Wohlstand für Wenige
Die arabische Welt fordert mehr Partizipation und soziale Gerechtigkeit
Die beeindruckenden Wirtschaftszahlen der vergangenen Jahre im Nahen Osten und in Nordafrika haben den Blick auf das Wesentliche verstellt. Dieses Wachstum ist nicht bei den Menschen angekommen – es verblieb bei der jeweiligen Herrschaftselite. Mit diesen Problemen sind Tunesien und Ägypten ganz bestimmt nicht allein.
Was alle Protestbewegungen in Algerien, Marokko, Tunesien, Ägypten, Jordanien, Syrien, Mauretanien und im Jemen miteinander verbindet, ist – neben dem Wunsch nach größeren politischen Freiheiten – die Unzufriedenheit über die seit Jahren stetig wachsende Kluft zwischen mikro- und makroökonomischer Entwicklung, die asymmetrische Einkommens- und Ressourcenverteilung und damit einhergehend die Verletzung elementarer wirtschaftlicher Partizipationsrechte. Man könnte die wirtschaftspolitische Entwicklung der vergangenen Jahre zusammengefasst als „neoliberalen Autoritarismus“ bezeichnen. Nach Jahren der Innenausrichtung, staatsinterventionistischen Episoden oder (in Algerien, Syrien und Jemen) sozialistisch inspirierten planwirtschaftlichen Entwicklungsstrategien hat ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes (staats-)kapitalistisches Paradigma Einzug gehalten. Oftmals vor dem Hintergrund der von Weltbank und Internationalem Währungsfonds verordneten strukturellen Anpassungsprogramme hat sich die Mehrheit der arabischen Staaten der Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen verschrieben. Dabei blieb die politische Arena allerdings den seit Jahren bzw. Jahrzehnten regierenden Herrschaftseliten vorbehalten.
Einhergehend mit einem stetig wachsenden Globalisierungsdruck und dem Abschluss von bilateralen Freihandelsabkommen mit der EU, den USA oder anderen einflussreichen Wirtschaftsmächten hat dieser neoliberale Autoritarismus nicht nur zu weitreichenden Privatisierungsmaßnahmen und umfassenden Investitionsförderprogrammen geführt, sondern auch zu einer gewissen Liberalisierung ehemals stark protektionistischer Außenhandelsregime. Staaten wie Marokko und Jordanien haben die Basel-II-Eigenkapitalvorschriften umgesetzt, ihren Banken- und Finanzsektor modernisiert und ebenso wie Ägypten und Tunesien ihre Tourismusindustrie systematisch ausgebaut. Daneben haben sich Jordanien und Tunesien um eine Verbesserung des Bildungswesens und der Frauenförderung bemüht. Seit den neunziger Jahren sind auch in Syrien in nahezu allen Sektoren privatwirtschaftliche Akteure zugelassen.
Zweifellos haben die Maßnahmen zu einer verbesserten, wenngleich noch immer unvollständigen Integration in weltwirtschaftliche Strukturen beigetragen. Außerdem hat sich die Attraktivität einzelner Länder als Investitionsstandort vor allem im zwischenverarbeitenden sowie im Energie- und Dienstleistungssektor erhöht. Und schließlich hat all das für beeindruckende Wirtschaftswachstumsraten gesorgt, die in den vergangenen Jahren bei durchschnittlich fünf Prozent lagen; so wurde Tunesien kürzlich im jährlich erscheinenden „Global Competitiveness Report“ des Weltwirtschaftsforums gar schon zum dritten Mal in Folge als wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft Afrikas ausgezeichnet.1
Nicht nachhaltig
Für die Bereitsstellung öffentlicher Güter auf einer verlässlichen Grundlage sind Märkte in der Regel wenig geeignet. Diese im aktuellen UNDP-Bericht zur menschlichen Entwicklung abermals bekräftigte Erkenntnis2 gilt auch und gerade für den Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, wo wachstumszentriertes Denken und makroökonomische Fokussierung die Grundlage neoliberaler Wirtschaftspolitik bilden. Diese Denkschule hat in den meisten Ländern des Großraums einen Prozess in Gang gesetzt, der das zuweilen beeindruckende Wirtschaftswachstum – in der Zeit zwischen 2006 und 2008 wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Ägypten um durchschnittlich sieben Prozent – von Prozessen abgekoppelt hat, die für Fortschritte in einkommens- als auch nichteinkommensbezogenen Teilbereichen menschlicher Entwicklung entscheidend sind.3 Ein Blick in diese Sektoren zeigt eine „andere“, in der wirtschaftlichen Postmoderne nur bedingt angekommene Region und trägt zum besseren Verständnis der sozioökonomischen Motive der aufständischen Bevölkerungen bei.
