Interview

01. Sep 2020

„Wir erleben Europa häufig unbewusst“

Interview mit Anna-Lena Rose und Markus Schneider (JEF)

Europaschulen, Europa-Studiengänge, Erasmus: Formal bietet die EU jungen Menschen im Ruhrgebiet einiges an. Doch wie kommt das bei denen an? Zwei Vertreter der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) im Gespräch.

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Bild: Porträts der beiden Interviewten, Frau Rose und Herr Schneider
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Internationale Politik: Frau Rose, Herr Schneider, was war Ihr persönlicher „Europa“-Moment, wann haben Sie beschlossen, sich für die EU zu engagieren?

Anna-Lena Rose: Bei mir war es nicht unbedingt ein konkreter Moment. Ein Teil meiner Familie lebte in England, und für mich war es immer ganz selbstverständlich, mit meinen Eltern im VW-Bus überall in Europa herumzufahren und Freunde in vielen europäischen Ländern zu haben. Ich habe Europawissenschaften studiert, unter anderem in den Niederlanden und Großbritannien. Die JEF habe ich während meines Studiums in Münster kennengelernt. Engagiert für Europa habe ich mich also schon länger, aber als im Zuge der großen Migrationsbewegung viel Europakritik aufkam, dachte ich: „Aha, so selbstverständlich ist das offenbar doch nicht alles. Es wird Zeit, etwas zu tun.“

Markus Schneider: Ich würde mich auch als Herzens-Europäer bezeichnen, ohne dass es da ein besonders einschneidendes Erlebnis gegeben hätte. In den Krisen, die wir ab 2008 erlebt haben, wurde auch bei mir der Wunsch größer, etwas zu bewegen in Europa – auch um der Europaskepsis entgegenzuwirken. Da passte es gut, dass ich auf dem Campus in Bochum vom JEF-Landesgeschäftsführer Simon Gutleben angesprochen wurde.

Wie lässt sich eine Generation, die nach Ende des Kalten Krieges geboren ist, für die EU erwärmen? Sind es formale Angebote wie Europaschulen, Europa-Studiengänge, Erasmus-Programme, oder sind es eher ideelle Werte? Spielt so etwas wie der Friedensgedanke oder die Gründung der EU noch eine Rolle, Stichwort „Montanunion“?

Rose: Fürs Ruhrgebiet ist die Montanunion historisch unheimlich wichtig. Und bei der Gründung der JEF 1949 war das Thema Frieden aus naheliegenden Gründen noch allgegenwärtig. Heute ist das nicht mehr so präsent, und es ist nichts, was junge Leute wirklich persönlich betrifft. Ich glaube aber, dass man zwischen diesen „formalen“ Angeboten und den „ideellen“ Werten gar nicht so trennen kann. Durch Erasmus, durch Europaschulen, durch europäische Studiengänge werden eben auch ideelle Werte geprägt, weil dadurch Europa „erlebbar“ gemacht wird.

Schneider: Auch die Inhalte von Studiengängen spielen da eine Rolle. In meinem Masterstudiengang Wirtschaft lernen wir viel über europäisches Recht und wie es sich auf Waren- oder Güterverkehr auswirkt. Und daran sieht man dann auch wieder, wie wichtig all das für uns im Alltag ist – auch wenn es manchmal gar nicht so ersichtlich ist.

Rose: Ich glaube, das ist der Punkt: Die Vorteile der EU sind für viele selbstverständlich geworden, und durch diese formalen Angebote bringt man sie den Leuten noch mal etwas stärker ins Bewusstsein.

Erleben denn junge Menschen im Ruhrgebiet die EU in ihrem Alltag?

Rose: Das schon, aber ist ihnen das auch bewusst? Gerade das Ruhrgebiet als wirtschaftlich eher schwach gestellte Region profitiert erheblich vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Wenn man genauer hinschaut, sieht man überall die kleinen Schilder à la: „... wurde mitfinanziert von der EU“. Außerdem wohnen wir hier relativ grenznah, fahren zum Einkaufen in die Niederlande und nach Belgien, haben jederzeit Produkte aus Europa und der Welt verfügbar. Wir erleben Europa ständig im Alltag, aber oft unbewusst.

