Titelthema

29. Aug. 2022

„Wir sollten offen sein für neue Wege“

Die Biden-Regierung setze im Grunde die unter Donald Trump formulierte Außenpolitik fort. Europa müsse flexibler werden, um ein starker Partner zu sein. Interview mit der früheren stellv. Nationalen Sicherheitsberaterin Nadia Schadlow

 

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Bild: Porträt von Dr. Nadia Schadlow
Dr. Nadia Schadlow ist Senior Fellow am Hudson Institute in Washington (DC). Im März 2017 wurde sie von Präsident Donald Trumps damaligem Nationalen Sicherheitsberater General H.R. McMaster in den Nationalen Sicherheits-
rat berufen. Von Januar bis April 2018 war sie stellvertretende Nationale Sicherheitsberaterin.
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IP: Frau Schadlow, Sie sind die Hauptautorin der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der Vereinigten Staaten von 2017. In welchem Ausmaß hat das Dokument Ihrer Meinung nach die US-­Außenpolitik verändert?



Nadia Schadlow: Bevor ich antworte, würde ich den Begriff „Autorin“ gern durch das Wort „Architektin“ ersetzen. „Autorin“ suggeriert, dass die Nationale Sicherheitsstrategie aus der Feder eines Menschen stammt. Es waren aber viele, die zu der Strategie beigetragen haben. Natürlich gibt es dann eine Person, die das Ganze zusammenfügt, die Themen festlegt und dafür sorgt, dass das Dokument in Ton und Inhalt einheitlich ist. Deshalb bezeichne ich mich lieber als Architektin.



Das Dokument war aus vielen Gründen wichtig. Erstens hielt es – auf dem Papier und auf nationaler Ebene – einen Wandel fest, der sich schon seit einiger Zeit vollzogen hatte. Mindestens seit 2012, möglicherweise aber auch schon früher, gab es in der amerikanischen außenpolitischen Community viele, die sich um die sich verändernde Rolle Chinas im internationalen System sorgten. Präsident Donald Trump war nicht der Einzige, der diesen Wandel erkannte, aber es war seine Regierung, die bereit war, das Risiko einzugehen, China erstmals als strategischen Konkurrenten zu bezeichnen. Ich denke, das war sehr wichtig, um in den USA einen neuen Diskurs über China zu ermöglichen. Es war ein wichtiger Strategiewechsel, der nicht nur auf das Verteidigungsministerium beschränkt war, sondern auch ein Umdenken im Außenministerium, im Handelsministerium und bei all denjenigen erforderte, die an den Hebeln der wirtschaftlichen Macht sitzen. Die klare Artikulation einer veränderten geopolitischen Landschaft war deshalb von entscheidender Bedeutung.



Noch wichtiger ist, zweitens, dass wir in der NSS 2017 stärker herausstrichen, wie bedeutsam Macht ist – insbesondere militärische Macht; und dass wir uns nicht auf einem Pfad bewegen, der von gegenseitigem Engagement und einer Art liberalen Konvergenz der Systeme geprägt ist, egal ob wir von Russland, China oder anderen Ländern wie dem Iran sprechen. Die Strategie legte dar, dass verschiedene Staaten unterschiedliche Ziele haben und dass sich dabei nicht alle Regierungen der Demokratie annähern. Das hat natürlich nicht nur für Begeisterung gesorgt. Aber wie sagt man so oft: Man sollte die Welt so sehen, wie sie ist, und nicht so, wie man sie sich wünscht. Eine realistische Einschätzung der internationalen Ordnung ist ein wichtiger erster Schritt, um die Probleme und Herausforderungen anzugehen, die uns da draußen erwarten.



Drittens wurde in der NSS auch die Erwartung hinterfragt, dass sich die USA jederzeit um alles kümmern können. Viele Medien schrieben deshalb, die Strategie sei im Geiste des „America First“ geschrieben, also nach dem Motto: „Wir machen alles alleine, andere sind uns egal.“ Ich sehe das völlig anders. Ich denke nicht, dass das Dokument dies besagt. Vielmehr vermittelte die Strategie ein realistisches Gefühl dafür, dass die Vereinigten Staaten die Lasten des internationalen Systems nicht allein schultern können und dass die liberale internationale Ordnung widerstandsfähiger wäre, wenn auch andere Nationen mehr zu ihr beitragen würden.

