Weltspiegel

29. Apr. 2024

Ägypten und Jordanien: Der Druck auf die Grenzen steigt

Im Gazakrieg werden die beiden Länder zu Frontstaaten. Sie drohen mit der Aufkündigung ihrer Friedensverträge mit Israel.

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Bild: Eine Palästinenserin kehrt um, nachdem ihr 
die Teilnahme am Freitagsgebet in Jerusalems Al-
Aqsa-Moschee verwehrt wurde
Was im Westjordanland passiert, hat Folgen auch für Jordanien: Eine Palästinenserin kehrt um, nachdem ihr 
die Teilnahme am Freitagsgebet in Jerusalems Al-
Aqsa-Moschee verwehrt wurde, April 2024.
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Hätten Sie sich je vorstellen können, dass die Huthis Lieferketten und die Inflation auf der ganzen Welt beeinflussen können?“, fragte UN-Generalsekretär António Guterres in einer ­Pressekonferenz. „Eine kleine Gruppe aus den Bergen, die eine solche Wirkung hat – ist das nicht ein Beispiel für das Chaos auf der Welt?“ 

Tatsächlich treffen die Aktionen der Huthis den Welthandel erheblich. Nicht nur werden die Lieferketten verzögert oder gar unterbrochen. Auch die Teuerungsraten, die durch den Umweg um Afrika entstehen, treffen letztendlich die Verbraucher, denn 12 Prozent des Welthandels und 30 Prozent des Containerfrachtaufkommens gingen bis Mitte November durch den Suezkanal, wie das staatliche ägyptische Statistikamt mitteilt. Jetzt verliert Ägypten Millionen von Dollar – jeden Tag.

Es ist fast schon idyllisch, wenn man am Golf von Suez auf das Rote Meer blickt. Da wo sich früher Tanker an Tanker, Con­tainerschiff an Containerschiff wie Perlenketten aneinanderreihten und entweder auf die Durchfahrt durch den Suezkanal warteten oder gerade von dort gekommen waren, herrscht heute fast gähnende Leere. Ab und zu sieht man mal einen großen Ölfrachter vor dem neuen Hafen von Ain Sokhna, rund 130 Kilometer von Kairo, liegen und darauf warten, gelöscht zu werden. Denn Ain Sokhna kann das, was der Suezkanal nicht kann. Tanker mit Übergröße und -breite pumpen hier ihr Öl ab, was dann durch eine Pipeline in den Norden westlich von Alexandria geschickt wird. Dort steht ein ebenso großes Ungetüm, um das schwarze Gold in Empfang zu nehmen und nach Europa zu transportieren. Doch für Lebensmittel, Autos und andere Güter geht das nicht. Die müssen durch den Kanal. 

Und dort will zurzeit keiner mehr hin. Die im Gütertransport führende dänische Reederei Maersk, die deutsche Hapag-Lloyd, die Schweizer MSC und auch die französische CMA-CGM, die das Gros der Transporte durch den Suezkanal ausmachen, schicken ihre Schiffe jetzt um das Kap der Guten Hoffnung bei Südafrika. Grund sind die nicht enden wollenden Angriffe der Huthi-Rebellen aus dem Jemen auf Schiffe, die entweder israelische Häfen anfahren sollen oder Ländern gehören, die Israel im Krieg gegen die Hamas in Gaza unterstützen. Es vergeht keine Woche, in der nicht Angriffe auf Handelsschiffe gemeldet werden. 

Da immer weniger Schiffe durch das Rote Meer Richtung Suezkanal fahren, konzentrieren die jemenitischen Rebellen ihre Angriffe jetzt auf die Meerenge Bab al-Mandab und die Südküste Jemens. Bei einem Raketenangriff Anfang März im Golf von Aden auf einen unter der Flagge von Barbados fahrenden Frachter mit amerikanischer Ladung wurden drei Besatzungsmitglieder getötet und vier verletzt. Damit war eine neue Eskalationsstufe erreicht. 

Vordem beliefen sich die Angriffe auf Sachschäden und die Hinderung an der Weiterfahrt. So auch im Falle des US-Frachters „Rubymar“, der stark beschädigt in der Meerenge zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden sank und eine Ölspur hinter sich ließ. Experten gehen davon aus, dass der sinkende Frachter ein Unterwasserkabel beschädigte, was zu stundenlangen Netzausfällen weltweit führte. Dies alles geschehe, so die Huthis, als Reaktion auf die Luftangriffe der USA und Großbritanniens auf ihre Stellungen im Jemen.