Nun muss man dazusagen, dass wir als JEF-Mitglieder uns vergleichsweise intensiv mit europäischen Themen und der Bedeutung der EU für unser Leben auseinandersetzen. Zudem studieren viele von uns oder haben studiert und sind so mit formalen Angeboten der EU wie Erasmus in Kontakt gekommen. Deshalb können wir nicht ohne Weiteres für alle jungen Menschen im Ruhrgebiet sprechen.

Konzentriert sich die EU bei ihrem Werben für Europa zu stark auf den akademischen Nachwuchs?

Schneider: Ja. An der Uni wird oft Bezug genommen auf europäische Gegebenheiten, nicht nur bei europaspezifischen Studiengängen. Aber in der Ausbildung kommt das oft zu kurz. Nur ein Beispiel: Viele Ausbildungsplätze werden durch den EU-Strukturfonds geschaffen. So etwas müsste an den Berufsschulen ins Curriculum: Was bringt mir die EU?

Rose: Ich glaube auch, dass es manchmal nicht genügt, nur Angebote zu machen; man muss auch aktiv auf die Leute zugehen. Die EU hat ja mit Erasmus+ ein Programm für Auszubildende. Aber noch fehlen da Infrastruktur und Unterstützung, die Abstimmung mit den Betrieben ist schwierig, und die Ausbildungssysteme sind sehr unterschiedlich. Das macht es für Auszubildende nicht leichter, das Programm zu nutzen. Da muss die EU offensiver vorgehen und besser informieren …

Schneider: … und möglichst nicht im akademischen Stil, sondern in einer verständlichen Sprache.

Rose: Ja, die EU ist komplex, und ihre Sprache ist es auch. Für viele Menschen macht es das schwierig zu begreifen, worum es da eigentlich geht.

Was sind denn die wichtigsten Kritikpunkte junger Menschen in der Region an der EU?

Rose: Das hängt davon ab, mit wem man spricht. Fragt man Leute, die sich viel mit dem Thema Europa auseinandersetzen, dann bekommt man andere Antworten als von denen, die das nicht tun. Wir als JEF etwa fordern ein offeneres, demokratischeres und gerechteres Europa; wir kritisieren die relativ schwache Stellung des direkt gewählten Europäischen Parlaments bei der Gesetzgebung. Die Kritik junger Menschen, die sich nicht so sehr mit Europa beschäftigen, zielt eher auf die Finanzkrise oder Migrationsbewegungen nach Europa. Der Gedanke, dass die EU zur Problemlösung beitragen könnte, wenn die Mitgliedstaaten sie nur ließen, ist leider nicht so verbreitet.

Schneider: Das hat natürlich mit dieser fast zum Dogma gewordenen Praxis der nationalen Regierungen zu tun, Misserfolge zu europäisieren und Erfolge zu nationalisieren. Und mit der mangelnden Fähigkeit der EU, die Vorteile einer Mitgliedschaft zu vermitteln. Allerdings gibt es auch völlig berechtigte Kritikpunkte: etwa die EU-Dublin-Verordnung, wonach diejenigen Mitgliedstaaten für die Migranten zuständig sind, in denen diese gelandet sind.

Rose: „Dublin“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass Mitgliedstaaten sich davor scheuen, eigene Souveränität abzugeben – und das an einer Stelle, wo es sinnvoll wäre. Die Dublin-Verordnung wird ja seit Jahren von Mittelmeeranrainern wie Italien und Griechenland kritisiert. Aber die Mitgliedstaaten, die sich im Inneren der EU befinden, etwa Deutschland, sehen keinen Reformbedarf – warum auch, sie profitieren ja von der Regelung. Als sich 2015 dann herausstellte, dass Dublin nicht funktioniert, hieß es schnell, dass Brüssel schuld sei. Dabei ist nicht die EU das Problem, sondern die Blockade von Initiativen und Gesetzesentwürfen durch einzelne Mitgliedstaaten. Generell glauben wir, dass zu viel in der EU national organisiert ist – und zu viel national diskutiert wird.

