»Wir sind alle Entwicklungsländer«
Hilft Entwicklungshilfe überhaupt? Ja - wenn sie auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt
Hilft Entwicklungshilfe überhaupt? Der Streit darüber wird derzeit wieder heftig geführt. Die Meinungen reichen von „viel mehr Geld investieren“ bis zu „total abschaffen“. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit setzt seit langem erfolgreich auf das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe – was simpel klingt, aber in der Praxis schwer zu verwirklichen ist.
Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass man die Menschen das Fischen lehren sollte, anstatt ihnen den Fisch zu geben: ein passendes Bild für das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn wir uns das Bild aber weiter ausmalen, geht es bald um sehr viel mehr als Fisch, und die Aufgabe wird zunehmend anspruchsvoller. Denn das Vermitteln des Fischens allein genügt nicht. Die Menschen müssen auch verstehen, wie man eine Angel, ein Netz oder ein Boot herstellt und instandhält. Sie müssen lernen, sich selbst zu organisieren und die Fischgründe untereinander gerecht aufzuteilen. Sie müssen Spielregeln vereinbaren, um beispielsweise das Überfischen zu vermeiden, sie müssen lernen, mit neuen Herausforderungen oder Konflikten umzugehen, die sie jetzt noch gar nicht absehen können. Und bevor man bestimmte Fertigkeiten vermittelt – was genauso wichtig ist und doch immer wieder vergessen wird – bevor man also den Menschen das Fischen beibringt, muss man ihnen die Frage stellen, ob sie überhaupt Fisch essen wollen – oder nicht viel lieber Fleisch oder Gemüse.
Was hier so trivial klingt, nämlich die Artikulation der eigenen Interessen und Ziele, ist in der Praxis häufig ein schwieriger Prozess. Aber gleichzeitig ist das eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg. In einem kleinen Fischerdorf lässt sich diese Aufgabe noch relativ einfach bewältigen – weshalb sich die Entwicklungszusammenarbeit auch zu lange auf diese überschaubaren Räume zurückgezogen hat. Doch diese Fragen für ein ganzes Land zu beantworten und einen gesellschaftlichen Reformprozess anzustoßen, der eine ganze Gesellschaft mit ihren Werten, Wünschen, Interessen und Organisationen umfasst, ihre eigenen vorhandenen Fähigkeiten und Spielregeln berücksichtigt, die weit über die Frage von Fisch oder Fleisch hinausgehen, das ist eine komplexe politische Aufgabe – und der Ausgangspunkt zum Verständnis von Capacity Development. In der internationalen Diskussion bezeichnet man so die politische und gesellschaftliche Organisation von Selbsthilfe. Es geht dabei um die Fähigkeit einer ganzen Gesellschaft, ihre eigene Entwicklung in die Hand zu nehmen, auf Krisen, Konflikte und Hindernisse angemessen zu reagieren und die eigenen Veränderungs- und Reformprozesse zu managen.
Um beispielsweise jedem Kind Zugang zur Primarschulbildung zu ermöglichen, wie es die UN-Millenniumsziele fordern, müssen in den Partnerländern Reformen im Schulsystem und in der Gesellschaft insgesamt stattfinden. Für jedes einzelne Land wirft eine solche Reform jedoch schwierige Fragen auf: Wie viele Schulen und Lehrer sind für eine flächendeckende Versorgung notwendig, und wie lässt sich diese nachhaltig finanzieren? Wie können Qualität und Motivation der Lehrer erhöht werden? Was muss sich in der Verwaltungs- bürokratie ändern, um das Qualitätsniveau zu steigern? Müssen Lehrpläne oder Gesetze geändert werden? Wie viel Verantwortung können Schulleiter, Lehrer und Eltern vor Ort selbst übernehmen? Und schließlich, wie können traditionelle Verhaltensweisen geändert werden, damit die Kinder – Jungen wie Mädchen – auch tatsächlich regelmäßig in die Schule geschickt werden?
