Abgeschottet
Warum den Spaniern nichts anderes übrig bleibt als sich durchzuwursteln
Das Café Central in Málaga ist eines der traditionsreichsten Häuser der südspanischen Stadt. Hier, an der Plaza de la Constitución, sitzen in der Heiligen Woche, der Semana Santa, die Honoratioren, um die Karwochen-Prozession vorbeidefilieren zu sehen. Hier sitzen die Urlauber, die von den Kreuzfahrtschiffen in die Stadt strömen.
Seit kurzem ist das Café um eine Attraktion reicher. Am Eingang hat Javier Castaño seine Schuhputzkiste aufgestellt. Schuhputzer gehörten früher zu jeder spanischen Stadt. Doch nach dem EU-Beitritt und dem Eintritt Spaniens ins wohlhabende Europa verschwanden sie aus dem Straßenbild. Castaño kann sich mit seinen 49 Jahren an die Zeit davor erinnern. „Ich war ein Kind und wollte auch unbedingt Schuhputzer werden.“ Dass er es nun tatsächlich wurde, hat allerdings mehr mit der Wirtschaftskrise als mit Kindheitsphantasien zu tun.
Der gelernte technische Zeichner verlor seinen Job und reihte sich in das sechs Millionen Menschen zählende Heer der spanischen Arbeitslosen ein. Einfach nur Stütze kassieren, das wollte er nicht. Er ließ sich eine traditionelle Schuhputzerbox schreinern und offeriert nun vor dem Café Central seine Dienste. Er ist der Limpiabotas 2.0, soll heißen: der Schuhputzer des digitalen Zeitalters. Über Facebook und Twitter teilt er mit, was man beim Polieren und Eincremen so aufschnappt, oder er kommentiert aktuelle Ereignisse. Seit die Journalistin Paula Barceló ihn vor dem Café entdeckte und einen Artikel darüber für die Süddeutsche Zeitung schrieb, ist er ein Medienereignis. Fernsehstationen aus der ganzen Welt haben ihn gefilmt, eine schwarz gekleidete Symbolfigur der Krise.
Manchen gilt Castaño als Symbol, dass Spanien zu alten Werten zurückkehrt, denn es war ja durch die Jahrhunderte nie ein materialistisches Land. Erst der Boom um die Jahrtausendwende hatte die Spanier zu willigen Konsumenten gemacht; die Maßlosigkeit, die sie dabei an den Tag legten, mag Folge der Überrumpelung gewesen sein. Besinnt man sich in der Krise nun also jener Bescheidenheit, die Spanien früher auszeichnete – die alte Frau, die keine Kartoffelschale ungenutzt lässt, die Blechdose als Kinderspielzeug, der Schuhputzer als Ausdruck des Willens zum Werterhalt gebrauchter Gegenstände?
So will es Castaño nicht verstanden wissen. Dass er von Medien als Symbol der Renaissance des armen, rückwärtsgewandten Spanien dargestellt wurde, stört ihn. Sein Geschäft ist letztlich ein Marketing-Gag, mit dem er in sein eigentliches Metier zurückwill. Publicity hat er genug, der Wirt des Cafés lässt ihn nun auch die Speisekarten neu gestalten, für ein Trinkgeld, versteht sich.
Zu fünft im Gästezimmer
Castaño ist eher ein Beispiel dafür, wie Spanien bisher eine Krise von einem Ausmaß überstanden hat, die in anderen Ländern womöglich soziale Unruhen ausgelöst hätte: Familiensolidarität, Freundeshilfe, hie und da ein Gelegenheitsjob, Kreativität für wenig Geld. In diesem Geflecht einer oft spontanen Solidarität, auf das die Spanier zu Recht stolz sind, überleben Hunderttausende, für die der Gedanke an eine sozialversicherungspflichtige Arbeit längst Utopie geworden ist. Nur so entgingen tausende Familien der Obdachlosigkeit, die ihre Hypothekenkredite aus der Boomzeit nicht mehr bezahlen konnten und von den Banken gnadenlos auf die Straße gesetzt wurden. Die „Desahucios“, Zwangsräumungen, sind das sichtbarste Zeichen der Krise. Die Leute kriechen bei Familienangehörigen unter, leben zu fünft im Gästezimmer. Womöglich für immer.
Allerdings verhindert diese Fähigkeit, sich zu arrangieren, womöglich eine durchgreifende Reform. Der konservativen Regierung von Mariano Rajoy ist es so bislang erspart geblieben, an die eigentlichen Ursachen der Krise zu gehen – die eklatante Strukturschwäche der Wirtschaft. Rajoys Vorvorgänger und Parteifreund José María Aznar hatte diese zu kurieren versucht, indem er ganz auf Immobilien setzte und die Blase aufpumpte, die in den Händen seines sozialistischen Nachfolgers José Luis Rodríguez Zapatero zerplatzte.