Kairos schwere Wirtschaftskrise

Ursprünglich hat der Suezkanal Ägypten pro Jahr Einnahmen von zehn Milliarden US-Dollar beschert. Im Geschäftsjahr 2022/23 hatten rund 26 000 Schiffe den Kanal befahren. Seit den Angriffen der Huthis seien die Umsätze um 40 bis 50 Prozent eingebrochen, sagt Ägyptens Staatschef Abdel Fattah as-Sisi. Zusammen mit dem Tourismus und Überweisungen aus dem Ausland etwa von Ägyptern, die in den Golfstaaten arbeiten, zählt der Suezkanal zu den wichtigsten Einnahmequellen für das Land. Ägypten steckt ohnehin in einer schweren Wirtschaftskrise. Wie das Statistikamt CAPMAS zum Jahresende mitteilte, leben 41 Prozent der Ägypterinnen und Ägypter unter der Armutsgrenze; die inoffizielle Zahl dürfte allerdings weit höher liegen. Das bedeutet, dass mehr als 50 Millionen Menschen weniger als zwei Dollar am Tag zum Leben haben. 

Für Ägypten wird die Lage immer brenzliger. Der Gazakrieg setzt dem Land zu wie selten zuvor. Die Grenze zum Gazastreifen lässt das Land zum Frontstaat werden. Die geteilte Stadt Rafah ist der einzige ständig funktionierende Grenzübergang, über den Hilfsgüter zu den Zivilisten dort gelangen. Während die Kämpfe am Anfang des Krieges im Norden des mit über zwei Millionen Menschen dichtest besiedelten Landstrichs der Welt tobten, bombardiert die israelische Armee jetzt immer mehr den Süden und droht, auch Rafah in Angriff nehmen zu wollen. Dort wird der Drahtzieher des Massakers der Hamas vom 7. Oktober, Yahya Sinwar, vermutet. Er soll den Befehl dazu gegeben und auch die Geiselnahme initiiert haben. Sollten die Kämpfe um Rafah flächendeckend ausfallen, bliebe für die Menschen dort nur noch ein Ausweg zur Flucht: die Grenze zu Ägypten. Das will Kairo auf jeden Fall vermeiden. Nicht nur, weil dies den Hardlinern in der israelischen Regierung in die Hände spielen würde, die den Gazastreifen leerräumen wollen, um danach jüdische Siedler dort anzusiedeln.

Ein weiterer Grund, warum Kairo eine Fluchtwelle unbedingt verhindern will, ist, dass Ägypten und die Hamas verfeindet sind. Die Ägypter befürchten, dass mit den Geflüchteten auch Hamas-Kämpfer kommen würden. Die Hamas ist aus den ägyptischen Muslimbrüdern entstanden, die Staatschef as-Sisi bis aufs Blut bekämpft. Tausende sitzen in Ägypten im Gefängnis, Tausende sind im Exil. Wenn nun die israelische Armee die Palästinenser dazu drängt, nach Ägypten zu fliehen, werde Ägypten den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel aufkündigen, heißt es in Kairo.

„Wenn das Westjordanland explodiert, haben wir 
ein noch größeres Desaster als mit Gaza“

Es gibt schon lange Gerüchte, dass Ägypten sich für eine Fluchtwelle aus dem Gazastreifen wappnet. Offiziell bestätigt wurde dies nie. Der Gouverneur der ägyptischen Region Nord-Sinai, zu der Rafah gehört, nennt die Aktivitäten Teil einer Bestandsaufnahme der Häuser, die beim Kampf gegen Extremisten der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ zerstört wurden. Die Gruppe treibt seit Jahren auf dem Sinai ihr Unwesen und liefert sich Kämpfe mit der ägyptischen Armee. Die Aktivitäten dort hätten überhaupt nichts mit dem angeblichen Bau von Flüchtlingslagern für Palästinenser zu tun, so Gouverneur Mohammed Schuscha. Gleichwohl zeigen Luftaufnahmen, wie ein ummauertes Lager entsteht und auch, dass die Grenzanlagen durch Betonstelen, der Berliner Mauer gleich, befestigt werden, sodass es schwieriger wird, sie zu überwinden.

In Kairo hält man sich mit Antworten bedeckt. Auf die Palästinenser schießen und sie so vor einer Erstürmung der Grenze zu hindern, käme aus moralischen Gründen nicht infrage. Auch in Ägypten gibt es immer wieder Demonstrationen für die „Brüder und Schwestern im Gazastreifen“. Doch als bei den Protesten auch Stimmen laut wurden, Militärmachthaber as-Sisi solle abtreten, wurden die Demonstrationen kurzerhand verboten. Seitdem bemüht sich der Herrscher am Nil um Verhandlungen mit der verhassten Hamas und Israel, Geiseln und Gefangene auszutauschen. Mit mäßigem Erfolg. Den Einsatz von Schiffen zur Versorgung der Menschen in Gaza kommentiert man in Kairo eher skeptisch. „Den Krieg zu beenden, ist das Gebot der Stunde“, sagt ein Unterhändler, der nicht möchte, dass sein Name genannt wird; alles andere seien Pflaster und keine Ursachenbekämpfung.   