Die wirtschaftlichen Erfolge haben in den Staaten, in denen die Menschen zurzeit auf die Straße gehen, keinen nachhaltig positiven Einfluss auf die Arbeitsmarktentwicklung gehabt. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt zwischen 8 und 14 Prozent; die tatsächliche Zahl ist allerdings um ein Vielfaches höher (in Mauretanien beträgt sie über 30 und im Jemen über 40 Prozent). Diese Situation ist das Ergebnis einer fehlgesteuerten Arbeitsmarktpolitik, die in erster Linie exklusiven, herrschaftstreuen Zirkeln zugute kommt und mitverantwortlich ist für die Existenz einer ausufernden Schattenwirtschaft.
Sind nach Schätzungen der Weltbank in Jordanien rund 25 Prozent der arbeitenden Bevölkerung und in Marokko und Syrien etwa 45 Prozent der nicht in der Landwirtschaft Tätigen im informellen Sektor aktiv, so finden in Algerien und Ägypten ca. 60 Prozent, in Mauretanien und im Jemen ein noch größerer Teil aller wirtschaftlichen Aktivitäten außerhalb des nationalen Beschäftigungssektors statt.4 Vor dem Hintergrund der in allen Staaten ähnlich verlaufenden demografischen Entwicklung ist die Arbeitslosigkeit zudem extrem ungleich zwischen den verschiedenen Altersgruppen und Geschlechtern verteilt. So macht die Gruppe der Unter-30-Jährigen weithin mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus und ist von stagnierenden oder regressiven Arbeitsmärkten am stärksten betroffen. Zudem sind die meisten Arbeitsmärkte durch eine niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen gekennzeichnet. Mit Ausnahme von Mauretanien, das eine traditionell hohe Partizipationsrate von Frauen aufweist und Algerien, das mit 38,2 Prozent ebenfalls über eine im regionalen Vergleich überdurchschnittliche Quote verfügt, gehört die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den übrigen sechs Staaten zu den niedrigsten weltweit.[5 Tunesiens 27,7 Prozent sowie Jordaniens 24,7 Prozent verdeutlichen überdies, dass die Lobgesänge auf Ben Alis Gleichstellungspolitik und die vom jordanischen Königshaus initiierten Frauenförderungskampagnen zumindest in Sachen Arbeitsmarkt de facto jeglicher sachlichen Grundlage entbehren.6
Landflucht und Bildungsmisere
Die Arbeitsmarktproblematik wird noch verstärkt durch das in allen acht Ländern ausgeprägte Stadt-Land-Gefälle. Mit eifriger Unterstützung ausländischer Investoren und finanzieller Hilfe der EU, der USA, der Weltbank und anderer internationaler Finanzinstitutionen verfolgen die Regime einen wirtschaftspolitischen Modernisierungskurs, der sich primär auf die urbanen Zentren konzentriert, in Marokko, Tunesien und Ägypten auch auf die touristisch ausgerichteten Küstenregionen. Die überwiegend agrarisch geprägten ariden Regionen im Landesinnern dagegen werden schon seit Jahrzehnten vernachlässigt. Das führt zur Landflucht und damit zu kaum lösbaren infrastrukturellen, stadtplanerischen und sozialstrukturellen Problemen für ohnehin rasant wachsende Städte.
