Abschied von der Hyperglobalisierung
Schon vor der Pandemie war ökonomischer Nationalismus auf dem Vormarsch. Eine Debatte über Freihandel und Demokratie ist heute unausweichlich.
Die Corona-Pandemie illustriert geradezu perfekt die Gefahren der Hypervernetzung. Wir brauchen keine Ratten oder Flöhe mehr (wie früher bei der Pest), um Krankheiten zu verbreiten – das machen wir dank massenhaftem internationalen Reiseverkehr und globalen Lieferketten selbst. Und wir sind nicht länger allein handlungsfähig, wenn etwas schiefgeht. Wenn endlich ein Corona-Impfstoff entdeckt wird, werden wir warten müssen, bis wir an der Reihe sind, weil wir hier in Großbritannien kaum noch pharmazeutische Hersteller haben. Eine Debatte über die Notwendigkeit einer Entglobalisierung ist unausweichlich.
Denn die Pandemie signalisiert auch: Es ist Zeit für einen Abschied vom hemmungslosen Freihandel. Diese Forderung hat in den vergangenen Jahren an Unterstützung und Legitimität gewonnen – zumindest jenseits der ökonomischen Zunft. Demokratische Politik und nationale Gesellschaftsverträge beginnen, sich im Wettstreit mit den Gesetzen des komparativen Kostenvorteils Geltung zu verschaffen. Das wurde mir kürzlich klar, als ich einen hochrangigen britischen Konservativen sagen hörte, er sei bis vor Kurzem ein orthodoxer Anhänger des Freihandels und der freien Märkte gewesen, doch betrachte er sich nun als ökonomischen Nationalisten.
Er ist nicht allein, der Trend schon länger deutlich zu erkennen. Der Welthandel ist im vergangenen Jahr um 0,4 Prozent zurückgegangen. Seit 1993 hat es kein multilaterales Handelsabkommen mehr gegeben. US-Präsident Donald Trump will Teile der amerikanischen Lieferketten aus China zurückholen. Und das ist keine Trumpsche Exzentrik; der Großteil der amerikanischen politischen Klasse steht in dieser Frage hinter ihm. Die Hoffnung, dass China sich politisch transformieren und ökonomisch weniger merkantilistisch werden würde, wenn man dem Land nur Zutritt zu den Weltmärkten gewähre, ist nicht aufgegangen. Auch schreitet die technologische Entkopplung voran: Die Welt der Zukunft wird nicht auf einheitlichen globalen Plattformen aufbauen.
Dass die Angst vor dem Klimawandel größer geworden ist, macht es Befürwortern eines uneingeschränkten Freihandels ebenfalls nicht gerade leicht; sie bestärkt einen Trend zum Lokalismus, zu weniger Reisen und zu einem gewissen Grad von Autarkie. Und müssen Erdbeeren im März wirklich sein? Diese Frage stellt nicht nur Greta Thunberg.
Hübsche, überbewertete Theorien
Die Wahrheit ist, dass die hübschen Theorien des Freihandels und des komparativen Kostenvorteils überbewertet sind. Freihandel funktioniert, wie schon John Maynard Keynes betont hat, nur dann, wenn die Menschen, die ihre guten Jobs durch Importe verlieren, ebenso gute andere Jobs finden. Die Wahl Donald Trumps ist eine Art von Beweis, dass dies in den USA nicht geschehen ist.
Natürlich werde es kurzfristig Druck auf Löhne und den Verlust von Arbeitsplätzen geben, argumentieren an dieser Stelle die Freihandelsbefürworter. Aber langfristig führe die zusätzliche Kaufkraft, die wir durch die günstigeren Importe gewinnen, dazu, dass wir andere Güter und Dienstleistungen kaufen können, was dann für die Entstehung genauso guter Jobs in anderen Teilen unserer Volkswirtschaft sorgen werde. Und als amerikanische Bürgerinnen und Bürger die Wahl hatten, ob sie Industriestandorte im Mittleren Westen erhalten oder Güter von hoher Qualität bei Walmart günstig einkaufen wollen, haben sie mit ihren Portemonnaies für die günstigen Güter gestimmt.
Die Wahrheit ist allerdings: Man hat ihnen keine echte Wahl gelassen. Natürlich wollen die Menschen immer günstigere Produkte haben, aber nicht um jeden Preis. Wenn die Wahl jedoch lautet, im Gegenzug für etwas teurere Waren und Dienstleistungen den Erhalt, oder zumindest einen abgefederten Niedergang, einer bestimmten landwirtschaftlichen oder industriellen Lebensweise zu sichern, stehen die Chancen nicht schlecht, dass es dafür eine Mehrheit gibt. Tatsächlich geschieht genau das in der EU mit der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Produzenten und Konsumenten
Menschen wissen sehr genau, dass sie sowohl Produzenten als auch Konsumenten sind. Und das Ziel der Produktion ist eben nicht nur der Konsum, wie Adam Smith behauptet hat. Es geht auch darum, was für ein Leben man als Produzent führt. An diesem Punkt wird einer der blinden Flecke der Ökonomie für Kultur und den Menschen insgesamt offenbar.
Keynes’ Biograf Robert Skidelsky hat gezeigt, dass ein Großteil des Handels nicht dem Muster des komparativen Kostenvorteils folgt. Und Graham Gudgin, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Cambridge, hat darauf verwiesen, dass Beitritte zu Freihandelsabkommen bei Staaten in Nordamerika und Westeuropa in den vergangenen Jahrzehnten zu einem langsameren – und nicht schnelleren – Wirtschaftswachstum geführt haben. Denn der komparative Kostenvorteil bei Fertigungssystemen ist meist eher marginal.