 



Sie haben die Trump-Regierung 2018 verlassen. Ist die Außenpolitik den Grundsätzen der NSS von 2017 in den darauffolgenden Jahren weiter gefolgt?



Ich denke, ja. Auch hier gab es viel Kritik, aber das lag mitunter daran, dass die Medien oft nicht über alle Schritte berichteten, die unternommen wurden. Zum Beispiel über die Zollmaßnahmen, die der US-Handelsbeauftragte veranlasste, um US-Technologien und geistiges Eigentum vor chinesischem Diebstahl zu schützen, der die Industriepolitik „Made in China 2025“ unterfüttert. Und auch eine spezielle „China-Initiative“ im Justizministerium wurde kaum wahrgenommen, genauso wie die Offenlegung der Aktivitäten von Konfuzius-Instituten in amerikanischen Universitäten. Zudem wurden Initiativen geschaffen, um besser zu verstehen, wie unsere Lieferketten strukturiert sind, insbesondere, wenn es um Produkte geht, die für die nationale Sicherheit relevant sind. Insbesondere letzterer Punkt mag zunächst recht simpel erscheinen, aber tatsächlich ist es sehr schwer, sich einen solchen Überblick zu verschaffen. Denn ein bestimmtes Waffensystem, etwa ein Düsenjäger, besteht aus einer Vielzahl von Komponenten. Es ist sehr schwierig, genau festzustellen, woher jeder einzelne Mikrochip stammt.



In den Vereinigten Staaten sind wir unter anderem aufgrund der Coronavirus-Pandemie zu dem Schluss gekommen, dass wir widerstandsfähige und diversifizierte Lieferketten brauchen. Das bedeutet, dass wir einen Teil dieser Lieferketten nach Hause verlegen müssen und einen anderen Teil nach Europa oder in diejenigen Länder Asiens, die Freunde und Verbündete sind. So kam es auch zu der Wiederbelebung des „Quad“ – des quadrilateralen Sicherheitsdialogs zwischen den USA, Australien, Japan und Indien – sowie zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen zwischen Washington und Tokio.



Natürlich gab es auch Spannungen. So waren Trump und Bundeskanzlerin Angela Merkel keine großen Freunde, und auch mit der damaligen britischen Premierministerin Theresa May gab es zeitweise Reibereien. Aber das waren eher persönliche Auseinandersetzungen und bedeutete keinen Kurswechsel in den Beziehungen zwischen unseren Ländern. Das Kerngeschäft hat in dieser Zeit weiterhin ziemlich gut funktioniert. Wenn man sich also ansieht, was tatsächlich passiert ist – im Gegensatz dazu, wie darüber berichtet wurde –, dann lautet die kurze Antwort: Ja, die NSS hat auch in diesen Jahren weiter gewirkt.





Wie stark hat sich die Biden-Regierung Ihrer Meinung nach von der NSS 2017 und ihrer Konzeption der US-Außenpolitik entfernt? Wo sehen Sie Veränderungen, wo Kontinuität?



Die Biden-Regierung hat bislang gezögert zuzugeben, dass sie viele Annahmen der Trump-Regierung teilt. Ein solches Eingeständnis wäre für manche, die derzeit politische Verantwortung tragen, höchst problematisch. Oder es würde zumindest für höchst problematisch gehalten. In den als vorläufiges Dokument verabschiedeten ­außenpolitischen Leitlinien der Biden-Regierung von Anfang 2021 wird „Engagement“ und „Zusammenarbeit in Schlüsselbereichen“ betont, konkret ist von „Führung durch Diplomatie“ die Rede. Viele der Annahmen haben sich mittlerweile als falsch her­ausgestellt, was die Biden-Regierung vor Probleme stellt. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass die Regierung mit ihrem Plan, eine klimapolitische Zusammenarbeit mit China zu erreichen, erfolgreich sein wird. Zudem hat Bidens Team viel Zeit mit immer kleinteiligeren Definitionen dessen verbracht, was Großmächtewettbewerb bedeutet – zum Beispiel erörtert, was Russland und China voneinander unterscheidet.



