine Rede sein. Allerdings wurde dieser Bericht nicht nur von der Regierung und den Militärs kritisiert, sondern auch von Vertretern der Zivilgesellschaft und lokalen Medien. Auch die Crisis Group teilt manche Bedenken, die Amnesty International in ihrem Bericht vorträgt; doch in zahlreichen Gesprächen versicherten uns die Menschen vor Ort, dass sie das Vorgehen der Armee gegen die brutale Gewalt Boko Harams durchaus unterstützen.

Unsere Reise geht weiter in den Bezirk Mayo Tsanaga zum einzigen Flüchtlingslager im Hohen Norden. Das Camp in der Nähe des Dorfes Minawao wird vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geleitet und beherbergt fast 57 000 Menschen, unter ihnen vor allem Nigerianer aus den Grenzregionen. Auch über 190 000 Kameruner wurden vertrieben, meist flohen sie in andere Dörfer und Städte im Hohen Norden. Das Lager existiert seit 2011. Zu Beginn konnten die Flüchtlinge nur mit dem allernotwendigsten versorgt werden. Unter der Leitung des ­UNHCR und mit der Unterstützung durch weitere Hilfsorganisationen und die kamerunische Regierung sind inzwischen schlichte Unterkünfte gebaut worden, können an alle Flüchtlinge drei Mahlzeiten pro Tag ausgeteilt werden und erhalten Kinder jeder Altersstufe regelmäßigen Schulunterricht. Nach wie vor aber sind die hygienischen Bedingungen im Camp völlig unzureichend. Kein Wunder. Laut UNHCR stehen nicht einmal 10 Prozent der Mittel zur Verfügung, die für die Betreuung aller Flüchtlinge benötigt würden.

Das ist nicht das einzige Problem. Aus Sicherheitsgründen, und vor allem wegen der Furcht vor Selbstmord­attentaten, ist es den Flüchtlingen verboten, das Camp zu verlassen. Dort gibt es jedoch kaum Arbeit für sie. So sind die meisten zu Untätigkeit verdammt, was mit den sozialen Aktivitäten, die der ­UNHCR anbietet, nur unzureichend zu kompensieren ist. Auch fehlt es an psychologischer Betreuung. Viele Flüchtlinge, besonders Frauen und Mädchen, haben Gräuel­taten gesehen oder am eigenen Leib erfahren. Die meisten Flüchtlinge würden lieber heute als morgen das Lager verlassen, um wieder nach Hause zurückzukehren, sobald es dort sicher genug sei. Wann das ist, kann niemand einschätzen. Nur einer meiner Gesprächspartner, ein Nigerianer aus der Stadt Pulka im Bundesstaat Borno, findet, dass „es uns gut geht in Minawao“. Er will hier bleiben, den schwierigen und eingeschränkten Lebensumständen im Lager zum Trotz.

Vor Einbruch der Nacht kehrt unser Konvoi nach Maroua zurück. Die Stadt liegt hundert Kilometer von der nigerianischen Grenze entfernt und damit in einem Gebiet, das Boko Haram noch nicht breit attackieren oder gar unter seine Kontrolle bringen konnte. Maroua gilt deshalb als einer der sichersten Orte in der Region Extrême Nord. Doch auch hier gelang es Boko Haram, Attentate zu verüben. Am 22. Juli 2015 sprengten sich zwei Mädchen, beide keine 15 Jahre alt, im Auftrag der Miliz auf dem Zentralmarkt der Stadt und in einem von der Volksgruppe der Haussa bewohnten Viertel in die Luft. Elf Menschen wurden getötet, 32 weitere verletzt. Drei Tage später zündete eine Zwölfjährige in einer Bar einen Sprengstoffgürtel.

65 Prozent der 23 Millionen Kameruner sind jünger als 30 Jahre. Kinder und Jugendliche sind die Verletzlichsten in diesem Krieg; viele sind von der Gewalt traumatisiert, deren Zeugen oder Opfer sie schon in sehr jungen Jahren werden. Kinder und Jugendliche sind aber auch eine leichte Beute für Boko Haram. Es gelingt den Dschihadisten immer wieder, sie zu rekrutieren und sie brutal für ihre Zwecke zu instrumentalisieren – wie die Selbstmordattentäterinnen in Maroua. Dass allzu viele junge Kameruner höchstens über eine mangelhafte Schulbildung verfügen und kaum Aussicht auf einen Job haben, kam zumindest bislang den Dschihadisten zupass.