Sicher, Rajoy hat reformiert, er hat den Kündigungsschutz gelockert (was die Arbeitgeber allerdings bisher nur zum Kündigen inspiriert hat); er hat -Beamtengehälter gesenkt, Staatsdiener entlassen, die Universitäten zusammengespart und begonnen, das Gesundheitswesen zu privatisieren. Nach seiner Wahl 2011 bekundete er, das alles aus Überzeugung zu tun, letztlich aber geschah es eben doch auf äußeren Druck hin – nämlich aufgrund der Reformforderungen der „Männer in schwarz“, wie in Spanien die Abgesandten der Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission genannt werden.
Zu Korrekturen der extremen Härten, die dabei auftraten, ließ Rajoy sich ebenfalls nur auf massiven Druck hin bewegen. So wurde das uralte, ausbeuterische Kredit- und Schuldnergesetz so weit korrigiert, dass wenigstens die extremsten Härtefälle bei Wohnungsräumungen vermieden wurden. Allerdings waren dazu erst massive Proteste von Richtern nötig, die es nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren wollten, den Rauswurf von Alten, Armen und Kranken anzuordnen. Auch Feuerwehrleute, Schlüsseldienste, ja ganze Stadtverwaltungen schlossen sich dem Protest an und weigerten sich, den Banken Handlangerdienste zu leisten.
Falle der Unproduktivität
Für eine breite öffentliche Wahrnehmung des Problems sorgt die „Plattform gegen Zwangsräumungen“ (PAH), die vor zu räumenden Wohnungen aufmarschiert, Banken besetzt oder verantwortlichen Politikern bis vor die Haustür folgt. Die PAH ist der deutlichste Nachhall der Protestbewegung „15M“, die sich am 15. Mai 2011 an der Puerta del Sol im Zuge des Protests gegen die ersten Sparmaßnahmen formiert hatte. Dass es ruhig geworden ist um diese spanische Keimzelle der weltweiten -Occupy-Bewegung, heißt nicht, dass es nichts mehr anzuprangern gäbe – es ist eher ein Zeichen der Resignation. Nur die PAH macht noch regelmäßig mobil, ihre Sprecherin Ada Colau ist das einzige bekannte Gesicht, das die Protestbewegung hervorgebracht hat. Anders als in Griechenland oder Italien hat sich der Unmut nicht wahrnehmbar parteipolitisch manifestiert. Er macht sich eher im Separatismus Luft, wie man an den Massendemonstrationen in Katalonien sehen konnte.
Noch immer ist die Regierung Rajoy die Antwort schuldig geblieben, wie Spanien der Falle der Unproduktivität entrinnen könnte. Forschung, Wissenschaft und Technik spielten schon historisch eine untergeordnete Rolle. Durch die Einsparungen im Bildungswesen – wie zuletzt die fatale Kürzung der Erasmus-Zuschüsse – ist das nicht besser geworden. Der Weg zur Wissensgesellschaft ist auf lange Sicht verbaut.
Bei seinem Amtsantritt 2011 vertraute Rajoy darauf, dass seine bloße Anwesenheit genügen würde, die Märkte davon zu überzeugen, dass nach acht Jahren sozialistischer Pfründepolitik wieder ökonomischer Sachverstand eingekehrt sei, die Krise also quasi von allein verschwinden würde. Das tat sie nicht, vielmehr brachten die steigenden Renditen, die Spanien für Kredite auf dem Kapitalmarkt bieten musste, das Land zeitweise an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. 2012 entschloss sich die Regierung nach langem Zögern, die EU-Bankenhilfe anzunehmen. Ende 2013 läuft das Hilfsprogramm aus, von den zur Verfügung stehenden 100 Milliarden Euro hat Spanien knapp 41 Milliarden in Anspruch genommen. Der Finanzsektor des Landes sei nun saniert, jubilierte die Regierung – sekundiert von Brüssel – und erklärte, keine weiteren Hilfen zu benötigen.
Das darf jedoch bezweifelt werden. Spanien ist mit einer Billion Euro verschuldet, dazu kommen weitere zwei Billionen, mit denen private Haushalte in der Kreide stehen. Allein die privaten Außenstände entsprechen in der Summe 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Hunderttausende Haushalte tragen die gigantischen Schulden aus der Immobilien-Rallye mit sich herum, jeden Euro, den sie verdienen, stecken sie in den Schuldendienst, und das werden viele bis zum Lebensende tun – es sei denn, es käme ein privater Schuldenschnitt. Der ist aber nicht zu erwarten. Die Ratingagentur Standard & Poor’s sagt einen weiteren Fall der spanischen Immobilienpreise bis 2016 voraus. So lange ist die Kreditwirtschaft gelähmt. Die Niedrigzinspolitik der EZB zielt darauf ab, hier für mehr Fluss zu sorgen – allerdings auf Kosten des deutschen Sparers, was einmal mehr die Schieflage im Euro-Raum illustriert, die Spanier aber nicht interessiert.