Am Ende geht es jedoch immer um einen Wettbewerb der Großmächte: um einen Wettbewerb zwischen Staaten, die ihre eigenen Interessen haben und über bedeutende Machtmittel verfügen. „Führung durch Diplomatie“ ist als Ordnungsprinzip deshalb nicht wirklich sinnvoll. Die Diplomatie ist ein Werkzeug, ein Instrument der Außenpolitik. Wie jedes andere Instrument wird es eingesetzt, wenn die Umstände es erfordern. Doch die Grundlage des internationalen Systems ist und bleibt die Macht: wirtschaftliche, ­militärische, technologische und politische Macht.





Der heutige US-Sicherheitsberater Jake Sullivan und andere haben davon gesprochen, eine „Außenpolitik für die amerikanische Mittelschicht“ betreiben zu wollen. Kommt das nicht der Vorstellung nahe, die Trump mit dem Vorwurf formulierte, andere Länder würden die USA „abzocken“?



Ja, sehr nahe sogar. In den Vereinigten Staaten gibt es einen parteiübergreifenden Konsens darüber, dass die Aushöhlung des amerikanischen Industriesektors überdacht und die Mittelschicht wieder gestärkt werden muss. Unsere Volkswirtschaft entwickelt sich seit geraumer Zeit zu einer reinen Dienstleistungswirtschaft, während ein Land wie Deutschland seine Produktionsbasis und seinen Wettbewerbsvorteil in Schlüsselbereichen wie der Industrie 4.0 beibehalten hat. In den USA haben wir also die Verbindung zwischen Fertigung und Innovation verloren, die sehr wichtig ist. Ökonomen warnen seit Jahren vor diesem Problem. Nun hat sich die Debatte endlich verändert, was aber nicht heißt, dass es nun leicht wäre, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Vielmehr wird man gewisse Kompromisse eingehen müssen. Wenn man die Abhängigkeit von China verringern will, zum Beispiel bei Batterien – einem Thema, das für die Ambitionen der Biden-Regierung mit Blick auf die Klimapolitik sehr wichtig ist –, dann müssen schlichtweg mehr Batterien in den USA produziert werden. Das erfordert jedoch Abstriche beim ­Umweltschutz.



Ist die Fokussierung auf den Wettbewerb mit China wirklich gerechtfertigt? Manche argumentieren, man mache China damit stärker, als es tatsächlich sei.



Ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. Die Vereinigten Staaten drängen China nicht in eine bestimmte Richtung. China hat seine strategische Vision seit Langem formuliert und setzt diese Vision um, so wie jede andere Großmacht auch. Der Plan der Kommunistischen Partei (KPCh) ging Trump voraus und existierte stets unabhängig von den Ansichten amerikanischer Präsidenten. Das Ziel der KPCh war und ist es, China ins 21. Jahrhundert zu führen, also vor allem das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die wirtschaftlichen Möglichkeiten für die eigene Bevölkerung zu erweitern. Und in gewisser Weise war das ein großer Erfolg. Die Zahl der Menschen, die aus der Armut befreit wurden, ist enorm, und die militärische Modernisierung des Landes ist erstaunlich. So wurde beispielsweise erst vor Kurzem eine Hyperschallrakete erfolgreich getestet, das Atomwaffenarsenal wurde in den vergangenen Jahren ausgebaut. Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten irgendwann bemerkten, was da vor sich ging. Also beschloss man zu sagen: Wir müssen unsere nationale Sicherheit schützen und wir trauen euch nicht mehr. Das war notwendig.



Ich glaube nicht, dass wir Anzeichen dafür gesehen haben, dass die KPCh die Absicht hat, China auf ein politisches und wirtschaftliches System zuzubewegen, das dem unseren ähnelt. Wenn man sich die Art und Weise ansieht, wie Präsident Xi Jinping seine Macht konsolidiert hat, wie er seine Gesellschaft wirtschaftlich und politisch organisieren will, dann unterscheidet sich das dramatisch von dem, was sich die meisten Deutschen und die meisten Amerikaner vorstellen. Ich denke, wir haben deshalb keine andere Wahl, als uns selbst zu schützen und zumindest dafür zu sorgen, dass wir im Westen einen Rahmen schaffen und verteidigen, der die Offenheit und die Freiheiten, die wir schätzen, langfristig bewahren kann.





Ob nach der nächsten Präsidentschaftswahl 2024 Donald Trump oder jemand anderes ins Weiße Haus einzieht, lässt sich heute nicht vorhersagen. Doch angenommen, eine republikanisch geführte Regierung käme ins Amt, wie würden die Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik dann aussehen?



