Arabischer Frühling, israelischer Sommer
Israels Medien über Chancen und Gefahren für den Frieden in Nahost
Seit dem Ausbruch des arabischen Frühlings hat sich die politische Lage Israels zugespitzt. Der Zusammenbruch des Mubarak-Regimes und die Unsicherheit über die Zukunft des Friedensvertrags mit Ägypten verstärkt den Eindruck einer gefühlten Belagerung des Landes. Trotz aller Empathie mit den nach Freiheit strebenden jungen Menschen auf den arabischen Straßen blickt Israel mit Sorge in die unmittelbare Nachbarschaft.
Als deutlich wurde, dass Palästinenser-Präsident Machmud Abbas ernst machen würde mit seinem Vorhaben, von den Vereinten Nationen die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu fordern, sprach Verteidigungsminister Ehud Barak von einem „politischen Tsunami“, der die Sicherheit Israels gefährden und seine internationale Isolierung vorantreiben könne. Ilan Baruch, ehemaliger Botschafter Israels in Südafrika, beschrieb die fortschreitende Isolierung Ende August in der Zeitung Yedioth Ahronot (30.8.) als eine Art Krieg: „In dreifacher Weise ist dieser Krieg anders als alle vorherigen: Das Timing ist bekannt, er ist nicht gewaltsam, und er richtet sich nicht gegen die Bevölkerung, sondern gegen die Regierung. Das Ergebnis ist offensichtlich: Man zieht die diplomatische Schlinge um Israels Hals weiter zu und untergräbt das Fundament der Mitgliedschaft des Landes in der Familie der Nationen.“
Ungenutzte Gelegenheiten
Keine Zeit für Stillstand, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Januar auf der Jahreskonferenz des israelischen Institute for National Security Studies (INSS) erklärt. Und so fordern Kommentatoren aus dem Mitte-Links-Spektrum die Regierung seit Beginn des Jahres dazu auf, auf die Veränderungen in der Region mit konkreten Schritten in Richtung Verhandlungen zu reagieren.
Ehemalige Militärangehörige, Intellektuelle und Geschäftsleute, darunter der ehemalige Stabschef des israelischen Militärs, Amnon Lipkin-Shahak, der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, und der Sohn des ermordeten Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, Yuval Rabin, riefen im Frühjahr die „israelische Friedensinitiative“ als Antwort auf die arabische Friedensinitiative ins Leben. Mit wenig Erfolg, wie General a. D. Shlomo Brom und der frühere Botschafter Shimon Stein in einer INSS-Publikation (26.10.) feststellten: Israels Antwort sei überwiegend passiv und defensiv gewesen. Die Regierung habe sich nicht bemüht, Chancen für Angebote zu sondieren, die sich positiv auf Israels Lage auswirken könnten. Brom und Stein sind jedoch überzeugt, dass diese weiterhin existieren.
Die skeptische Haltung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, angesichts der Ungewissheiten beim Ausgang der Revolutionen keine allzu großen Zugeständnisse an die arabische Seite machen zu wollen, schien sich zumindest mit Blick auf Ägypten bald zu bestätigen: durch die Sabotageakte gegen die Gas-Pipeline über den Sinai nach Israel, durch den Terrorangriff auf israelische Soldaten nahe Eilat im August, durch die eskalierenden Proteste vor der israelischen Botschaft in Kairo. Immerhin war die ägyptische Übergangsregierung um Deeskalation bemüht und spielte zuletzt eine tragende Rolle bei der Freilassung des von der Hamas im Jahr 2006 entführten Soldaten Gilad Shalit.