Die Wut der Jordanier steigt

Auch Jordanien will seinen Friedensvertrag mit Israel aufkündigen, sollte die israelische Armee Rafah bombardieren und damit eine Katastrophe unter der palästinensischen Zivilbevölkerung verursachen. König Abdullah wird nicht müde, immer wieder die Amerikaner, mit denen auch Jordanien verbündet ist, dazu aufzufordern, den Krieg in Gaza zu beenden. Er weiß, wie viel Einfluss Washington auf Israel hat. Die Jordanier gelten sonst als ruhig, gelassen und bedächtig. Ganz das Gegenteil zu ihren arabischen Nachbarn. Doch jetzt sind sie wütend – auf Israel, die USA und diejenigen europäischen Länder, die Israel uneingeschränkt unterstützen und das Schicksal der Palästinenser als zweitrangig einstufen. 

In Amman herrscht derzeit ein Boykott amerikanischer Geschäfte: McDonalds, Starbucks und KFC sind leer. Überall sieht man palästinensische Fahnen, Tücher und Flyer, die Solidarität mit den Palästinensern ausdrücken. Wer nicht für Palästina ist, hat derzeit keinen Platz in Jordanien. Die Regierung in Amman hat jeglichen Kontakt zu Israel abgebrochen, hat den Botschafter aus Tel Aviv zurückgeholt und den israelischen Geschäftsträger ausgewiesen. Dabei war Jordanien nach Ägypten das zweite Land, das 1994 Frieden mit dem Nachbarn Israel schloss. „Doch was die jetzt machen, geht zu weit“, heißt es überall. 

Das sagt auch Samir Habashneh, ehemaliger Innen- und Landwirtschaftsminister Jordaniens. Der 72-Jährige war Mitglied in fünf Regierungen und hat Erfahrung im Umgang mit Israel. Es sei ein kalter Frieden, was sich zwischen den beiden Ländern entwickelt hätte, kaum Kontakte auf Regierungsebene. Auch menschlich laufe nichts. „Israel will keine Freundschaft, will nur die Kontrolle über alles.“ Die Besatzung im Westjordanland und die Abriegelung des Gazastreifens seien ein Riesengeschäft für Israel: „Sie erlauben keinen freien Handel.“ 

Amman ist nur einen Steinwurf vom Westjordanland entfernt. Alles, was dort passiert, hat auch Auswirkungen auf Jordanien. Seit die Extremisten mit am Kabinettstisch sitzen, sei die Lage noch viel schlimmer geworden, so Habashneh. Kürzlich habe der israelische Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, damit gedroht, Jordanien die Verwaltung der Al-Aqsa-Moschee zu entziehen, die es seit 1924 ausübt. Die Moschee in Jerusalem ist das drittwichtigste Heiligtum der Muslime. „Das Westjordanland und Jerusalem sind die religiösen Projekte Israels“, meint Habashneh. Zwar sei Premierminister Benjamin Netanjahu nach dem Vorfall nach Amman gekommen und habe sich für seinen extremistischen Minister bei König Abdullah entschuldigt, aber das Problem habe er damit nicht gelöst. Es gäbe nur eine Möglichkeit, eine Lösung nach dem Krieg zwischen der Hamas und Israel zu finden: „Netanjahu muss weg, Palästinenserpräsident Abbas muss weg, die Hamas muss weg.“

Jordanien gilt ebenfalls so wie Ägypten als Frontstaat im Krieg zwischen Israel und der Hamas. Während der Fokus der Berichterstattung derzeit eher auf Gaza liegt, kocht die Situation im Westjordanland weiter hoch, nehmen die Angriffe radikaler Siedlermilizen auf palästinensische Bauern zu. Jordanien ist deshalb sehr besorgt über eine Eskalation vor seiner Haustür. Der Druck auf seine Grenzen wächst, je mehr sich die Situation im Westjordanland zuspitzt. 

Ohnehin hat das zehn Millionen Einwohner zählende Land in letzter Zeit nochmals über eine Million Palästinenser aufgenommen, nachdem während der ersten Vertreibung 1948 bereits Hunderttausende nach Jordanien geflohen waren. Sie alle haben inzwischen die jordanische Staatsangehörigkeit. Auch die, die im Sechstage­krieg 1967 fliehen mussten, sind eingebürgert worden. Doch dann war Schluss. Mehr konnte und wollte Jorda­nien nicht verkraften. Die Palästinenser, die danach kamen, haben befristete Aufenthaltspapiere. „Wenn das Westjordanland explodiert, haben wir ein noch größeres Desaster als mit Gaza“, sagte der jordanische Außenminister Ayman Safadi in einem Interview mit der BBC.                   

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Der Druck auf die Grenzen steigt" erschienen.   

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 82-85

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