Es ist immer schwierig, in die Kristallkugel zu schauen. Ich denke aber, dass es da womöglich gar keine so großen Überraschungen geben würde. Der Fokus läge auf einem starken Verteidigungshaushalt. Innenpolitisch ginge es darum, Regulierungen abzubauen und Unternehmen mehr Freiräume zu geben. Darüber hinaus würde sich die Regierung dafür einsetzen, dass der Klimawandel als weniger existenzgefährdend angesehen wird – und versuchen, einen Übergang zu vollziehen, der wirtschaftliche und klimatische Anforderungen in Einklang bringt. Ich denke, die Bedeutung von Verbündeten und Partnern würde stärker betont werden, aber auch, dass Lastenteilung eine essenzielle Aufgabe bleibt.



Gleichzeitig würden wir sicher auch eine gewisse Abkehr von multilateralen Organisationen sehen, um Ziele besser und schneller verwirklichen zu können. Und dafür hätte ich viel Verständnis. Denn wenn wir jedes Mal zehn Jahre brauchen, um etwas zu bewegen, dann untergräbt es das Vertrauen in die Demokratie und in das, was Politik leisten kann. Ich weiß, dass das ein ständiger Streitpunkt mit unseren europäischen Freunden ist, aber ich denke auch, dass es auf der internationalen Bühne in Zukunft mehr auf „Koalitionen der Willigen“ hinauslaufen wird, in denen beispielsweise drei Staaten zusammenarbeiten, um etwas zu erreichen, als auf Verbünde von zwölf oder mehr Staaten, die ewig beraten und nie etwas zustande bringen. Die Frustration, die daraus entsteht, wird sich in verschiedenen neuen Kooperationsmodellen kanalisieren. Quad ist ein gutes Beispiel für so ein Format, das bilaterale Bündnis zwischen den USA und Japan ebenso. Darüber hinaus gibt es aber auch noch viele andere Möglichkeiten, in kleineren, flexibleren Koalitionen zu arbeiten.





Inwieweit verändert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die außenpolitischen Prioritäten der USA?



Der Krieg erinnert uns vor allem daran, dass die grundlegenden Annahmen über Macht in der internationalen Politik und speziell über die Rolle militärischer Macht in den zwischenstaatlichen Beziehungen nach wie vor von Bedeutung sind. Wir wurden auch daran erinnert, dass es sehr schwer ist, Abschreckung zu garantieren, wenn man die Grundlagen dafür verloren hat und dass es dann in der Regel einer Reihe von Gegenmaßnahmen bedarf, um dieses Potenzial wiederherzustellen.



Zudem wurden viele Menschen durch die russische Invasion auch an die Bedeutung regionaler Machtverhältnisse erinnert und daran, dass diese sich gegenseitig beeinflussen und schnell aus den Fugen geraten können. Man kann seine Aufmerksamkeit also zum Beispiel nicht einfach auf Asien richten, ohne dass diese neue Prioritätensetzung nicht auch Auswirkungen auf andere Teile der Welt hätte. Ich bin jemand, die glaubt, dass wir diese regionalen Gleichgewichte gleich­zeitig aufrechterhalten müssen: in Asien, in Europa und insbesondere im Nahen ­Osten. Meinem Eindruck nach hat der Krieg den Europäern bewusst gemacht, dass Stärke wichtig ist und dass die Fähigkeiten der NATO ebenfalls wichtig sind, auch wenn sie hoffentlich nicht auf die Probe gestellt werden. Wir haben viele Jahre lang versucht, konstruktiv mit Russland zusammenzuarbeiten, aber das hatte keinen Erfolg.





Einige republikanische Außenpolitiker argumentieren, dass der europäisch-transatlantische Raum und der asiatisch-indopazifische Raum nicht als zusammenhängendes strategisches Operationsgebiet betrachtet werden können. Sie plädieren dafür, US-Ressourcen auf den letzteren zu konzen­trieren, um China entgegenzutreten. Wie sehen Sie das?



