Buchkritik

24. Juni 2024

Anleitung, den Golf zu verstehen

Tradition und Wandel, Reform und Repression, Peak Oil und Klimagipfel: Die Staaten am arabischen Golf sind voller Widersprüche. Dass Deutschland sich im Umgang mit der Region schwer tut, hat viel mit mangelndem Wissen zu tun. Vier Lektüreempfehlungen.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Kriege und Menschenrechtsverletzungen auf der einen Seite, sportliche Großereignisse und Konferenzen wie der Weltklimagipfel auf der anderen: Die „Petrostaaten“ am Golf sind in den vergangenen Jahren auf sehr unterschiedliche Art und Weise in die Schlagzeilen geraten. Auch Menschen, die bisher wenig Berührungspunkte mit der Region hatten, haben erkannt, dass die Golfstaaten mehr sind als anachronistisch anmutende Monarchien, glo­bale Bankautomaten oder bloße ­Energielieferanten. 


Blick hinter die Fassaden

Doch was steckt hinter den, je nach Geschmack, glänzenden oder trügerischen Fassaden? Die Motive und Bestrebungen der Herrscher am Golf bleiben dem Betrachter oft verborgen oder werden auf Schlagworte wie Reform-Maskerade, Sports-, 
Arts- oder Greenwashing reduziert. Hinzu kommt, dass tiefergehende analytische Untersuchungen angesichts der sich rasant wandelnden Dynamiken in der Region ausgesprochen schnell veralten. 

Das gilt etwa für die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Ländern wie Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die erst seit wenigen Jahren bestehen, aber seit dem 7. Oktober 2023, den Angriffen der Hamas und dem sich anschließenden Krieg im Gazastreifen schon wieder in einem neuen Licht betrachtet werden müssen.


Machtverlust und neue Player

Im deutschsprachigen Raum findet eine solche analytische Auseinandersetzung bisher nur in begrenztem Rahmen statt. Der Politikwissenschaftler Sebastian Sons schließt diese Lücke mit seinem neuen Buch über die Arabische Halbinsel. Sons und eine Reihe englischsprachiger Autoren beschreiben in ihren Neuerscheinungen den alle Lebensbereiche umspannenden Transformationsprozess in den sechs Golfmonarchien Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. 

Im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten haben die ­Staaten einen dynamischen Wandel eingeleitet, der innen- wie außenpolitisch zu signifikanten Veränderungen führt, ohne mit dem historisch-kulturellen Erbe vollständig zu brechen. 

Vor allem der sogenannte Arabische Frühling hat die Region Westasien und Nordafrika grundlegend verändert. Ehemalige Regionalmächte wie Ägypten in Nordafrika und Syrien in der Levante, die lange Zeit eine entscheidende politische Rolle in der Region gespielt hatten, haben an Macht eingebüßt. Der Irak, ein weiterer wichtiger Akteur des vergangenen Jahrhunderts, brach als Folge der US-geführten Invasion 2003 und des gescheiterten Nachkriegsmanagements zusammen. 

All diese Entwicklungen boten den Golfstaaten eine große Chance. Kleinere Länder wie Katar waren bislang eher für ihre Vermittlerrolle in internationalen Konflikten bekannt oder glänzten wie die Vereinigten Arabischen Emirate mit ihrem „Dubai-Modell“: pulsierende Metropolen, in denen das Unmögliche möglich schien. Nun schickten sich auch diese Länder in wachsendem Maße an, ihren Einfluss und ihre Kapazitäten zu nutzen, um die eigenen Visionen für die Region zu verwirklichen. 

David B. Roberts zeigt in „Security Politics in the Gulf Monarchies“ auf, dass die arabischen Golfstaaten die Umwälzungen in der Region einerseits als große Gefahr für ihre Sicherheit, andererseits als Chance für mehr Einfluss betrachten. Entlang verschiedener Sicherheitsdimensionen von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Militär und Umwelt zeichnet der Autor ein umfassendes Bild, das über klassische Darstellungen von „harter“ Sicherheit hinausgeht. 

Gestützt auf eine Vielzahl arabischer Quellen macht Roberts deutlich, dass die Golfstaaten an einem wichtigen Wendepunkt stehen. Ihre zukünftige Rolle hänge von weit mehr ab als nur von einer wirtschaftlichen Transformation weg von fossiler Energie. Roberts zufolge ist die Ölindustrie die „­Ursuppe“, aus der „ein Paradigma von Bedingungen, Rollen, Erwartungen, Normen, Beziehungen und Strukturen“ entstanden sei. Auf dieser Grundlage argumentiert der Autor, dass sich selbst im Rahmen sozioökonomischer Veränderungsprozesse und des Klimawandels die „DNA der ­Monarchien“ nicht vollständig wandeln werde.