Der Löwenanteil des komparativen Kostenvorteils wurde vielmehr dadurch erreicht, dass ganz einfach niedrigere Lohnkosten in ärmeren Ländern ausgenutzt wurden. Apple stellt iPhones in China her, was den amerikanischen Konsumenten und zu einem gewissen Grad den chinesischen Arbeitern nützt – doch die größten Nutznießer sind die Manager und Aktionäre von Apple. Es wäre, so vermute ich, nicht unpopulär, Teile dieser Produktion, selbst im Gegenzug für leicht erhöhte Preise, zurück in die USA zu holen.
Die Theorie, dass Freihandel zu ewigem Frieden führe, ist längst als Traum entlarvt. Die Gefahr von Kriegen – oder Pandemien – erfordert deshalb weiterhin ein gewisses Maß an nationalen Schutzmaßnahmen. Im 19. Jahrhundert öffnete sich Großbritannien dem Freihandel völlig. Das war enorm vorteilhaft für unser Land, damals die Werkbank der Welt, und wir importierten am Ende den Großteil unserer Nahrungsmittel. Das Ergebnis war, dass wir in zwei Weltkriegen beinahe verhungerten. Nach 1945 wiederholten wir den Fehler nicht; selbst vor dem Hintergrund enormer Veränderungen, was Geschmack und Konsumverhalten angeht, und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelimporte in den vergangenen Jahrzehnten produzieren wir immer noch mehr als die Hälfte unserer Nahrungsmittel selbst.
Kein vernünftiger Mensch plädiert für absolute Autarkie oder etwas Derartiges. Es spricht allerdings einiges dafür, nationale Kapazitäten in bestimmten strategischen Feldern wie Stahl oder Atomkraft oder eben der Herstellung von Impfstoffen zu erhalten. Entspricht es nicht letztlich der Logik des komparativen Kostenvorteils, in einer Welt, die in allen Bereichen Diversität wertschätzt, spezialisierte Monokulturen zu entwickeln?
Es gibt einige Ökonomen wie Dani Rodrik, Ha-Joon Chang, Barry Eichengreen und eben Robert Skidelsky, die überzeugend argumentieren, dass wir mehr demokratische Checks and Balances gegen den Freihandel brauchen. Wo es einen nationalen Konsens darüber gibt, einen bestimmten Teil einer Wirtschaft oder Kultur zu erhalten (ein Beispiel ist Frankreichs Schutz der eigenen Filmindustrie, u.a. durch Beschränkungen von Importen aus Hollywood), so argumentiert Rodrik, sollten diese Beschränkungen erlaubt sein und nicht Sanktionen internationaler Freihandelswächter nach sich ziehen.
Eine britische Regierung, die es mit Regional- und Industriepolitik ernst meint und mehr wirtschaftliche Aktivität in Englands Norden verlagern will, ist implizit protektionistisch. Sie wird nicht Hightechindustrien in Hartlepool fördern und dann zusehen, wie diese durch billige Importe plattgemacht werden. Sie wird entweder Fördergelder oder Zölle einsetzen. Es stimmt, dass die Freihandelstheorie manche solcher Maßnahmen unter dem Begriff „Schutz junger Industrien“ erlaubt. Doch die EU-Regeln für staatliche Beihilfen stehen eher dagegen.
Rückzug aus der Hyperglobalisierung
Kurzum: Die Rückverlagerung einiger Produktionsformen, etwas mehr Autarkie, mehr Telefonkonferenzen mit Menschen in anderen Ländern statt massenhaftes Reisen und Einwanderung, insgesamt ein Rückzug aus der Hyperglobalisierung der vergangenen Jahrzehnte – das wäre eine sinnvolle Antwort auf die aktuelle Krise.
Verfechter des Freihandels werden auf die Kosten solcher Schritte hinweisen. Es könnte etwas weniger Wachstum bedeuten, was aber manche Klimaaktivisten gar nicht stören dürfte. Globalen Lieferketten wohnt in der Tat eine Friedenskraft inne, und sie aufzubrechen, könnte die Rückkehr des Inflationsdrucks bedeuten. Auch könnte sich der dramatische Rückgang der Armut in weniger entwickelten Ländern verlangsamen oder ganz zum Erliegen kommen. Doch warum sollte uns das hindern, die Kosten des Freihandels besser abzumildern? Die Verlierer intelligenter zu subventionieren? Oder von vornherein zu verhindern, dass es so viele Verlierer gibt?
Eichengreen hat überzeugend argumentiert, dass es der Weltwirtschaft nicht an Offenheit mangelt, sondern dass das Hauptproblem in dem weit verbreiteten Gefühl besteht, dass „der Nationalstaat die Kontrolle über sein Schicksal verloren hat und sich anonymen globalen Kräften unterwirft“. Hans Kundnani hat es mit Blick auf Großbritannien auf den Punkt gebracht: „Es ist an der Zeit, dass die britische Regierung ihre Rhetorik anpasst und mit ihren Lobeshymnen auf den Freihandel aufhört“ (The Observer, 1.3.2020). Das Politische über das Ökonomische, demokratische Legitimität über wirtschaftliches Wachstum zu stellen, ist ein wichtiger Punkt des Brexits und geht weit darüber hinaus.
Natürlich wollen wir weiterhin viel Handel und nachhaltiges Wachstum, aber mit weniger sozialen Nebenkosten. Wir brauchen eine neue Rhetorik, die ein angemessenes Maß an Offenheit mit nationaler Kontrolle verbindet – einen ökonomischen Nationalismus, mit dem die meisten Liberalen sehr gut leben können.
David Goodhart leitet das Demografie-Programm beim Thinktank Policy Exchange in London.
Übersetzung aus dem Englischen: Matthias Hempert
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2020, S. 42-45