Ich denke, die beiden Schauplätze sind sehr stark miteinander verbunden. Das liegt an der Natur von Machteinflüssen im internationalen System: Sie prägen eine Region, und das beeinflusst dann auch andere Regionen. Eine Strategie ist nie statisch, sondern wird durch die Handlungen der verschiedenen Akteure in den verschiedenen Regionen bestimmt. Das heißt aber nicht, dass die Instrumente immer die gleichen sind. Vielmehr muss man seinen Werkzeugkasten ständig anpassen. Es gibt immer dieses Bestreben, Prioritäten zu setzen und alles andere zu vergessen. Aber Prioritäten zu setzen bedeutet nicht, dass man den ganzen Rest einer Agenda streichen oder auf später verschieben kann. Man braucht verschiedene Werkzeuge, um zu verschiedenen Zeiten auf den verschiedenen Schauplätzen agieren zu können. Die Chinesen werden sich derzeit sicherlich genau anschauen, was in Europa passiert. Sie lernen und passen sich an, und die KPCh wird diese Lektionen sicherlich auf den pazifischen Raum übertragen. Sie betrachten den europäischen und den asiatischen Raum nicht als separate Einflusssphären.





Präsident Donald Trump war kein Fan von Deutschland – und Umfragen haben gezeigt, dass sich seine ständige Kritik negativ auf das Deutschland-Bild vieler Amerikanerinnen und Amerikaner ausgewirkt hat. Glauben Sie, dass sich das wieder ändert, wo nun Berlin so viel mehr Geld für Verteidigung ausgibt?



Der Schlüssel wird in der Nachhaltigkeit dieses neuen deutschen Ansatzes liegen. Was kommenden Winter passiert, wird uns darüber neue Aufschlüsse geben. Denn dann werden wir wahrscheinlich erleben, wie der Wunsch vieler Deutscher, ihre defensive Sicherheitsrolle in Europa und der NATO zu überdenken, mit den Realitäten der Energie- und Klimasituation kollidiert. Vor uns liegt also noch ein langer Weg, und ein nachhaltiger Wandel in Deutschland wird womöglich noch etwas auf sich warten lassen. Nicht, dass ich nicht möchte, dass dieser Wandel stattfindet. Im Gegenteil, ich halte ihn für sehr wichtig. Aber es wird ein harter Kurswechsel für Deutschland sein, speziell in der Kommunikation nach innen. Deshalb hege ich eine gesunde Skepsis.



Mehr noch: Ich glaube, dass in Europa in den kommenden Jahren ein schockierender Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität entstehen wird. Europa wird beispielsweise erkennen müssen, dass es seine klimapolitischen Formeln umschreiben muss, wenn es seine Ziele wirklich erreichen will. In Deutschland und in anderen europäischen Ländern scheint es einen starken Widerstand dagegen zu geben, das anzuerkennen. Wer jedoch tatsächlich glaubt, dass der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung ist, der braucht einen realistischen Weg zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen und Pfade, die anerkennen, dass es auf diesem Weg auch andere Technologien gibt, deren Nutzung man erwägen muss.





Wie kann das transatlantische Verhältnis am besten gepflegt werden?



Die transatlantischen Beziehungen lassen sich am besten aufrechterhalten, indem man die Werte und Interessen anerkennt, die die Vereinigten Staaten, Deutschland und ihre europäischen Partner teilen. Grundsätzlich geht es uns um die Freiheit, um die Möglichkeit, sich als Mensch zu entfalten, um indivi­duelle Rechte und Würde. Natürlich machen wir nicht alle die gleiche Politik, und es gibt Unterschiede in unseren Ansätzen. Daraus ergeben sich wiederum einige der Spannungen, die wir in den vergangenen Jahren gesehen haben. Aber offen gesagt gibt es auch innerhalb der EU und in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten Spannungen.



Was die Rolle der EU in den transatlantischen Beziehungen angeht, sind meine Ansichten gemischt. Das Projekt der EU bestand darin, die eigene Macht zu konsolidieren. Meiner Meinung nach werden die bereits genannten Rechte und Interessen aber am besten geschützt, wenn die Macht eher nationalstaatlich organisiert ist. Die EU kann eine konstruktive Rolle spielen, wenn es darum geht, Lösungen für einige der zentralen Probleme zu finden, über die wir gesprochen haben. Zum Beispiel kann sie die Europäerinnen und Europäer zusammen mit der NATO daran erinnern, dass auch sie eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des europäischen Kräftegleichgewichts spielen müssen. Und obwohl das nicht einfach ist, könnte die EU sich dabei auch mehr auf Ergebnisse konzentrieren, anstatt sich auf Prozesse zu versteifen. Ich denke auch, dass die EU in Betracht ziehen könnte, sich grundlegend zu erneuern. Außerdem sollten die Sorgen vieler Europäer in den einzelnen Ländern berücksichtigt und nicht als „populistisch“ abgetan werden, ohne sich die Umstände anzusehen, die vielerorts in Europa – und auch in den USA – zur Frustration der Menschen geführt haben. Die Sorgen ernst zu nehmen, ist der erste Schritt zu einer konstruktiven Lösung der Probleme.





