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01. Mai 2016

Annäherung oder Abschottung

Wie sehen Deutsche und Russen die Rolle Moskaus in Europa?

Es bleibt schwierig: In absehbarer Zeit kann der große Vertrauensverlust nicht überwunden werden, der zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn herrscht. Trotz des generellen Wunsches nach Wiederannäherung gibt es auf politischer Ebene und im Werteverständnis erhebliche Differenzen, die sich nicht wegdiskutieren lassen.

Die Beziehungen zwischen Russland und den meisten seiner europäischen Nachbarn stecken in einer tiefen Krise. Beim politischen Dialog zwischen der EU und Russland gibt es kaum Fortschritte. Die Wirtschaftssanktionen, die von beiden Seiten im Zuge des Konflikts um die Ukraine verhängt wurden, bestehen fort. Auf politischer Ebene herrscht ein tiefgreifender gegenseitiger Vertrauensverlust. Doch wie ist es um die Beziehungen der Menschen in Russland und seinen europäischen Nachbarländern bestellt? Wie beantworten sie die Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa? Wie stehen sie zu einer möglichen Wiederannäherung zwischen Russland und der Europäischen Union? Und wo liegen ihrer Meinung nach die größten Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Bereich der Werteordnung?

Antworten auf diese Fragen lassen sich aus den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage ableiten, die die Körber-Stiftung von TNS Infratest Politikforschung zeitgleich in Russland und Deutschland durchführen ließ. Sie geben interessante Einblicke in die Gegenwart und Zukunft der Beziehungen zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn aus Sicht der russischen und der deutschen Bevölkerung.

Russland als Teil Europas? Eher nicht, sagen die Jüngeren

In der Frage, ob Russland zu Europa gehöre, sind die Bevölkerungen beider Länder zutiefst gespalten. 50 Prozent der Deutschen und 51 Prozent der Russen sehen Russland inzwischen nicht mehr als Teil Europas. Die niedrigste ­Zustimmungsrate gibt es dazu in beiden Ländern unter den 30- bis 44-Jährigen. Geboren zwischen Anfang der siebziger und Mitte der achtziger Jahre, wurden sie in der Zeit von Perestroika und Glasnost beziehungsweise in der Jelzin-Ära der neunziger Jahre sozialisiert. Sie erlebten die ausgehende Sowjet­union und die Russische Föderation als einen ihrer Nachfolgestaaten in Zeiten des Umbruchs, Aufbruchs und im Zeichen der Krise. Von dieser Generation sind heute gerade einmal 31 Prozent in Deutschland und 39 Prozent in Russland davon überzeugt, dass Russland ein Teil Europas sei.

Insgesamt ist in Russland die Zahl derjenigen, die die Zugehörigkeit ihres Heimatlands zu Europa ablehnen, stark gestiegen. Dies zeigt eine vergleich­bare Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2008. Damals waren nur etwas mehr als ein Drittel der Russen der Meinung, Russland gehöre nicht zu Europa. Die Tendenz zur Abschottung steigt also.

Gemeinsame Werte zwischen Russland und Europa? Nur in Teilen

Unterschiedliche Werte werden sowohl in Deutschland als auch in Russland am häufigsten als Gründe dafür angeführt, warum Russland alles in allem nicht zu Europa gehöre. In beiden Ländern gibt es grundsätzlich eine große Einigkeit darüber, welche Werte allgemein mit Europa verbunden werden: Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte zählen sowohl für die deutschen als auch für die russischen Befragten dazu. Im Hinblick darauf, wie diese Werte in den jeweiligen Gesellschaften verwirklicht werden sollten, werden aber erhebliche Unterschiede deutlich. Während in Russland mehr als drei Viertel der Befragten der Meinung sind, die Medien sollten die Arbeit der Regierung unterstützen, sieht das in Deutschland ein gutes Drittel der Befragten so.

Deutliche Unterschiede in den Mehrheitsmeinungen gibt es auch bei der Beurteilung von Streiks und Demonstrationen sowie in der Haltung gegenüber Homosexualität: Mehr als die Hälfte der Russen spricht sich dafür aus, Streiks und Demonstrationen zu verbieten, weil sie die öffentliche Ordnung gefährden; in Deutschland teilen nur 11 Prozent diese Meinung. Während in Deutschland jeder Fünfte der Meinung ist, Partnerschaft und Liebe dürfe es nur zwischen Mann und Frau geben, bejahen das in Russland 94 Prozent der Befragten. Es ist nicht auszuschließen, dass sich in Russland zumindest ein kleinerer Teil der Befragten bei als heikel empfundenen Fragen nach sexueller Orientierung, Werten und Demokratie dem offiziell vorherrschenden Meinungsbild angeschlossen hat. Dennoch zeigen die Umfrageergebnisse, wie weit Russen und ihre europäischen Nachbarn derzeit von einer Wertegemeinschaft entfernt sind.

Unterschiedliche Sichtweisen auf die Wendejahre

Einen Paradigmenwechsel fördert die Umfrage in der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart der Beziehungen zwischen Russland und dem übrigen Europa zutage. Die Zeitenwende zwischen 1989 und 1991 spielt im historischen Bewusstsein in Deutschland und Russland eine zentrale Rolle und hat in beiden Ländern den Zweiten Weltkrieg als das bis heute am meisten prägende historische Ereignis abgelöst.

