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01. Sep 2019

„Angela Merkel hatte recht“

Ein Gespräch mit Gerald Knaus

„Wir schaffen das“, erklärte die Bundeskanzlerin 2015. Und in der Tat: Europas Probleme mit Flucht und Migration wären lösbar

IP: Herr Knaus, seit gut vier Jahren wird in Europa über Migration diskutiert, man spricht von einer anhaltenden Krise. Mit Recht?

Gerald Knaus: Solange Menschen im Mittelmeer ertrinken, gibt es eine humanitäre Krise, und so lange müssen wir darüber reden, wie wir sie beenden können. Gleichzeitig hat sich aber die Situation in vier Jahren grundlegend verändert. Damals landete in zwölf Monaten eine Million Menschen allein auf den griechischen Inseln. 2018 waren es 115 000, die irregulär über das Mittelmeer nach Spanien, Italien und Griechenland kamen. Und wenn wir insgesamt auf die vergangenen Jahrzehnte schauen, dann waren es nur wenige Menschen, die irregulär etwa aus Afrika nach Europa kamen, außer in Ausnahmejahren wie 2014 bis 2017. Doch der falsche Eindruck, in Afrika warteten Millionen darauf, in Boote zu steigen, und es würden immer mehr, hält sich und verzerrt die Wahrnehmung.

IP: Warum ist das Thema so beherrschend?

Knaus: Viele Regierungen und Parteien wirken gleichzeitig ratlos und heuchlerisch: Das ist eine toxische Mischung. Jede Seenotrettung führt zu einer neuen Krise. In Griechenland schaffen es Behörden nicht, ein paar Tausend Menschen auf Lesbos oder Samos menschenwürdig aufzunehmen. In Ungarn und Kroatien erklären Politiker offen, an ihren Grenzen EU-Recht auszusetzen. So festigt sich der Eindruck, nur durch Brutalität ließen sich Grenzen kon­trollieren. Davon profitieren Rechtspopulisten, in Europa Matteo Salvini, in den USA Donald Trump. Und solange die Europäische Union in Libyen auf Milizen setzt, die Folterlager unterhalten, kann sie nicht ernsthaft behaupten, eine Strategie zu haben, auch wenn die Zahlen der Ankommenden seit 2017 drastisch gefallen ist.

IP: Zumindest kann sie das nicht guten Gewissens behaupten …

Knaus: … genau. Es gibt auch moderate Politiker, die erklären, dass sich irreguläre Migration nicht kontrollieren lässt, dass der Migrationsdruck aus Afrika wachsen wird, ja, dass wohl bald Millionen Klimaflüchtlinge dazukommen werden. Das ist dann ein apokalyptisches Bild von Europa im Belagerungszustand. Fragt man, was denn zu tun wäre, kommen Floskeln. Damit aber hilft man nur Orbán, Salvini und Trump. Denn die haben klare Antworten: „Natürlich lässt sich Migration stoppen“, versichern sie, es fehlten nur die Entschlossenheit und die Bereitschaft, auch „hässliche Bilder“ in Kauf zu nehmen – und auf Menschenrechte und Konventionen nicht ganz so viel Wert zu legen.

IP: Matteo Salvini, Italiens ultrarechter Innenminister, lebt gut davon.

Knaus: Er ist der Großmeister in dieser Disziplin. Als Italiens Regierung sich 2014 noch rühmte, mit ihrer Marine in sechs Monaten hunderttausend Menschen von der Küste Libyens nach Italien gebracht zu haben, sprach nur Matteo Salvini von einer „Hilfe für Schlepper“. Er gewann damit 6 Prozent. Als dieselbe Koalition in Rom dann 2017 beschloss, wie zuvor schon Berlusconi, mit Libyen zu kooperieren, fiel zwar die Zahl der Ankommenden schnell, doch ebenso schnell sank die Glaubwürdigkeit der Regierung. 2018 eroberte Salvini dann 34 Prozent der Stimmen. Er versprach, Migration für immer zu stoppen, als der einzige ehrliche Mann mit Herz. So hat er im vergangenen Jahr mehrere hundert Menschen aus libyschen Flüchtlingslagern nach Italien geholt. Es sind nicht nur weniger Menschen gekommen, sondern auch weniger ertrunken als zuvor. Und dann ist da die Botschaft, private Seenotrettung sei eine Verschwörung scheinheiliger Nordeuropäer, und Salvini sei der einzige, der italienische Interessen verteidige.

IP: Gibt es keine anderen Stimmen?

