Interview

26. Febr. 2021

„Wir brauchen Zugang!“

Im Norden Äthiopiens leiden Zehntausende Flüchtlinge große Not. Zwei Camps wurden zerstört, es herrschen Hunger und Verzweifung. Hilfsorganisationen stehen bereit, bekommen aber keinen Zugang zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten in Tigray. Ein Interview mit dem UNHCR-Vertreter Chris Melzer.

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Bild: Chris Melzer im Gespräch mit äthiopischen Flüchtlingen
UNHCR-Vertreter Chris Melzer im Gespräch mit äthiopischen Flüchtlingen
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IP: Herr Melzer, Sie sind zurzeit für das UNHCR in der Region Tigray im Norden Äthiopiens. Wo genau sind Sie und wie ist die Lage vor Ort?

Chris Melzer: Ich bin derzeit gerade in Addis Abeba, normalerweise aber in Mai Tsebri. Das ist ein Städtchen im Süden von Tigray zwischen zwei Flüchtlingscamps, Adi Harush und Mai Aini. Sie sind Heimat von mehr als 30 000 Flüchtlingen, die aus Eritrea geflohen sind, manche schon vor 20 Jahren. Wir versorgen diese Menschen so gut es geht – wobei wir natürlich jeden Tag an unsere Grenzen kommen. Aber wenn wir den Flüchtlingen mit Essen, einem Dach und etwas Schule für die Kinder auch etwas Hoffnung geben, ist schon viel erreicht.

 

Der Zugang zu den Flüchtlingslagern war für Hilfsorganisationen seit dem Beginn der Konflikte nicht mehr möglich. Gibt es mittlerweile wieder die Möglichkeit, dauerhaft in der Region zu arbeiten? Zu welchen Flüchtlingslagern haben Hilfsorganisationen wieder uneingeschränkten Zugang?

Es gab in Tigray vier Flüchtlingscamps. In den beiden südlichen, eben Mai Aini und Adi Harush, sind wir jetzt wieder dauerhaft. Beide lagen nicht direkt in der Kampfzone und deshalb ist die Infrastruktur intakt. Es wird aber noch Wochen, vermutlich ein paar Monate dauern, bis das Leben wieder normal ist. Und „normal“ heißt, dass man einmal im Monat eine karge Essensration erhält, wieder sauberes Wasser hat, wenn auch nicht genug, dass man in kleinen Steinhütten von acht oder zehn Quadratmetern mit seiner fünf-, sechsköpfigen Familie hockt und natürlich keinen Strom hat. Und so zynisch das klingt, aber das sind die Glücklichen. Denn zumindest sind diese Menschen einigermaßen in Sicherheit. Bei den beiden nördlichen Camps sieht die Situation nämlich erschreckend aus. Hitsats und Shimelba, einst Heim von mehr als 20 000 Menschen, wurden zerstört. Vermutlich mit voller Absicht. Wir haben noch immer keinen Zugang zu den Camps. Viele der Menschen flohen in die südlichen Camps und werden dort jetzt von uns betreut. Aber Tausende – und wir reden von Männern, Frauen und Kindern – vegetieren in und um die Stadt Shire. Viele schlafen unter freiem Himmel, trinken Wasser aus Pfützen und essen Baumrinde. Und wir stehen hier und können nicht hin.

 

Warum war es humanitären Hilfsorganisationen so lange nicht möglich, ihre Arbeit in Tigray fortzusetzen?

Wir mussten mit Beginn der Kämpfe raus aus Tigray, alle Proteste haben nichts genutzt. Äthiopien ist ein souveräner Staat und natürlich müssen wir uns an die Anweisungen der Regierung halten – und wenn wir Tausend Mal die Vereinten Nationen sind. Das ist in Deutschland ja nicht anders. Die Regierung sagt, dass die Sicherheitslage es nicht zulässt, dass UNHCR im Norden Tigrays operiert. Wir sagen, dass wir nicht tollkühn und nicht lebensmüde sind, wir aber die Arbeit in Kriegsgebieten kennen und da ein paar Tausend Menschen sind, die dringend Hilfe brauchen. Da zählt jeder Tag. Wir haben das Material, wir haben die Erfahrung und die Ausbildung, also lasst uns gehen!