Und dann waren da noch die israelischen Bemühungen, die UN-Sicherheitsratsresolution zur Anerkennung eines palästinensischen Staates durch eine Diplomatiekampagne in befreundeten Staaten zu verhindern. Versuche des Nahost-Quartetts, im Vorfeld der UN-Generalversammlung direkte -Friedensverhandlungen einzuleiten, scheiterten. Die israelische Regierung ließ sich nicht auf die Vorbedingung ein, den Siedlungsbau einzufrieren, und die palästinensische Seite wollte die Forderung nach Anerkennung Israels als „jüdischen Staat“ nicht akzeptieren. Der völlige Stillstand belastete auch das Verhältnis Israels zu den Vereinigten Staaten. Ministerpräsident Netanjahu und US-Präsident Barack Obama lieferten sich im Mai vor dem amerikanischen Kongress einen Schlagabtausch, der deutlich machte, wie weit beide Regierungen derzeit voneinander entfernt sind.
Der Chefredakteur der Tageszeitung Haaretz, Aluf Benn, kritisierte Israels Position. Das Land sei isoliert, geschwächt und werde von der internationalen Gemeinschaft verabscheut. Amerika habe an Einfluss verloren, die Türkei unter Erdog˘an befinde sich mit ihrer kritischen Haltung gegenüber Israel auf einem -Höhenflug, das iranische Atomprogramm mache Fortschritte, und auch die zunehmende Emanzipation der arabischen Bevölkerung komme Israel nicht gerade zugute. Netanjahu habe das Zepter aus der Hand gegeben anstatt zu führen.
Selbst der als konservativ geltende ehemalige Chefredakteur der Jerusalem Post und Redakteur des englischsprachigen Online-Angebots der Tageszeitung Israel Hayom, Amir Mizroch, schrieb in seinem Blog amirmizroch.com (28.8.), dass die An-erken-- nung eines palästinensischen Staates nicht das Ende Israels bedeuten müsse. Israel müsse aufhören, „mit dem Schwert zu leben“ und anfangen, ein normales Leben zu führen.
Zusätzlich bestärkt wird das Gefühl der Belagerung und Isolierung Israels durch die neue Eiszeit im Verhältnis zur Türkei. So sorgte Anfang September die Veröffentlichung des von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen Berichts zum Fall „Mavi Marmara“ für einen Eklat – bei der Erstürmung des tür-kischen Schiffes durch israelische Sicherheitskräfte waren Ende Mai 2010 neun türkische Aktivisten getötet worden. Die Empfehlungen des Berichts, ein Ausdruck des Bedauerns und Kompensationszahlungen seitens Israels, wurden von der Türkei abgelehnt. Israel weigerte sich weiterhin, eine fömliche Entschuldigung auszusprechen. Der israelische Botschafter wurde ausgewiesen, Handelsbeziehungen wurden eingeschränkt und im östlichen Mittelmeer erhöhte die Türkei den Druck durch die Entsendung von Militärschiffen.
Während Kommentatoren von Jerusalem Post und Yedioth Ahronot betonten, Israel dürfe keine Schwäche zeigen, empfahl der Türkei-Experte von Haaretz Zvi Bar’el bereits Mitte August (18.8.): „Eine Entschuldigung gegenüber der Türkei ist keine Kapitulation. Es ist das Begleichen einer Rechnung zugunsten der Wieder-belebung einer wichtigen Partnerschaft.“
Folgenreiche Proteste
In diese Lage platzten die sozialen Proteste gegen zu hohe Lebenshaltungskosten und Mietwucher, die im Sommer mit einigen Zelten auf Tel Avivs Rothschild-Boulevard begannen und in Windeseile das gesamte Land erfassten. Die Proteste, die eine enorme öffentliche Zustimmung von über 80 Prozent fanden, wurden begleitet von Massendemonstrationen, deren vorläufiger Höhepunkt am 3. September im ganzen Land knapp 500 000, allein in Tel Aviv rund 350 000 Menschen auf die Straßen brachte. Und Netanjahu reagierte. Unter der Führung des Wirtschaftswissenschaftlers Manuel Trachtenberg setzte er eine Kommission ein, die im September ihre ersten Vorschläge unterbreitete. Längst hatte dieser israelische Sommer jedoch größere Fragen aufgeworfen. Würden die Proteste das politische Gefüge nachhaltig verändern? Würden sie sich auf die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Links und Rechts wie auch zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung auswirken? Könnten die Proteste gar Bewegung in den Nahost-Verhandlungsprozess bringen?