Allerdings weichen die Sichtweisen auf die Wendejahre von­einander ab: Für 38 Prozent der Deutschen stehen dabei die Wiedervereinigung und der Fall des Eisernen Vorhangs an erster Stelle, bei 53 Prozent der Russen rangiert der Zusammenbruch der Sowjetunion auf Platz eins. Der Zweite Weltkrieg hat eher eine Funktion als gemeinsamer europäischer Erinnerungsort: Rund zwei Drittel der Deutschen und mehr als drei Viertel der Russen wünschen sich gemeinsame Feierlichkeiten Russlands und der restlichen europäischen Länder zum Gedenken an das Kriegsende 1945.

Eine Rückkehr zur Zusammenarbeit ist gewünscht …

In der Analyse der jüngsten Vergangenheit herrscht bei den Befragten in beiden Ländern ebenfalls Einigkeit. Als Grund für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der EU wird die Auseinandersetzung um die Krim und die Ostukraine an erster Stelle, die EU- bzw. die NATO-­Osterweiterung an zweiter Stelle genannt. In der Frage, ob die Ukraine sich weiter an die Europäische Union annähern sollte, offenbaren sich allerdings Differenzen: Während sich 60 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür aussprechen, lehnen knapp zwei Drittel der Russen eine solche Annäherung ab. Gegensätzlich fällt in beiden Ländern auch das Urteil über die Politik der EU gegenüber Russland bzw. Russlands gegenüber der EU aus: Mehr als die Hälfte der Deutschen hält das Vorgehen der Europäischen Union gegenüber Russland für sehr oder eher angemessen; in Russland stimmen sogar 81 Prozent der Bevölkerung der Politik ihrer Regierung gegenüber der EU zu.

Dennoch zeigt die Umfrage eindeutig, dass die Beziehungen zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn nach Meinung der Bevölkerung in Deutschland und Russland nicht von der Ukraine-Frage abhängig gemacht werden sollten. 69 Prozent der Deutschen und 79 Prozent der Russen sprechen sich dafür aus, die gegenseitigen Wirtschaftssanktionen, die 2014 erst von der EU und dann von Russland verhängt wurden, aufzuheben.

Eindeutig ist das Meinungsbild auch mit Blick auf die politische Wieder­annäherung zwischen der EU und Russland: 84 Prozent der Russen und sogar 95 Prozent der Deutschen ist es sehr wichtig oder wichtig, dass sich beide Parteien in den nächsten Jahren politisch wieder näher kommen.

… aber wie sie aussehen soll, ist derzeit unklar

Weniger deutlich sind die Übereinstimmungen, wenn es um die konkreten Bereiche einer möglichen Zusammenarbeit geht. In beiden Ländern werden die Ergebnisse von den tagespolitischen Ereignissen zum Zeitpunkt der Umfrage bestimmt. In Deutschland sprechen sich – Anfang März, also noch unter dem Eindruck der hohen Zahl syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich auf dem Weg in die EU oder bereits dort befanden – 49 Prozent für eine Zusammen­arbeit zwischen der Europäischen Union und Russland bei der Bekämpfung des Syrien-Konflikts aus. Auf russischer Seite ist nur 9 Prozent der Befragten dieses Thema wichtig.

Stattdessen steht in Russland die Terrorbekämpfung bei 35 Prozent der Befragten an erster Stelle, wohingegen nur 13 Prozent der Deutschen glauben, dass in diesem Bereich eine Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland vordringlich sei. Diese Differenzen zeigen, dass zumindest aus Sicht der Bevölkerungen beider Länder noch erheblicher politischer Diskussions- und ­Abstimmungsbedarf darüber besteht, welches die Themen für die in Zukunft gewünschte intensivere Zusammenarbeit zwischen Russland und seinen EU-Nachbarn sein könnten.

Was tun?

Umfragen sind immer nur Momentaufnahmen. Dennoch verdeutlichen die Ergebnisse der hier skizzierten „Tiefenbohrung“ in Russland und Deutschland, wie schwierig es in absehbarer Zeit bleiben wird, die große Entfremdung und den Vertrauensverlust zu überwinden, der zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn herrscht. Trotz des generellen Wunsches nach Wiederannäherung gibt es auf politischer Ebene und im Werteverständnis erhebliche Differenzen, die sich nicht leugnen oder wegdiskutieren lassen.

Um die Tendenzen zur Abschottung nicht noch weiter zu verstärken, ist es aber wichtig, dass sich Russland und seine europäischen Nachbarn offen und kritisch mit ihren Differenzen auseinandersetzen. Mit Blick auf die kommenden Jahre ist es eine zentrale Aufgabe, den politischen Dialog zwischen Russland und seinen europäischen Partnern wiederzubeleben, den Austausch auf gesellschaftlicher Ebene zu intensivieren und diejenigen zu identifizieren und zu stärken, die bereit sind, sich als Brückenbauer zu engagieren.

Gabriele Woidelko leitet bei der ­Körber-Stiftung das Fokus­thema „Russland in Europa“. Download des Tabellenbands zur Umfrage: www.koerber-stiftung.de/umfrage-russland-in-europa.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2016, S. 26-29

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