Knaus: Im italienischen Parlament hört man nichts. Und was die EU betrifft: Wie lautet denn die Gegenposition von Emmanuel Macron bei den Themen Libyen und Seenotrettung? Was schlagen Paris und Berlin vor? Derweil steigt Salvinis Beliebtheit mit jeder neuen Krise. Und jetzt greift er bereits nach der ganzen Macht in Rom. Ein Bewunderer von Putin und Trump, ein Verbündeter von Le Pen und der AfD, ein Gegner der EU und des Euro. Kein Politiker spielt virtuoser als er auf dem Klavier der Emotionen, die die Krise an Europas Grenzen erzeugt. Und ich fürchte: Keiner ist für Europa gefährlicher.

IP: Muss es also darum gehen, eine andere Öffentlichkeit herzustellen?

Knaus: Es geht vor allem darum, dem Eindruck entgegenzutreten, die einzigen Optionen seien Brutalität oder Kontrollverlust, Kooperation mit ­Folterern oder unkontrollierte Massenmigration. Das Ziel von Salvini und Orbán ist, dass ihre brachiale Politik als einzige Alternative zu offenen Grenzen gesehen wird. Und ihre Kritiker machen es ihnen leicht.

IP: Inwiefern?

Knaus: Indem sie das Narrativ von Hunderttausenden, die jetzt angeblich aus Libyen nach Europa wollen, aufgreifen. Indem sie erklären, dass man eigentlich nicht zwischen Flüchtlingen nach der Genfer Konvention und anderen Migranten unterscheiden kann. Das sagt auch Viktor Orbán. Und indem einige erklären, Abschiebungen seien grundsätzlich inhuman, ob aus Deutschland nach Spanien oder Afghanistan, ob aus Libyen nach Eritrea oder Gambia. Salvini muss man mit umsetzbaren Vorschlägen beikommen, wie man gefährliche, irreguläre Migration human reduzieren kann.

IP: Was ist an den Vorwürfen dran, dass Europa sich abschotte, dass es herzlos sei?

Knaus: Wer das behauptet, macht es sich zu leicht. Im Jahr 2016 wurden von europäischen Schiffen mehr Menschen gerettet als in allen Jahrzehnten irgendwo in der Welt zuvor. In Schweden und Deutschland haben in fünf Jahren mehr Menschen Asyl erhalten als im Rest der Welt. Deutschland hat seit 2015 beim Flüchtlingsschutz Außerordentliches geleistet. Und es hat gezeigt: Sich hier human zu verhalten, ist für eine Regierung kein politischer Selbstmord. In Deutschland sind die Rechtspopulisten halb so stark wie in Nachbarländern, die sich ganz anders verhalten haben. Doch es genügt nicht, Empathie zu zeigen oder zu fordern. Es braucht eine umsetzbare Strategie für das Mittelmeer. Die fehlt.

IP: Was muss jetzt Ihrer Ansicht nach konkret passieren?

Knaus: Wir müssen die richtigen Fragen beantworten. Wie kann man tatsächlich verhindern, dass Tausende im Mittelmeer ertrinken? Wie reduzieren wir irreguläre Migration nach Europa? Am allerbesten dadurch, dass sich die, die keinen Schutz brauchen, gar nicht erst auf den Weg nach Europa machen. Das war im Rekordjahr 2016 mindestens die Hälfte aller Ankommenden. Wir müssen Menschen retten, aber jene schnell in ihre Heimat oder in sichere Drittstaaten zurückschicken, die keinen Schutz in der EU brauchen. Dafür müssen wir in der Lage sein, in wenigen Wochen entscheiden zu können, ob eine Person aus dem Senegal oder aus Gambia Schutz in der EU braucht. Das ist eine Frage des Willens und der Organisation. Und ob Länder bereit sind, ihre Bürger schnell wieder zurückzunehmen. Dazu müssen wir den Mut haben, neue Wege zu gehen.

IP: Ein Beispiel?

Knaus: Nehmen wir Gambia. Seit 2013 kamen 45 000 Gambier über das Mittelmeer. Es gibt in Deutschland geschätzt 10 000 Gambier, vor allem in Baden-Württemberg, die meisten mit Duldung oder im Verfahren. Im vergangenen Jahr gab es 144 Rückführungen aus Deutschland nach Gambia. 144! Man kann sich ausrechnen, wie viele Jahrzehnte es dauern würde, wenn man hier nur auf Abschiebungen setzte. Und Gambia war 2018 das afrikanische Land, das pro Kopf die meisten seiner Bürger aus Deutschland zurücknahm. Dazu sind aber 2018 mindestens 2500 Gambier über Marokko nach Spanien gekommen. Diese sind auch alle in Europa geblieben. Viele ziehen weiter.

IP: Was hat man denn bisher getan?