 

Zwei Camps im Norden von Tigray wurden zerstört. Gibt es hier inzwischen mehr Informationen über die Ursachen?

Wir haben Satellitenbilder ausgewertet und mit vielen Flüchtlingen gesprochen, die aus Hitsats und Shimelba geflohen sind. Sie berichten von bewaffneten Gruppen, die die Camps angegriffen haben, die Flüchtlinge getötet oder verschleppt haben. Wir können diese Berichte nicht prüfen, weil wir noch immer keinen Zugang haben. Aber sie sind plausibel und glaubwürdig. Wir sind extrem beunruhigt. Wenn diese Berichte tatsächlich stimmen, wären das grobe Verletzungen des Völkerrechts.



Wie geht es den Menschen in den zwei anderen Camps Mai Aini und Adi Harush, die nicht zerstört wurden?

Diese Menschen waren viele Wochen von jeder Versorgung abgeschnitten. Entsprechend haben sie ihr Letztes – und Flüchtlinge haben ja im Grunde nichts – verkauft, um auf dem Markt ein bisschen Reis oder Weizen zu kaufen. Es gab auch kein sauberes Wasser, nur das brackige Wasser vom kleinen Bach. Ich dusche mich jeden Tag mit diesem Wasser und wasche damit meine Kleidung – trotz Bedenken. Die Flüchtlinge haben dieses Wasser aber auch getrunken, weil sie einfach nichts anderes hatten. Entsprechend viele Krankheiten gab es. Für die Eltern war schlimm, dass die Schulen geschlossen waren, denn Bildung ist für sie die einzige Hoffnung, dass ihre Kinder hier mal rauskommen. Und die Menschen hatten Angst: Würden auch Mai Aini und Adi Harush zerstört werden? Kommen die Eritreer und verschleppen alle? Ich habe mit Männern gesprochen, Familienväter und einst kräftige Handwerker oder Bauern. Die waren starr vor Angst, wenn sie an den Gefechtslärm oder daran dachten, zurück nach Eritrea verschleppt zu werden.



Wie haben die Menschen die vergangenen Monate ohne die Hilfsorganisationen vor Ort erlebt?  Gibt es genügend medizinische Versorgung, Infrastruktur bzw. Personal, um Kranke zu behandeln und die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern?

Wir haben als Erstes Interviews mit weit mehr als 100 Flüchtlingen geführt, anonymisiert, jeweils etwa eine dreiviertel Stunde. Was wir immer wieder für Wörter gehört haben, waren „verlassen“, „im Stich gelassen“, „allein zurückgelassen“. Das Gefühl der Hilflosigkeit muss enorm gewesen sein. Das war es ja schon für unsere Kollegen, wir mussten ja auch die Menschen verlassen, für die wir ein Mandat haben. Von denen viele zu Freunden geworden waren. Und wir waren in Addis in Sicherheit und im relativen Wohlstand. Die Angst und das Gefühl, ausgeliefert zu sein, müssen enorm gewesen sein. Dazu der Hunger und die ständige Ungewissheit. Ich habe oft daran gedacht, aber ich gebe nicht vor, es wirklich nachempfinden zu können.



Welche Rolle spielt Covid-19 derzeit in der Region Tigray und in den Flüchtlingscamps?

Uns kommen zwei Umstände zugute. Zum einen sind die Flüchtlinge im Durchschnitt sehr jung. Etwa 40 Prozent sind unter 18. Zum zweiten haben wir sehr viel Erfahrung mit Epidemien. Corona ist nicht Tuberkulose und nicht Ruhr. Aber die Abläufe in der Bekämpfung ähneln sich. Wir konnten sehr schnell reagieren, und in UNHCR-Camps, nicht nur in Äthiopien, gibt es viel weniger Covid-Fälle als sonst in der Bevölkerung. Aber trotzdem bleiben wir natürlich nicht verschont. Flüchtlinge mit Corona werden sofort isoliert und wir helfen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Die begrenzt sind. Wir hoffen auf die Impfung, auch für unsere Kollegen selbst. Wir tragen ständig Masken und desinfizieren uns dauernd die Hände. Wenn wir mit unseren blauen Westen durch das Camp gehen, kommen aber sofort Flüchtlinge, die ein Problem haben. Da kann man dann nicht „1,5 Meter Abstand!“ bellen. Ich habe jetzt selbst den Preis bezahlt. Vor einigen Tagen war der Corona-Test bei mir positiv und jetzt liege ich mit starken Schmerzen und völlig erschöpft in einer Unterkunft. Deshalb bin ich auch in Addis Abeba.