Das sind wesentliche Fragen. In einer häufig unübersichtlichen Lage müssen politische Entscheidungsträger, Vertreter der Bürokratie, Lehrergewerkschaften und Elternverbände – soweit überhaupt vorhanden – identifiziert und in den Prozess eingebunden werden. Sie müssen einen tragfähigen Konsens erarbeiten, auf dessen Grundlage eine Eigenverantwortung entstehen kann, die für die Umsetzung solcher Reformen notwendig ist. So betonte der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan immer wieder, dass jedes Entwicklungsland die Hauptverantwortung für seine Entwicklung selbst trage. Wenn der Wille und die Eigenanstrengungen im Land selbst nicht vorhanden sind, läuft alle Unterstützung von außen ins Leere. Eigenverantwortung und politisches Stehvermögen können jedoch nicht einfach vorausgesetzt, sondern sie müssen immer wieder neu hergestellt werden, insbesondere dann, wenn sich erste Probleme und Rückschläge abzeichnen. Lehrergewerkschaften können plötzlich streiken; konfessionelle Schulen nutzen die Chance und entziehen sich gemeinsamen Lehrplänen und Bildungsinhalten. Politische Machtverhältnisse im Land verschieben sich.
Häufig verändern sich die Ziele im Laufe der Zeit, und Reformen müssen nachgebessert und nachverhandelt werden. Das erfordert Anpassungsfähigkeit, politisches Management und Verhandlungsgeschick. Es erfordert die Fähigkeit, viele einzelne finanzielle, organisatorische und institutionelle Beiträge zusammenzuführen und den Prozess ihres Zusammenwirkens zu organisieren. Hieran mangelt es häufig am meisten in den Partnerländern, und hier setzt die „Hilfe“ zur Selbsthilfe an: Solche Reformprozesse lassen sich nicht allein über Geldtransfer und Konditionalitäten von außen unterstützen. Die Länder, ihre Menschen und Organisationen benötigen vielmehr professionelle Begleitung und zuverlässige Beratung. Ein Unternehmen, das diese Aufgabe im Auftrag der Bundesregierung wahrnimmt, ist die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Ihr wird international eine hohe Wirksamkeit bei der Unterstützung von Capacity Development bescheinigt, was sich auch in der Nachfrage nach ihren Leistungen durch andere Geber ausdrückt. Diese Wirksamkeit ist neben ihrer langjährigen Erfahrung vor allem auf ihr Grundverständnis von Entwicklung und auf eine Reihe komparativer Vorteile ihrer Arbeitsweise zurückzuführen.
Grundlegend für die Arbeitsweise der GTZ zur Unterstützung von Capacity Development ist, dass sie Entwicklung als einen permanenten Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen versteht. Dabei erfordert eine gerechte und nachhaltige Entwicklung, dass insbesondere die benachteiligten Bevölkerungsgruppen dabei unterstützt werden, ihre Interessen zu artikulieren und zu vertreten. Diese offenen politischen Prozesse sind vorab kaum planbar und prognostizierbar. Ihre Begleitung verlangt ein hohes Maß an Flexibilität, langfristige Präsenz vor Ort und einen langen Atem. Die Berater arbeiten in einem komplexen, oft von internen Interessenkonflikten und interkulturellen Spannungen gekennzeichneten Umfeld. Diese Fachkräfte vermitteln als unabhängige Moderatoren zwischen den verschiedenen Akteuren aus Staat, Gesellschaft und Privatwirtschaft oder sie fördern Kooperationen verschiedener Länder des Südens. Dabei vertreten die Mitarbeiter der GTZ die Werte und Grundsätze der Bundesregierung, beispielsweise wenn es in traditionellen Gesellschaften darum geht, den Bildungszugang auch für Mädchen zu sichern.
Capacity Development als Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung
Vor dem Hintergrund dieser praktischen Herausforderungen stellen sich die anfangs formulierten Grundsatzfragen erneut: Brauchen wir mehr Geld? Oder mehr Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne der Unterstützung von Capacity Development? Oder sollte die Entwicklungshilfe ganz eingestellt werden, weil sie mehr schadet als nützt? Um die Antwort vorwegzunehmen: Alle drei Optionen haben ihre Berechtigung. Dabei geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern vielmehr darum, Geld und Capacity Development in Einklang zu halten – aber auch in Einzelfällen die Unterstützung vorübergehend ganz einzustellen. Denn in Ländern, wo autoritäre Regime regieren, die Eliten korrupt oder Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, kann entwicklungspolitisches Engagement die herrschende Regierung stärken und die eigene Glaubwürdigkeit verspielen.