Knaus: Delegationen aus Berlin sind nach Gambia gefahren und haben gefordert, Menschen abzuschieben. Gambia half dabei, Papiere auszustellen. 2018 einigte man sich auf 15 Abschiebungen im Monat. Als Deutschland jedoch Ende Februar 20 Menschen, gefesselt, begleitet von 60 Polizisten, nach Gambia brachte, kam es zu Protesten und zu einer breiten Mobilisierung. Nun fürchten Zehntausende, dass als nächstes ihre Kinder zurückgebracht werden. Seitdem gibt es gar keine Abschiebungen mehr aus der EU nach Gambia.

IP: Und was macht Berlin nun?

Knaus: Man weiß nicht weiter. Am besten wäre es, das Kanzleramt, das Außen-, Innen- und Entwicklungsministerium setzten sich zusammen und einigten sich mit Baden-Württemberg auf eine Strategie, die im langfristigen Interesse Deutschlands und Gambias ist. Die dazu führt, dass gefährliche irreguläre Migration aus Gambia aufhört. Und die eine junge Demokratie in Westafrika stärkt, als Modell für die Region.

IP: Was schlagen Sie vor?

Knaus: Die Regierung Gambias verspricht ab einem noch zu bestimmenden Stichtag, jeden neu nach Deutschland kommenden ausreisepflichtigen Bürger sofort zurückzunehmen. So würden sich die Menschen nicht mehr ermutigt fühlen, sich auf den Weg zu machen. Dafür verspricht Baden-Württemberg, in den kommenden drei Jahren nur Straftäter abzuschieben. Derzeit wird niemand abgeschoben, aber alle leben mit der Angst, dass es sie treffen könnte. Die Angst wird ersetzt durch Anreize, sich auszubilden und legal zu arbeiten. Daneben könnte Deutschland in Gambia eine Schule für Pflegeausbildung aufbauen. Davon profitiert das lokale Gesundheitssystem, aber es erlaubt auch legale Arbeitsmigration, nicht nur für Männer, auch für junge Frauen. So wird irreguläre Migration durch reguläre ersetzt, so werden andere Länder ermutigt, ähnliche Abkommen zu schließen. Denn: Ohne die Interessen anderer zu berücksichtigen, lässt sich Migration nicht kontrollieren. Es braucht Mut und Realismus, neue Wege zu gehen.

IP: Halten Sie die oft geforderte europäische Lösung für möglich?

Knaus: Für eine Lösung aller 28 müssten sich Viktor Orbán, schwedische Sozialdemokraten, Angela Merkel und Matteo Salvini einigen. Das ist sehr unwahrscheinlich. Viele Länder haben gar kein Problem, einige Politiker profitieren sogar vom Gefühl der permanenten Krise.

IP: Welche Partner bieten sich dann an?

Knaus: 2018 kamen über 60 000 Menschen aus Afrika irregulär über Spanien. Es ist im Interesse Deutschlands, das zu reduzieren. 2018 sind 800 Menschen auf dem Weg nach Spanien ertrunken. Das muss aufhören. Spanien sollte bereit sein, jene, die keinen Schutz brauchen, schnell in ihre Herkunftsländer abzuschieben, und Deutschland sollte sich mit Spanien und Frankreich dauerhaft bei der Stabilisierung Westafrikas engagieren. Dazu bräuchte es endlich auch die Möglichkeit schneller Asylverfahren. Wer binnen weniger Wochen abgeschoben werden kann, würde gar nicht über den Zaun in Ceuta klettern. Spanien und Deutschland müssten offen über ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen sprechen, welche Politik die richtige wäre, und gemeinsame Projekte starten: in Gambia, im Senegal, in Marokko. Wenn das erfolgreich wäre, würden andere EU-Länder mitmachen. Es wäre der Anfang einer umsetzbaren humanen europäischen Politik.

IP: Sind Sie manchmal genervt über die deutsche Debatte?

Knaus: Ganz im Gegenteil. Deutschland ist heute eine Insel der Zivilisiertheit in einer gereizten Welt. Dabei hat es das größte Interesse daran, seinen Optimismus und die Erfahrung, dass es gelingen kann, mit Flucht und Zuwanderung human umzugehen, weiter zu tragen. Die Kanzlerin hat mit ihrem „Wir schaffen das“ für Deutschland recht behalten. Es geht darum, andere Länder zu ermutigen. Kontrolle und Humanität zu verbinden, in der EU und in der Welt. Auch das kann gelingen!

Die Fragen stellten Martin Bialecki, Uta Kuhlmann und Joachim Staron.
 

Gerald Knaus ist Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Zu seinen Veröffentlichungen gehören: „Can Intervention work?“ (mit Rory ­Stewart, Norton, 2010) und „­Zwischen Empathie und Angst. 50 Fakten zu Flucht und Migration“ (Piper, Herbst 2019).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 76-80

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