In jüngster Zeit jedoch und nicht zuletzt wegen des Krieges der Regierung gegen die Dschihadisten, hatte Boko Haram empfindliche Rückschläge hinzunehmen, so erzählen mir einige Leute in den lokalen Verwaltungen Marouas, Mokolas und Moras. Es gelingt nicht mehr so einfach, jüngere Kameruner zu rekrutieren, weshalb die Milizionäre immer häufiger auf Entführungen und Zwangsrekrutierungen zurückgreifen. Selbst fundamentalistische Muslime distanzieren sich inzwischen von den Dschihadisten, weil sie unterschiedslos Christen und Muslime töteten. Boko Haram, verkünden jetzt sogar radikal­islamische Prediger, repräsentiere weder den wahhabitischen, noch den salafistischen Islam. Dabei trauen sich diese Prediger wegen des Kampfes gegen die Dschihadisten selbst nicht mehr, ihre Botschaften so offen zu verbreiten.

In Entwicklung investieren

Der Extrême Nord ist die ärmste Region Kameruns, 70 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem Dollar am Tag und damit deutlich unter der Armutsgrenze. Während der vergangenen drei Jahrzehnte ist der Einfluss des konservativen, salafistischen Islams in der Region immer größer geworden. Viele junge Kameruner haben nichts anderes als einen radikalen Islam kennengelernt. Es bedürfte dringend staatlicher Programme, die sich dieser Jugendlichen annähmen und sie vor weiterer Radikalisierung bewahren. Für jene, die sich den Dschihadisten angeschlossen haben, wären Hilfsprogramme nötig, die ein Aussteigen und eine Reintegration in die Gesellschaft ermöglichen.

Aber gibt es die? In Maroua liegt eine der größeren Haftanstalten des Landes. Hier sitzen etwa 900 und damit die große Mehrzahl der in Kamerun gefassten mutmaßlichen Boko-Haram-Kämpfer ein. Aber es fehlt an Programmen, die einen toleranteren Islam lehren und damit zur Entradikalisierung der Dschihadisten beitragen würden ebenso wie an Angeboten, die es den Kämpfern erleichtern würden, sich von Boko Haram loszusagen und wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Auch außerhalb des Gefängnisses, so erfahre ich in meinen Gesprächen mit Angehörigen der regionalen Verwaltung, wird kaum etwas angeboten, das Jugendliche davon abhalten würde, sich extremistischen Gruppen anzuschließen. Aktiv sind in diesem Bereich nur zivilgesellschaftliche Gruppen oder Kirchen. Die Cameroon’s Association for Inter-Faith Dialogue, die Konferenzen und Treffen für hohe Geistliche christlicher und muslimischer Strömungen organisiert, ist ein positives Beispiel. Doch solche Initiativen erreichen nicht diejenigen, die den religiösen Dialog verhindern: die wesentlichen Köpfe und Prediger eines radikalen Islams.

Will die Regierung Kameruns nicht nur auf militärische Mittel zurückgreifen, sondern eine langfristige politische Strategie gegen Radikalisierung auflegen, dann muss sie vor allem in Entwicklung investieren. Ohne sichere Einkommensmöglichkeiten wird immer ein Anreiz bestehen bleiben, sich radikalen Gruppen anzuschließen. Dass der im vergangenen Jahr aufgelegte „Emergency Development Plan“ mit einem Budget von rund zehn Millionen Dollar für eine solche Aufgabe ausreicht, glaubt kaum jemand. Nach Einschätzung der meisten Experten deckt dieser Plan höchstens 1 Prozent dessen ab, was für eine tatsächliche Verbesserung der Lage in der am wenigsten entwickelten Region des Landes notwendig wäre. Mit zehn Millionen Dollar kann man kein Straßennetz in dieser verarmten Region bauen, keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung gewährleisten und keine Arbeitsplätze schaffen. Es mag möglich sein, dass Kamerun andere Finanzierungsmöglichkeiten auftut, um diese Aufgaben zu erfüllen. Aber eine realistische Einschätzung der Notwendigkeiten ist erforderlich. Erst dann kann die Regierung zeigen, dass sie das Ausmaß des Problems erkannt hat und so auf Hilfe internationaler Verbündeter hoffen.