Der Psychologieprofessor, Blogger und Buchautor Carlo Strenger äußerte sich optimistisch, dass sich die Proteste langfristig auch auf die politische Kultur in Israel auswirken würden. In seiner regelmäßigen Kolumne für Haaretz schrieb er Anfang September (4.9.): „Ich hoffe, dass der Geist und die Würde dieser Proteste den Ausgangspunkt dafür bilden, dass sich eine neue politische Generation in Israel etabliert.“ Dahlia Scheindlin, Blog-gerin des Online-Nachrichtenportals 972mag.com, betrachtet die sozialen Proteste jedoch auch mit einem kritischen Auge. Sie moniert das Schweigen der Bewegung zur Besatzung und die ihrer Meinung nach mangelnde Einbeziehung arabischer Israelis in die Proteste der überwiegend jüdischen Mittelklasse (1.8.). Auch ihr palästinensischer Kollege Aziz Abu Sarah schreibt: „Mich erstaunt, dass viele Israelis nicht in der Lage sind, eine Verbindung zwischen den innenpolitischen Problemen Israels und der Besatzung herzustellen“ (ebd., 24.7.).
Verständnis für die Taktik der Protestbewegung äußert, ebenfalls auf 972mag.com, Noam Sheizaf. Jahrelang habe die israelische Friedens- und Menschenrechtsbewegung lediglich wenige tausend Menschen mobilisieren können. Daher habe man jetzt erst einmal einen möglichst weiten Schirm aufspannen wollen und politisch heikle Themen vermieden: „Dies ist eine israelische Massenbewegung. Sie wird zwangsläufig viele problematische Aspekte der israelischen Politik aufgreifen, zum Beispiel die Sichtweise, wonach der Golan und auch bestimmte Siedlungen wie etwa Ariel im Westjordanland israelisches Territorium seien. Doch das Wichtigste ist nicht, wo die Protestbewegung beginnt, sondern wohin sie führen wird“ (30.8.).
In den Herbst blickt Israel dennoch mit Spannung. Die politischen Entwicklungen in Ägypten und die Sicherheitslage auf dem Sinai bleiben unberechenbar. Die Niederschlagung der Proteste in Syrien könnte sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten, und ein Ende der Krise im Verhältnis zur Türkei scheint nicht in Sicht. Je näher eine Entscheidung der Vereinten Nationen über die Aufnahme Palästinas rückt, desto fragiler scheint auch das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern zu werden. Man fürchtet den Ausbruch neuer Gewalt, im schlimmsten Fall eine dritte Intifada. Bereits seit dem Sommer rücken auch Übergriffe radikaler Siedler verstärkt ins Blickfeld. Diese hatten im Vorfeld Racheakte für den Fall angekündigt, dass die Palästinenser in Sachen Anerkennung ernst machen würden.
Auch wird sich zeigen müssen, inwiefern die Entlassung von mehr als 1000 palästinensischen Gefangenen zugunsten der Befreiung von Gilad Shalit die israelische Gesellschaft einer Prüfung unterziehen wird. Ein großer Teil der Gefangenen war aktiv am Konflikt und an Terrorangriffen beteiligt. Viele Familien werden nun an Anschläge und an die Trauer um den Verlust von Angehörigen erinnert. Gershon Baskin, Kommentator der Jerusalem Post und eine zentrale Figur bei der Aushandlung des Abkommens zwischen Israel und der Hamas, glaubt fest daran, dass dies eine neue Chance für Bewegung im Verhandlungsprozess eröffnen könne. Gegner des Deals wiederum befürchten, dass damit die Strategie des Terrors belohnt wird.
MARC BERTHOLD leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 134-137