Reicht das aus, oder muss Europa häufiger eine Führungsrolle übernehmen?



Ich denke, die Europäerinnen und Europäer können in vielerlei Hinsicht führen. Wir haben beispielsweise jahrelang unsere Besorgnis über Chinas Belt and Road Initiative geäußert und diskutiert, wie der Westen selbst Initiativen zur Förderung von Infrastrukturprojekten in der ganzen Welt ergreifen könnte. Gerade die Europäer haben hier viele Stärken und könnten eine wichtige Rolle spielen – und tun das auch schon. Und auch in Sachen Ernährungssicherheit in Afrika und in anderen Teilen der Welt könnte die EU eine führende Rolle übernehmen. Ich denke aber, dass die Europäer dafür ihre Methoden und Strategien verändern werden müssen. So haben sich meines Wissens viele europäische Länder lange Zeit gegen die Verwendung gentechnisch veränderter Organismen gewehrt – und das vor allem aus innenpolitischen Gründen. Viele Experten weisen jedoch darauf hin, dass solches Saatgut für Länder, die die Ernährung ihrer Bevölkerung sicherstellen wollen, von großem Nutzen sein könnte.



Mit Blick auf Afrika und den Klimawandel könnten die Europäer auch dabei helfen, neue Wirtschaftssektoren aufzubauen – und das nicht nur durch die Kürzung von Mitteln für fossile Energieträger wie beispielsweise Erdgas. In der Praxis bedeutet das nämlich, dass viele afrikanische Staaten fortan auf Kohle angewiesen sind. Der senegalesische Energieminister hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Einschränkung der Kreditvergabe für die Erschließung von Erdöl- und Erdgasvorkommen so sei, als nehme „man uns die Leiter weg und fordere uns dazu auf, stattdessen zu springen oder zu fliegen“. Das hat mich wirklich beeindruckt. Nigerias Vizepräsident hat sich ähnlich geäußert. Die Europäer könnten also eine Führungsrolle einnehmen, wenn es darum geht, verschiedene außenpolitische Politikfelder „aufzufrischen“: bei der Ernährungssicherheit, beim Klima, bei klassischen und bei digitalen Infrastrukturprojekten.





Lautet Ihr Rat also, dass die Europäer amerikanischer werden sollten?



(Lacht) Nein! Auf keinen Fall! Wir alle mögen und brauchen Vielfalt! Und stellen Sie sich vor, das europäische Brot würde amerikanischer! Ich denke, wir sollten einfach weniger auf Prozesse und stärker auf Ergebnisse fokussiert sein und aktiv neue Ansätze ausprobieren, die nicht auf Institutionen und alte Ansätze zurückgreifen, die nicht das erreicht haben, was viele in Europa erreichen wollen. Kurz gesagt: Wir sollten offen sein für neue Wege – und mehr Bereitschaft zeigen, in kleineren Koalitionen zu arbeiten. Ich weiß, dass das schwierig ist, weil die EU im Grunde als Konsensinstitution konzipiert ist. Aber vielleicht gibt es Koalitionen von europäischen Akteuren, die die Dinge effektiver und schneller und in einem vernünftigen Zeitrahmen erledigen können. Denn wenn wir keine Ergebnisse erzielen, wenn wir nur reden und reden, dann werden wir sehen, dass die systemische Rivalität mit China, die ja auch von der EU so benannt wird, für uns im Westen nicht unbedingt gut enden wird. Wir müssen bereit sein, neue Ansätze auszuprobieren, um unsere Ziele zu erreichen und die Werte und Interessen, die wir teilen, zu wahren.





Das Interview führten Henning Hoff, Uta Kuhlmann, Joachim Staron und Hannah Dorgeist.

Aus dem Amerikanischen von Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 24-31

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