Als im dritten Quartal 2013 erstmals nach Jahren der Rezession ein winziges Wachstum von 0,1 Prozent zu verzeichnen war, jubelte die Zentralbank bereits, die schwerste Rezession seit Wiedereinführung der Demokratie sei beendet. Verantwortlich für das Plus war aber vor allem der Export, dessen Überschüsse in der Bilanz nur den darniederliegenden Binnenkonsum spiegeln. Die Banker-Rhetorik erinnert an die Ankündigungen vergangener Tage: „Spanien ist auf einem guten Weg“, hämmerte einst Regierungschef Aznar seinen Landsleuten ein, bevor sein Weg der Immobilien-Monokultur geradewegs in den Abgrund führte. Leider scheint es, als ob die Regierung Rajoy nichts sehnlicher wünscht als eine neue Blüte dieser Monokultur. Das Megaprojekt Euro-Vegas, eine gigantische Spielstadt, die der US-Milliardär Sheldon Adelson in die Einöde bei Madrid pflanzen will, verzückt konservative Politiker, denen die Vision fehlt, was Spanien noch sein könnte außer ein Paradies billiger Dienstleistungen.
Ökonomische Erbsünde
In den Tertulias, den lautstarken Talkrunden im Fernsehen, wird zwar nicht mit flagellantischer Selbstkritik gespart, jedoch beschränkt sich die Ursachenforschung – genau wie in den Zeitungen – meist auf parteipolitische Schuldzuweisungen. Etwas tiefer gingen die einsamen Analysen des Journalisten Enric Juliana und des Wirtschaftsberaters César Molinas. Molinas unterstellt der kompletten politischen Klasse „extraktivistisches Denken“. Sie sei zu nichts anderem fähig, als Pfründe zu verteilen, die sie selber nicht verdient habe. Juliana geht einen Schritt weiter und empfiehlt allen Spaniern, nicht nur den Politikern, einen Schritt zurück zu einer „neuen Bescheidenheit“.
Nur ansatzweise tauchen die historischen Perspektiven auf, wie sie einst Juan Goytisolo aufzeichnete. Er analysierte Spaniens Rückständigkeit in den sechziger Jahren als Folge einer wirtschaftlichen Erbsünde, nämlich der Vertreibung des wirtschaftlichen Sachverstands in Gestalt von Juden und Mauren nach 1492. Das die folgenden Jahrhunderte herrschende inquisitorische System habe jeden Ansatz von Fortschritt als Teufelszeug gebrandmarkt, Spanien verpasste Aufklärung, bürgerliche und industrielle Revolution.
Solche Beobachtungen würden in Spanien heute noch als Nestbeschmutzung gewertet, sagt die Geografin und Historikerin Begoña Prieto Peral, die aus Salamanca stammt und an der Münchner Universität für angewandte Wissenschaften lehrt. Sie stellt – fußend auf Goytisolo – fest, dass Spaniens Sonderweg in der Geschichte oftmals aus der Ausgrenzung und der Vertreibung von Ideen bestanden habe, die aber nun mal Voraussetzung seien für neue Denkweisen. Noch heute erinnert sie die Einstellung vieler Spanier an den Hidalgo aus dem Schelmenroman Lazarillo de Tormes: Die Fassade gaukelt ein prachtvolles Haus vor, dahinter aber herrschen Leere und Armut. Der Franquismus sei ein paternalistisches System gewesen, das auf Tourismus, Bauen und Spekulation gesetzt habe, ohne Raum für Innovationen zu schaffen. Mit dem Übergang zur Demokratie nach Francos Tod 1975 sei das politische System zwar tiefgreifend reformiert worden. Die Wirtschaft habe man aber letztlich unangetastet gelassen. „Der demokratische Staat funktioniert bei uns nicht als Impulsgeber für eine neue ökonomische Ordnung, sondern als Verteiler von Steuereinnahmen.“
Seit diese Einnahmen durch die Massenarbeitslosigkeit wegbrechen, muss Spanien um sein Sozialsystem fürchten. Dabei wäre Arbeit genug vorhanden, wie die Blüte der Schwarzarbeit vermuten lässt, die laut Schätzungen bis zu 25 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht – letztlich ein Zeichen für fehlende staatsbürgerliche Gemeinverantwortung. Wie diese aussehen kann, erfahren nun viele junge Spanier, die gezwungenermaßen ins Ausland gehen – oder nach dem Studium im Ausland bleiben. Die Spanier müssten lernen, dass man ein soziales System nur mit Steuerdisziplin aufrechterhalten könne, sagt die Journalistin Paula Barceló, die lange Jahre in Deutschland gelebt hat.
Einer, der mit Erasmus kam und blieb, ist der Informatiker und Blogger Diego Ruíz del Árbol, der in Berlin lebt und sich über die Gestaltungsmöglichkeiten dort freut. Die seien in Deutschland deutlich größer als in Spanien, wo die starre Hierarchie oft jede Kreativität ersticke. In seinem Blog Berlunes (Motto: „Sie haben Mallorca, wir haben Berlin“) beschreibt er das Leben der wachsenden spanischen Gemeinde. Sein Fazit: „Inmitten eisiger deutscher Winter sehne ich mich manchmal nach der Wärme meiner spanischen Familie. Aber wenn ich daran denke, dass ich dann dort wieder Tag für Tag in diesem verfaulten System leben müsste, schiebe ich die Rückkehr lieber noch ein paar Jahre auf.“
Sebastian Schoepp ist Redakteur im Ressort Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 65-70