Größe ist nicht alles

Die Einflussnahme von kleineren Ländern oder „Mikrostaaten“ wie Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten steht im Fokus der stark theoretisch geprägten Arbeit von Máté Szalai. Dabei widerspricht der Autor der weitverbreiteten Meinung, dass kleine Staaten lediglich „Schlachtfelder für Großmächte ohne angemessene Handlungsfähigkeit“ seien und zeichnet auf einer fundierten theoretischen Basis nach, wie die kleineren Golfstaaten, insbesondere Katar und die Emirate, solche Vorurteile widerlegen und zu relevanten globalen Playern aufsteigen. Seiner Ansicht nach ist das alles eher eine Frage des Selbstverständnisses als der physischen Größe.

Obwohl Szalais Buch nicht die gleiche empirische Dichte und Tiefe wie andere Neuerscheinungen aufweist, bietet es gerade für ein interessiertes Wissenschaftspublikum einen Mehrwert, indem es theoretische Überlegungen zum Akteursverhalten in den Internationalen Beziehungen um eine weitere Ebene bereichert.


Im McKinsey-Ministerium

Die aktuellen Entwicklungen in den Golfmonarchien sind geprägt von mächtigen Individuen. Dazu zählen die neuen und vergleichsweise jungen Herrscher in Ländern wie Katar, Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten; Herrscher, die den Kurs ihrer Nationen maßgeblich geändert haben. Wie aber Kristian C. Ulrichsen in seinem Buch zeigt, sind diese Figuren von einem engmaschigen Netz loyaler Unterstützer umgeben, die sich sowohl im militärischen Apparat als auch in der Politik, der Wirtschaft und der breiten Bevölkerung finden. 

Eine wichtige Rolle spielen dem Autor zufolge auch Berater aus dem In- und Ausland, die einiges dazu beitragen, die Grundlagen für die neue Politik zu entwickeln und zu gestalten. So stehen hinter sämtlichen großen Wirtschaftsprogrammen der Golfstaaten, die offiziell gern als Visionen bezeichnet werden, führende Beratungsunternehmen der Welt. So trägt etwa das saudische Ministerium für Wirtschaft und Entwicklung den Beinamen „McKinsey-Ministerium“.


Enge Verflechtung

Eine weitere Besonderheit des Regierens am Golf ist die enge Verflechtung zwischen royalen Herrschaftseliten und staatlichen Strukturen. Zudem haben in den vergangenen Jahren zahlreiche einflussreiche Technokraten Schlüsselpositionen in der Regierung eingenommen. Viele dieser Entscheidungsträger üben zudem Doppelfunktionen aus und übernehmen eine Vielzahl von Rollen, die mitunter einen erheblichen Spagat erfordern. 

Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet Sultan al-Jaber aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er ist Vorsitzender des staatlichen Ölkonzerns ADNOC und gleichzeitig Leiter des nachhaltigen Stadtbauprojekts Masdar. Zuletzt war er auch noch Sonderbeauftragter für Klima­fragen und Präsident der Weltklimakonferenz 2023 in Dubai. Das Vertrauen auf wenige loyale Untergebene ermöglicht es den neuen Herrschern am Golf, weitreichende Entscheidungen schnell und umfassend umzusetzen, ohne an Macht einzubüßen. Denn wer in Ungnade fällt, ist immer ersetzbar. 

Das gilt für jede Form von Opposition, wie Ulrichsen und Sons in ihren Büchern beschreiben. Während die gesellschaftliche Transformation am Golf auf breite Zustimmung stößt, werden kritische Stimmen ausgeschaltet und der repressive Überwachungsstaat wird weiter ausgebaut. 

Der Reformkurs, der marginalisierten Gruppen wie ausländischen Migranten oder Frauen mehr politische Rechte und Freiheiten einräumt, sollte daher nicht als Teil einer Entwicklung zu mehr Demokratie verstanden werden. Mit einem Gesellschaftsverständnis, das Sebastian Sons auf die Formel „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ bringt, wird der immer enger werdende Raum für Menschenrechte quasi als Aspekt einer breit inszenierten Identitätspolitik instrumentalisiert. Ein Freund-Feind-Schema im Sinne einer „Rally around the Flag“ signalisiert noch mehr Unterstützung und Solidarität für die Herrschaftseliten.


Verpasste Chancen

Sebastian Sons bietet mit seinen Ausführungen eine bereichernde Perspektive, die über die bloße Beschreibung der vielschichtigen Phänomene am Golf hinausgeht. Sein Buch profitiert dabei besonders von seinen Kontakten, Netzwerken und seiner langjährigen Erfahrung als Politikberater. 

Sons kritisiert den bisherigen Umgang Deutschlands mit den arabischen Golfstaaten und sieht darin eine Vielzahl verpasster Chancen. Für die Migrations- und Entwicklungspolitik, für Kultur und Sport, für Klima­diplomatie und Energiepolitik sowie für Nahost-Regionalpolitik und -mediation entwickelt er konkrete Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Partnerschaft zwischen Deutschland und den Golfstaaten.