Oh – wir wünschen Ihnen gute Besserung! Offiziell wurde der Konflikt als beendet erklärt, die Kämpfe dauern dennoch an. Wie wirken sich diese auf die Sicherheit der Menschen in den Flüchtlingscamps aus?

Wir müssen hier wieder sehr zwischen Nord- und Süd-Tigray unterscheiden. Im Süden ist relative Ruhe. Im Norden gibt es immer noch Gefechte. Ich habe die Region gesehen und militärisch ist das ein Albtraum: bergige, dünnbesiedelte Gebiete, dazwischen dann doch immer wieder größere Städte. Einheimische Kämpfer können mit asymmetrischer Kriegführung lange, lange auch einem überlegenen Gegner trotzen. Hinzu kommt die Einmischung ausländischer Kämpfer, die zwar offiziell bestritten, aber immer wieder von vielen Seiten bestätigt wird. Und ich rede zwar immer nur von den Flüchtlingen, weil sie in der Tat die Hilflosesten sind. Es gibt aber auch Menschen, die im eigenen Land auf der Flucht sind. Das sind mindestens Hunderttausende, vielleicht mehr als eine Million Menschen.



Kommen aktuell vermehrt Menschen in der Region an, die aufgrund der Konflikte fliehen mussten? Wenn ja, gibt es genug Platz und Lebensmittel in den vorhandenen Camps für diese Menschen?

Die Regierung hat verkündet, dass sie die beiden nördlichen Camps, die ja ohnehin zerstört sind, schließen will. Etwa 5500 der dortigen Flüchtlinge sind schon in den südlichen Camps angekommen und wir erwarten mehr. Die beiden Camps sind aber jetzt schon völlig ausgelastet. Wir errichten jetzt 500 Notunterkünfte, aber die sind in drei Wochen belegt. Außerdem geht der Platz als Ackerfläche verloren. Und viele Menschen hungern schon jetzt.



Was sind die dringendsten Probleme, die mithilfe von Hilfsorganisationen gelöst werden können und inwieweit ist dies aktuell möglich?

Wir haben Hilfsgüter aus unseren Lagerhäusern in Kenia und Uganda zusammengezogen. Die Logistik funktioniert, wir werden diese Menschen erst einmal versorgen können. Aber das kann natürlich keine dauerhafte Lösung sein. Tatsächlich ist „shelter“ für uns momentan die Priorität Nummer eins. Hinzu kommt, dass die Region unwegsam ist. Für 250 Kilometer braucht man sechs, acht Stunden –also fast einen Tag, denn bei Dunkelheit sollte man die engen, kurvigen Bergstraßen nicht fahren. Wir nutzen manchmal auch Transportflugzeuge, aber die sind so teuer, dass das nur der letzte Ausweg sein kann. Das Gute ist, dass wir so großartige Partner haben. Zum Beispiel das Welternährungsprogramm WFP, das völlig zu Recht vor drei Monaten den Friedensnobelpreis bekommen hat. Oder Ärzte ohne Grenzen. Was diese Menschen leisten, macht Gänsehaut.



Welche Maßnahmen seitens der Vereinten Nationen oder auch einzelner Staaten wünschen Sie sich, um Ihre Arbeit vor Ort zu unterstützen und das Leid der Menschen zu lindern?