Sie kann dort aber auch Demokratisierungsprozesse anregen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen zur Seite stehen. Aus diesem Grund muss sich die Entwicklungszusammenarbeit die Möglichkeit einer Fortsetzung oder einer völligen Einstellung der Hilfe unter bestimmten Bedingungen und für bestimmte Länder offenhalten, ohne ihre unverbrüchlichen Werte preiszugeben. Eine komplette Abschaffung der Entwicklungspolitik kann nur ein naiver Kritiker nach den Erfahrungen vor allem der letzten Jahre ernsthaft fordern. Denn den Ländern des Südens bleiben im Gegensatz zum Norden keine 400 Jahre Zeit, um sich zu entwickeln. Der Norden ist dazu verpflichtet, sie dabei zu unterstützen, damit sie nicht die gleichen, zum Teil fatalen Fehler begehen, die die Entwicklungsprozesse in den Industrieländern begleitet haben – und zwar durchaus auch im eigenen Interesse, denn dramatische Umweltbelastungen oder die Eskalation lokaler Konflikte tangieren in der globalisierten Welt rasch alle. In vielen Fällen ist es das Engagement westlicher Vertreter vor Ort, das verhindert, dass zum Beispiel Naturkatastrophen schlimmste Ausmaße für die lokale Bevölkerung annehmen.
Geld ist nach wie vor notwendig, um Reformen zu finanzieren. Aber trotz des lautstarken Aktionismus von Philanthropen wie Jeffrey D. Sachs, Bono & Co: Geld allein ist nicht der entscheidende Entwicklungsfaktor, und mehr Geld führt nicht zwangsläufig zu nachhaltigerer Entwicklung. Um finanzielle Mittel überhaupt effektiv einsetzen zu können, bedarf es bestimmter Schlüsselfähigkeiten. Das gilt für die Partnerländer übrigens ebenso wie für Deutschland selbst: Man betrachte nur die ernüchternde Entwicklung in den neuen Bundesländern trotz der Milliardeninvestitionen der vergangenen zwei Jahrzehnte. So argumentieren auch erfahrene Wissenschaftler wie etwa Franz Nuscheler: „Es bringt nichts, allein mehr Geld [nach Afrika] zu schieben, solange die Strukturen fehlen, um das Geld vernünftig einzusetzen. Wenn eine grundlegende Gesundheitsversorgung fehlt, wenn es nicht einmal gelingt, Grundschulen zu organisieren, dann ist mehr Geld einfach nutzlos. Dann müssen erst einmal Strukturen geschaffen und Organisationen aufgebaut werden.“1 So sind in den Entwicklungsländern Konzepte, die der Logik eines Marshall-Plans folgten, in fast allen Fällen gescheitert. In diesem Zusammenhang sind auch die international zunehmenden Bedenken gegen Budgethilfe zu sehen: Ungeklärte Armutswirkungen, die Korruptionsgefahr und die Gefahr, Anstrengungen zur Mobilisierung eigener Ressourcen zu vernachlässigen, sprechen gegen einen schlichten Mitteltransfer.
Diese Beobachtungen unterstreichen die entscheidende Bedeutung von Capacity Development. Denn Voraussetzung für eine tragfähige und nachhaltige Entwicklung ist nicht mehr allein der technische, sondern vor allem der politische Fortschritt in den Ländern. Ziel der Entwicklungszusammenarbeit muss die Gestaltung von Reformprozessen sein, von politischen Veränderungen und den damit verbundenen Verhaltensänderungen. Eine Unterstützung von außen kann nur im jeweiligen Länderkontext und unter Berücksichtigung der politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten des Landes erfolgreich sein. Es besteht Einigkeit darüber, dass es keine Patentlösungen geben kann und eine ignorante Übertragung westlicher Modelle häufig verheerende Folgen hat, wie beispielsweise die schlechten Erfahrungen mit dem neoliberalen Washingtoner Konsens vielfach belegen.