Bürgerwehr in einer Geisterstadt

Ein zweites Mal verlasse ich Maroua, um in den nördlichen Distrikt Mayo Sava zu fahren. Dieses Mal werde ich von Soldaten des „Bataillon d’intervention rapide“ (BIR / Schnelles Einsatzkommando) abgeholt. Von den schätzungsweise 8000 Soldaten im Hohen Norden gehören 2400 dieser gut ausgebildeten und ausgerüsteten Eliteeinheit an. Sie bringen mich an den Ort, der zum Kernpunkt und Symbol dieses Krieges geworden ist: Amchidé.

Was wir zu sehen bekommen, ist eine Geisterstadt. Früher lebten hier 30 000 Menschen; in drei heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und Boko Haram von Ende 2014 bis Anfang 2015 wurde Amchidé fast völlig zerstört. Fast die gesamte Bevölkerung floh in dieser Zeit. Nur ein Zehntel der früheren Bewohner kehrte zurück. Geschäfte gibt es nicht mehr, denn es gelangen keine Waren mehr nach Amchidé. Die meisten Rückkehrer sind Männer. Etwa 40 von ihnen haben sich zu einer Bürgerwehr zusammengeschlossen. Das ist kein neues Phänomen. In vielen Städten und Dörfern gerade dieser Region haben Zivilisten Selbstschutzorganisationen aufgebaut, die versuchen, die Bevölkerung vor den vor allem nachts stattfindenden Angriffen Boko Harams zu schützen.  

Die Regierung bekämpft diese Bürgerwehren nicht, im Gegenteil. Man hält sie für wichtig im Kampf gegen den dschihadistischen Terror. Deshalb hat man sie mit Gewehren, Taschenlampen und Nachtsichtgeräten ausgestattet und deshalb arbeitet man eng mit Dorfoberhäuptern zusammen, die geeignete Männer auswählen. In Amchidé, Limani, Kerawa und Tolkomari lieferten sie sich kleinere Scharmützel mit den Dschihadisten. In manchen Fällen ist es ihnen gelungen, Angriffe durch Boko Haram abzuwehren, auch unter eigenen Verlusten. Oft aber sind sie diejenigen, die Fremde identifizieren, die sie für potenzielle Selbstmordattentäter halten.

Unproblematisch sind die Bürgerwehren aber ganz und gar nicht. In manchen Fällen denunzierten Mitglieder von Bürgerwehren Dorfbewohner als Boko-Haram-Mitglieder, um private Rechnungen zu begleichen. Einige wurden von der Armee festgenommen, weil sie Informationen an Boko Haram weitergegeben haben sollen. Der ersten von der BIR eingesetzten Selbstschutzgruppe in Amchidé gehörten ausschließlich Christen an, die dann die lokale muslimische Mehrheit schikanierten und ihr Geld abpressten. Erst nach Beschwerden löste die BIR diese Bürgerwehr auf und gründete eine neue – mit christlichen und muslimischen Mitgliedern. 

Der letzte Teil meiner Reise führt mich nach Kousseri in der nördlichsten Spitze des Landes, die im Osten per Brücke über den Fluss Chari direkt mit Tschads Hauptstadt N’Djamena verknüpft ist und im Westen an Nigeria angrenzt. In den vergangenen zwei Jahren wurde Kousseri von Binnenvertriebenen aus Kamerun und Flüchtlingen aus dem Tschad überflutet; die Bevölkerung wuchs von 200 000 auf 280 000 an. Viele von ihnen stammen aus ­Fotokol, einer Stadt, die 100 Kilometer entfernt an der nigerianischen Grenze liegt und zwischen Mai 2014 und März 2015 mehrfach von Boko Haram angegriffen wurde. Während der schwersten Auseinandersetzungen zwischen etwa 1000 Boko-Haram-Kämpfern und kamerunischen BIR-Truppen sowie Soldaten aus dem Tschad im Februar 2015 sollen Schätzungen zufolge bis zu 400 Zivilisten getötet worden sein.