 

Auch in der Corona-Krise haben sich die EU-Mitgliedstaaten von ihrer schlechten, weil egoistischen Seite gezeigt – zumindest am Anfang. Wie ist das bei Ihnen angekommen?

Schneider: Wir waren einigermaßen wütend auf die Länder, denen erstmal nichts Anderes einfiel als ihre Grenzwälle hochzuziehen. Und auch hier kann man nicht sagen, dass die EU schuld war. Brüssel hat früh genug gewarnt – die nationalen Verantwortlichen haben nur nicht auf die Warnungen gehört.

Rose: Man könnte auch mal fragen, warum man sich nur an den nationalen Grenzen orientiert hat. Als die Fallzahlen stiegen, wäre es ja auch denkbar gewesen, Bundesländer wie Bayern und NRW abzuschotten. Andererseits konnten die Mitgliedstaaten nur so handeln, weil die EU, wie sie momentan ist, eben so ihre Schwächen hat. Wir jungen europäischen Föderalisten sind ja proeuropäisch, aber nicht unkritisch. Wir wollen, dass die EU sich weiterentwickelt. Und da könnte Corona auch eine Chance für Europa sein: zu begreifen, wo man in Zukunft stärker zusammenarbeiten muss. Da gab es ja auch schon interessante Vorschläge von der Kommission.

Laut der Shell-Jugendstudie 2019 stehen die Themen Migration und Asyl, Klima und Umwelt sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik auf der Prioritätenliste junger Europäer ganz oben, gefolgt von Lohngleichheit und Geschlechtergerechtigkeit. Deckt sich das mit den Themen, die den Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet besonders wichtig sind?

Rose: Hier steht das Thema Klima ganz vorne, sowohl bei den JEF als auch bei den jungen Menschen insgesamt. Die widmen sich dem Thema mit einer Unbedingtheit, dass ich mich mit meinen 28 Jahren oft regelrecht alt fühle. Ich finde das großartig. Und dann natürlich Migration und Asyl – alles Probleme, die miteinander verknüpft sind und die einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit bedürfen.

Schneider: Gerade die Integration von Flüchtlingen ist hier im Ruhrgebiet ein wichtiges Thema. Es gibt da schon das eine oder andere EU-Projekt, aber wir glauben, da ließe sich noch mehr machen.



Wenn Klima das wichtigste Thema ist: Wird so etwas wie der European Green Deal als echter Fortschritt wahrgenommen oder als die Art von Schaufensterpolitik, die doch nichts ändert?

Schneider: Der Green Deal wird definitiv positiv gesehen, nicht nur als Fassade. Wir hoffen da auf einen erheblichen Innovationsschub und darauf, dass die EU bei den alternativen Energien eine gewisse Vorreiterrolle einnimmt.

Und wie sieht es mit Lohngleichheit und Geschlechtergerechtigkeit aus?

Rose: Grundsätzlich spielen Gerechtigkeitsfragen im Ruhrgebiet eine große Rolle, ob es um Löhne geht, um ungerechte Besteuerung oder um Steueroasen. Gerade weil man hier als einfacher Bürger oft das Gefühl hat, benachteiligt zu werden. Das Ruhrgebiet ist eine Region im Wandel, und man erwartet hier, dass Europa uns unterstützt bei einer sozial gerechten Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Und dann ist da noch das Stichwort „Sicherheit“: finanzielle Sicherheit für Familien und kleine Unternehmen, aber auch Schutz vor Terrorismus.

Wenn Europa die jungen Menschen überzeugen will, dann braucht es mehr Partizipation, mehr Information, mehr Bildungsarbeit. Es müssten noch viel mehr Möglichkeiten geschaffen werden, Europa zu erleben, mehr Mobilität, mehr Austausch. Es ist wichtig, alle mitzunehmen, nicht nur die, die sich sowieso schon für Europa interessieren. Gerade hier im Ruhrgebiet.

Die Fragen stellte Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

IP Special 01, September 2020, S. 22-25

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