Die internationale Gemeinschaft denkt zurzeit intensiv darüber nach, wie sich die Wirksamkeit und Effektivität der Entwicklungszusammenarbeit erhöhen lässt. So werden die Partnerländer und die Gebergemeinschaft in der „Paris Declaration on Aid Effectiveness“ von 2005 aufgefordert, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen effektiver und wirksamer einzusetzen. Capacity Development nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Geber wie Partner wollen ihr Verständnis und ihren Ansatz zur Unterstützung von Capacity Development gemeinsam weiterentwickeln. Gleichzeitig muss die Entwicklungszusammenarbeit mit den an sie gestellten, überzogenen Forderungen nach schnellen Lösungen und Instantwirkungen offen umgehen und diese auf ein realistisches Maß zurückschrauben. Dort, wo die Entwicklungszusammenarbeit die Anforderungen erfüllt hat, muss sie ihre Erfolge besser und nachvollziehbarer vermitteln. Und schließlich muss die Entwicklungspolitik mit anderen Politikfeldern, wie beispielsweise der Agrar-, der Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik, kohärent zusammenarbeiten. Denn um optimale Ergebnisse zu erreichen, müssen alle an einem Strang ziehen. Um es provokant zu formulieren: Es bedarf des Capacity Developments auch in den Geberländern. Wie sagte Nelson Mandela? „Wir sind alle Entwicklungsländer, nur auf unterschiedlichem Niveau.“
Äthiopien: Das Lernen ist eine Baustelle
Eine Großbaustelle in Adama, Äthiopien: Das Baugerüst aus reinem Eukalyptusholz, Arbeiter in Plastikschlappen, schiefe Pfeiler. Hier entsteht eine Universität – das größte Bauprogramm im Hochschulsektor Äthiopiens und Teil eines umfassenden Reformvorhabens. Das Lernen wird nicht erst in den Hörsälen und Seminarräumen beginnen, die hier entstehen. Schon auf der Baustelle geht es los. Fachleute aus Deutschland sollen dazu beitragen, neue und effiziente Arbeitsstandards einzuführen. Dazu wird auf lange Sicht gewiss auch eine nachhaltig nutzbare und damit preiswertere Technik mit Stahlgerüsten gehören – gerade in einem Land, das vom Abholzen bedroht ist.
Die Universität von Adama ist eine von 13 Hochschulen, die derzeit im Land entstehen. Das vor einem Jahr gestartete „University Capacity Development Program“ koordiniert die Arbeit. Die GTZ hat von der Regierung in Addis Abeba den Auftrag bekommen, das 250 Millionen Euro umfassende und komplett von Äthiopien bezahlte Programm zu steuern und die Aufträge zu vergeben. Ein Großteil geht an kleinere und mittlere äthiopische Unternehmen. Sie erfahren auf drei Ebenen ein Training on the Job: Deutsche Handwerksmeister bilden die Vorarbeiter auf der Baustelle aus, Architekten betreuen die Leitung der Baufirma vor Ort, und Unternehmensberater führen die Betriebe an eine Zertifizierung nach internationalen ISO-Standards heran. Das University Capacity Development Program ist Bestandteil des „Engineering Capacity Development Program“, mit dem die GTZ im Auftrag des BMZ eine umfassende Wirtschaftsreform in Äthiopien vorantreibt.
Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)
Als weltweit tätiges Bundesunternehmen der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung unterstützt die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH die Bundesregierung bei der Verwirklichung ihrer entwicklungspolitischen Ziele. Sie bietet zukunftsfähige Lösungen für politische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklungen in einer globalisierten Welt und fördert komplexe Reformen und Veränderungsprozesse auch unter schwierigen Bedingungen. Ihr Ziel ist es, die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig zu verbessern.
Die GTZ ist ein Bundesunternehmen mit Sitz in Eschborn bei Frankfurt am Main. Sie wurde 1975 als privatwirtschaftliches Unternehmen gegründet. Ihr Hauptauftraggeber ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Darüber hinaus ist sie tätig für andere Bundesressorts, für Regierungen anderer Länder, für internationale Auftraggeber wie die Europäische Kommission, die Vereinten Nationen oder die Weltbank sowie für Unternehmen der privaten Wirtschaft. Die GTZ nimmt ihre Aufgaben gemeinnützig wahr. Überschüsse werden ausschließlich wieder für eigene Projekte der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung verwendet.
In mehr als 120 Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas, den Transformationsländern Osteuropas und den Neuen Unabhängigen Staaten beschäftigt das Unternehmen gut 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; davon sind fast 9000 einheimische Kräfte. Die GTZ ist in 67 Ländern mit eigenen Büros vertreten. In der Zentrale in Eschborn arbeiten rund 970 Personen. Außerdem sind 365 Mitarbeiter in überregionalen Projekten an verschiedenen Standorten in Deutschland tätig.
THOMAS WOLF, geb. 1971, arbeitet zurzeit als Policy-Berater in der Stabsstelle Unternehmensentwicklung, Gruppe Strategie und Politik, der GTZ.
- 1Franz Nuscheler in der ZEIT vom15.9.2005.
Internationale Politik 12, Dezember 2007, S. 24 - 31.