Deutsches Dilemma

Sons verweist dabei auf das seit einigen Jahren zu beobachtende Phänomen, dass die neuen Herrscher am Golf auch gegenüber ihren langjährigen Partnern immer offensiver auftreten. Mit einem großen Ego, der Gewissheit, über einen breiten Rückhalt zu verfügen, und einer internationalen Neuordnung, in der nicht mehr nur der „Westen“ das Sagen hat, wächst auch das Selbstbewusstsein am Golf. So war im Zusammenhang mit der Fußball-WM 2022 in Katar häufig von westlicher „Heuchelei“, „Pseudo-Moralisierung“ und „Doppelmoral“ die Rede. 

All das ist eine Herausforderung für die internationale Gemeinschaft, und es stellt gerade ein Land wie Deutschland vor ein Dilemma: Einerseits verfolgt man einen wertegeleiteten Anspruch, andererseits gilt es, einen pragmatischen Umgang mit schwierigen Partnern inmitten zahlreicher globaler Krisen zu finden. Und: Im Gegensatz zu Berlin haben Riad, Doha und Abu Dhabi bereits erkannt, dass Europa sie mehr braucht als umgekehrt. 

Doch würde es in die Irre führen, wenn man sechs Staaten als einen homogenen und kollektiv handelnden Akteur betrachtete. Wie die besprochenen Neuerscheinungen zeigen, handelt es sich um heterogene Länder mit sehr individuellen Rahmenbedingungen, die zwar häufig ähnliche Ansätze verfolgen, aber noch häufiger auf Kollisionskurs gegeneinander steuern. 

Insbesondere der Wirtschaftswettbewerb war stets ein prägendes Element in den Golfstaaten. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert David Roberts, wenn er darauf verweist, dass sich in der Region vier global agierende Fluggesellschaften und Flughäfen innerhalb einer Stunde Flugzeit voneinander entfernt befinden, es jedoch keine gemeinsame Zugstrecke gibt. 

Während dieser Wettbewerb im Allgemeinen als gesund angesehen wird, vermehren sich die Anzeichen für Spannungen, die – entgegen der Tradition einer stillen Diplomatie – offen ausgetragen werden. So zeigten die unterschiedlichen Allianzbildungen während des Arabischen Frühlings, die Verwerfungen zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten im Jemen-Krieg oder die von 2017 bis 2021 andauernde Blockade Katars die fragile innere Struktur des Golfkooperationsrats, der alles andere als ein monolithischer Block ist. 

Das Verständnis und die Sensibilität für diese komplexe Gemengelage sind in Deutschlands Politik und Gesellschaft noch ausbaufähig. Dass mittlerweile immer mehr dazu publiziert wird, ist eine ausgesprochen ermutigende Entwicklung. 


Ehrlichkeit und Empathie

Eine Strategie im Umgang mit unbequemen Partnern sollte, um noch einmal Sebastian Sons zu zitieren, auf drei Säulen basieren: Erwartungsmanagement, Ehrlichkeit und Empathie. Als Wissenschaftler, der regelmäßig zwischen Berlin und den Metropolen der Arabischen Halbinsel pendelt, präsentiert Sons einen klaren Handlungskatalog, der dazu beitragen könnte, die in den vergangenen Jahren aufgetretenen Spannungen zu überwinden. 

Es wäre zu wünschen, dass Sons’ Buch nicht nur von einem interessierten Publikum, sondern auch von deutschen Entscheidungsträgern wahrgenommen würde. Denn sein Fazit ist klar: Angesichts der komplexen globalen Herausforderungen, die gemeinsame Koordination und Kooperation erfordern, war Partnerschaft noch nie wichtiger. Doch zugleich scheint eine solche Kooperation immer weiter entfernt und der Weg zu einer wachsenden Entfremdung geebnet.

 

David B. Roberts: Security Politics in the Gulf Monarchies. Continuity Amid Change, New York City: Columbia University Press 2023, 445 Seiten, 34,73 €

Máté Szalai: The Foreign Policy of Smaller Gulf States Size, Power, and Regime Stability in the Middle East, London: Routledge 2023, 250 Seiten, 49,95 €

Kristian C. Ulrichsen: Centers of Power 
in the Arab Gulf States, London: Hurst 
Publishers 2023, 338 Seiten, 42,40 €

Sebastian Sons: Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss, Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2023, 328 Seiten, 24,00 €

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 124-127

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Themen und Regionen

Dr. Tobias Zumbrägel  arbeitet als Postdoc am Geographischen Institut Heidelberg. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei CARPO und am Exzellenzcluster Climate, Climatic Change and Society an der Universität Hamburg tätig. 2022 erschien sein Buch „Political Power and Environmental Sustainability in Gulf Monarchies“ (Palgrave).

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