Doch auch weite Teile der städtischen Bevölkerung haben mit Bedingungen zu kämpfen, die Entwicklung und Fortschritt hemmen. Zum einen sind die Bildungssysteme in den meisten Ländern noch immer rückständig. So verfügen Jordanien und Tunesien über im regionalen Vergleich relativ fortschrittliche Bildungssysteme. Mit einem UN-Bildungsindex von 25,1 (Jordanien) bzw. 38,7 (Tunesien), kombinierten Einschulungsraten in der Primär-, Sekundär- und Tertiärstufe von 73,4 (Jordanien) und 76,4 Prozent (Tunesien) sowie einem zwar niedrigen Ausgabenniveau in Forschung und Entwicklung, das jedoch in den übrigen sechs Ländern gegen null tendiert, liegen sie aber noch immer deutlich unter dem durchschnittlichen Wert der OECD-Welt.7
In Tunesien und Syrien hat sich die Qualität des Bildungsangebots in den vergangenen Jahren spürbar verschlechtert, in Mauretanien und im Jemen ist selbst weiten Teilen der Stadtbevölkerung der Zugang zu Bildungsangeboten verwehrt, in Marokko wird Bildungspolitik traditionell herrschaftspolitischem Kalkül untergeordnet, und in Ägypten leidet das staatliche Bildungswesen unter erheblichen strukturellen Defiziten sowie einer vielfach zu beobachtenden traditionell-konservativen Grundhaltung hinsichtlich der Nutzung jugendlichen Humankapitals.
Mafiaähnliche Zustände
Die Herrschaftsapparate in allen acht Staaten haben sich entweder unter aktiver Mitwirkung oder passiver Duldung der jeweiligen Sicherheits- und Militärapparate ein ausgeklügeltes, auf Klientelismus und Kooptation basierendes System geschaffen, in dem die politische Elite mehr oder weniger offen und in unterschiedlicher Akzentuierung auch als wirtschaftliche Elite fungiert und sich ungehindert, in zuweilen mafiaähnlicher Weise, bereichert. Obgleich sich die einzelnen Regime in Struktur, innerer Zusammensetzung, Herrschaftstechnik sowie Machtressourcen voneinander unterscheiden, ist ihnen gemein, dass sie von den häufig erst durch externen Druck initiierten Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen in erster Linie selbst profitiert haben.
Für alle Länder gilt, dass es ausschließlich die politischen und wirtschaftlichen Eliten sind, die das entsprechende Kapital und den Zugang zu den Kapazitäten des Staatsapparats haben, um zur Privatisierung ausgeschriebene Objekte zu erwerben. Das Ergebnis dieser Privatisierungsrunden, die von westlichen Gebern als gute Beispiele gelobt werden, ist häufig nur eine Umwandlung ehemaliger Staatsmonopole in private Monopole, deren Besitzstruktur und Eigentumsrechte jedoch unangetastet bleiben.8 Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass kleine und mittlere, in der Regel von Familien geführte und vielfach mit primitiven Produktionsmitteln ausgestattete Niedriglohnbetriebe die nationale Szenerie prägen und zwischen 20 und 70 Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigen. Angesichts dieser asymmetrischen Ressourcenausstattung ist es geradezu zwangsläufig, dass auch die Einkommensverteilung durch extreme Ungleichheit gekennzeichnet ist.
Algerien und Tunesien liegen zwar beim Bruttonationaleinkommen pro Kopf mit 8320 und 7979 Dollar vor aufstrebenden Volkswirtschaften wie China und Indien. Jedoch rangieren sie ebenso wie die übrigen sechs untersuchten Länder, von denen der Jemen und Mauretanien mit 2387 und 2118 Dollar die niedrigsten Werte aufweisen, abgeschlagen hinter anderen nicht Erdöl produzierenden Nachbarn wie der Türkei oder dem Libanon. Diese Zahlen relativieren sich noch stärker, wenn man berücksichtigt, dass sich der Anteil der Menschen, die unterhalb der nationalen Armutsgrenzen leben, seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau bewegt. In Tunesien sind es fast 13 Prozent der Bevölkerung, in Jordanien und Marokko rund 14, in Ägypten etwa 17 Prozent, in Algerien und Syrien zwischen 23 und 30 Prozent sowie in Mauretanien und im Jemen fast die Hälfte aller Einwohner.9
Wird auch noch die menschliche Entwicklung der vergangenen 30 Jahre in die Betrachtung mit einbezogen, ist endgültig klar, dass der Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre in der überwiegenden Zahl der Fälle nur geringfügig zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen beigetragen hat. Mit Ausnahme von Syrien und Jordanien, die sich im HDI-Ranking des UN-Entwicklungsprogramms zwischen 1980 und 2010 immerhin auf Platz 111 bzw. Platz 82 verbessern konnten, stagniert die menschliche Entwicklung in den übrigen sechs Ländern bereits seit Jahren.10
Warum jetzt?