Für die Vertriebenen, die in Kousseri Zuflucht gesucht haben, gibt es nur begrenzt Unterstützung von Hilfsorganisationen wie dem World Food Programme, aber keinerlei staatliche Hilfe. Sie müssen sich selbst eine Unterkunft suchen oder bei Freunden und Bekannten bleiben. Arbeitsmöglichkeiten sind kaum vorhanden, denn der florierende Handel in der einstmals wirtschaftlich so wichtigen Stadt ist fast zum Erliegen gekommen, nachdem die nigerianische Grenze wegen der unsicheren Lage geschlossen wurde. Zehntausende Händler und Geschäftsinhaber verloren ihre Lebensgrundlage. Nach Fotokol aber können die Flüchtlinge auch nicht zurück. „Wir wurden aus unserem Dorf gejagt, unser Haus wurde niedergebrannt“, sagt Aya, die in Fotokol einst einen großen Laden besaß. „Wir müssen unser Leben hier in Kousseri einrichten.“ 

Militärische Maßnahmen allein reichen nicht

Einigen Erfolgen zum Trotz ist der militärische Kampf gegen Boko Haram noch lange nicht gewonnen. Und ohne Schatten sind auch diese Erfolge nicht: Dem Militär werden Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Folter, unrechtmäßige Tötungen und Zwangsverschleppungen vorgeworfen. Natürlich weist das Militär solche Vorwürfe zurück. „Kameruns Armee ist einer Republik unterstellt und agiert professionell“, insistiert ein Sprecher des Verteidigungsministeriums auf meine Nachfrage. „Wir untersuchen systematisch alle Menschenrechtsverletzungen und verhängen Strafen. Vor einigen Monaten wurden vier Soldaten wegen schlimmer Verstöße gegen den militärischen Ehrenkodex entlassen.“  

Auch wenn man dieser Aussage nicht so ohne Weiteres Glauben schenken darf, gibt es doch einige Fortschritte. Gegen Offiziere und Soldaten, die in Extrême Nord im Einsatz waren, wurden Disziplinarmaßnahmen verhängt, auch sind einige Ermittlungsverfahren in Gang. Strafmaßnahmen des Verteidigungsministeriums allein reichen aber nicht aus. Weder wurden finanzielle Entschädigungen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geleistet, noch hat sich das Militär offiziell entschuldigt. Wichtig wäre es, solche Übergriffe konsequenter zu ahnden, die Strafen öffentlich zu machen und Maßnahmen in Gang zu setzen, die Vertrauen schaffen können. Fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen gefährden die Erfolge bei der Bekämpfung von Boko Haram, da sich Teile der Bevölkerung radikalisieren und auf die Seite der Rebellen schlagen könnten. Westliche Länder könnten ihre Unterstützung für die kamerunische Armee einstellen – wie in Nigeria, als es dort massive Menschenrechtsverletzungen durch die nigerianische Armee gab.

Im Kampf gegen Boko Haram reichen militärische Maßnahmen allein nicht aus. Kamerun, Nigeria und Tschad müssen sich auf einen umfassenderen Ansatz verständigen, wenn sie die Entstehung immer neuer dschihadistischer Gruppen verhindern wollen. Nicht wenige meiner Geprächspartner im Verteidigungs- und Außenministrium Kameruns gestehen ein, dass kein dauerhafter Sieg gegen Boko Haram ohne gleichzeitige Entwicklungsstrategie der Region des Extrême Nord möglich ist. Um im nächsten Satz zu betonen, dass es „unsere Priorität ist, Boko Haram militärisch zu besiegen“.

Boko Haram ist heute deutlich schwächer als 2014. Trotzdem darf die Regierung nicht länger zögern, der Bevölkerung zu beweisen, dass sie sich um die Bedürfnisse der Menschen kümmert und versucht, ihnen neue Hoffnung für die Zukunft zu geben. 

Hans De Marie Heungoup ist Analyst der Crisis Group und arbeitet unter anderem zu Boko Haram und Kamerun.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 36-43

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