Immer wieder haben die Medien in den vergangenen Wochen betont, wie überraschend die tunesische Jasmin-Revolution sowie die schlagartige Ausbreitung des „tunesischen Virus“ gekommen seien. Wiederholt wurde – und wird – nach dem „warum jetzt?“ gefragt. Eine erstaunliche Frage. Schaut man sich die deutlichen Asymmetrien zwischen gesamtwirtschaftlicher, wachstumszentrierter Entwicklung einerseits und mikroökonomischer, menschlicher Entwicklung andererseits genauer an, so war es lediglich eine Frage der Zeit, wann sich die in den meisten arabischen und nordafrikanischen Gesellschaften seit Jahren spürbare Verzweiflung über staatliche Ausgrenzungs- und Erniedrigungspraktiken sowie die Verteilungsungleichheit und steigende Lebensmittelpreise entlädt.
Wachstum ist nur dann ein erstrebenswertes Ziel makroökonomischen Handelns, wenn der erwirtschaftete Zuwachs breitenwirksam Arbeitsplätze schafft, Einkommensungleichheiten abbaut sowie in die Verbesserung der menschlichen Entwicklung rückinvestiert wird. Das Fehlen dieses volkswirtschaftlichen Grundverständnisses charakterisiert aber das wirtschaftspolitische Denken aller autoritären Regime im Maghreb, im Maschrek sowie im Jemen und ist letztlich mitverantwortlich für den Sturz von Zine el Abidine Ben Ali in Tunesien sowie Hosni Mubarak in Ägypten.
Ob die Regierenden ihre Lektion gelernt haben und sich nun von der Ökonomie des Wachstums freiwillig verabschieden oder von ihren Gesellschaften dazu gezwungen werden, mag aus makroökonomischer Sicht von untergeordneter Bedeutung sein. Fakt ist jedoch, dass die jüngsten Ereignisse in Tunesien und Ägypten jeder gegenwärtigen und zukünftigen Herrschaftselite, sowohl in Nahost und Nordafrika als auch über die Region hinaus, deutlich vor Augen geführt haben, dass die geradezu dogmatische Fokussierung auf wirtschaftliche Zuwachsraten bei gleichzeitiger Vernachlässigung von zentralen Aufgaben wie gerechter Einkommensverteilung und sozialer Gerechtigkeit niemals nachhaltig sein kann und früher oder später bestraft wird.
Dr. TOBIAS SCHUMACHER ist Professor für Internationale Politik und Senior Researcher am Lissabonner Universitätsinstitut (CIES-IUL).
- 1]World Economic Forum: The Global Competitiveness Report 2010–2011, Genf 2010, S. 38.
- 2Siehe UNDP: Bericht über die menschliche Entwicklung 2010, Berlin 2010, S. 7.
- 3Ebenda, S. 6.
- 4World Bank: World Development Indicators 2010, Washington 2010.
- 5UNDP (Anm. 2), S. 7.
- 6Siehe z.B. Euromedgenderequality: Enhancing Equality between Men and Women in the Euromed Region (2008–2011), Brüssel 2010.
- 7UNDP (Anm. 2), ebenda
- 8Eberhard Kienle: Destabilization through Partnership? Euro-Mediterranean Relations after the Barcelona Declaration, in Mediterranean Politics, 2/1998, S. 1–20
- 9World Bank (Anm. 4
- 10UNDP (Anm. 2), S. 7
Internationale Politik 2, April 2011, S. 30-35