Wir brauchen Zugang! Da sind Zehntausende Menschen in Not und wir können nicht hin. Wir sitzen hier quasi mit laufenden Motoren in unseren Konvois und die Ampel steht weiter auf Rot. Wir wollen und werden mit der äthiopischen Regierung zusammenarbeiten und dieses Land ist so gastfreundlich für Flüchtlinge. Mehr als 800 000 haben hier Aufnahme gefunden! Wir sind aber dankbar, wenn andere Regierungen uns unterstützen im Drängen nach Zugang auch in das nördliche Tigray. Zum zweiten sind da natürlich immer die Finanzen. Wir haben hier in Äthiopien für dieses Jahr einen Etat von 280 Millionen Dollar, also etwa 230 Millionen Euro. Derzeit ist unser Budget aber zu nicht einmal einem Viertel gedeckt. Das ist leider normal. Global kommen wir am Jahresende immer nur auf etwa 50 Prozent.



Wie nehmen westliche Länder Konflikte und Notlagen wie diese aus Ihrer Sicht wahr? Wie ist das Interesse, etwa gemessen an Spenden oder Medienanfragen?

Länder wie die USA und Großbritannien zeigen durchaus Interesse. Das mag in der außenpolitischen Tradition dieser Staaten einen Grund haben und vielleicht auch im strategischen Denken. Auch die deutsche Botschaft ist sehr interessiert und informiert sich ständig. Äthiopien ist natürlich auch ein bedeutendes Land, ein wichtiger Partner und ein Staat mit mehr als 112 Millionen Einwohnern. Das Land war ja ein Vorzeigestaat und der Westen hat ein großes Interesse daran, dass dieser Vielvölkerstaat, der zwischen so vielen Krisenherden liegt, stabil bleibt. Das mediale Interesse kommt auch gerade aus den USA und Großbritannien. Sicher hilft da, dass Ministerpräsident Abiy Ahmed 2019 den Friedensnobelpreis bekommen hat. Bei deutschen Medien ist das Interesse schon geringer. ARD und ZDF berichten zwar. Ich würde mir aber nur 1 Prozent der Aufmerksamkeit wünschen, die Lesbos bekommt.



Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Tag lang beinahe unbegrenzte Ressourcen und könnten vor Ort drei Dinge ändern. Welche wären das?

Als erstes gäbe es ausreichend Schulen. Und zwar nicht nur solche, in denen man Lesen und die Grundrechenarten lernt und mit zehn Jahren Schluss ist, sondern richtig gute Schulen bis zur zehnten, zwölften Klasse. Dann, plötzlich, wären Flüchtlinge enorm gefragt auf dem Arbeitsmarkt. Zweitens wünsche ich mir eine Wasserversorgung, die sogar die Landwirtschaft schadlos mitversorgen kann. Und da in Ihrem Beispiel genug Geld vorhanden ist, bauen wir das natürlich alles so, dass nicht nur die Flüchtlinge etwas davon haben. Denn machen wir uns nichts vor: Die Flüchtlinge sind zwar die Bedürftigsten, aber vielen Tigrinya selbst geht es kaum besser.



Sie waren nun eine ganze Zeit lang vor Ort und Ihre Zeit dort geht zu Ende. Wie fällt Ihre Bilanz aus, auch persönlich?

Es wurde vieles erreicht. Für die Menschen in den südlichen Camps hat das Leben schon wieder so etwas wie Normalität bekommen. Aber natürlich auf einem niedrigen Niveau. Ich sprach gerade mit einer jungen Frau, die mit ihren drei Töchtern allein in Mai Aini lebt. Die Älteste, zwölf Jahre, scheint hochbegabt zu sein. Was könnte aus diesem Mädchen werden, wenn es nicht hier im Flüchtlingslager leben müsste! Im Norden haben wir hingegen kaum etwas erreicht. Flüchtlinge und Binnenvertriebene – also Menschen, die in ihrem eigenen Land auf der Flucht sind – leben unter Bedingungen, die wir uns nicht vorstellen können. Ich sage es ganz ehrlich, ich würde wahrscheinlich nach ein paar Wochen krank werden und elendig zu Grunde gehen. Und wir wissen ja nicht einmal, ob nicht genau das mit manchen geschieht. Mich selbst hat diese Zeit reicher gemacht. Natürlich auch nachdenklicher, man ist nicht immer unbeschwert. Wenn ich nach ein paar Monaten Einsatz nach Hause komme, mit offenem Mund duschen kann, weil das Wasser mich nicht krank macht, wenn man sich darüber ärgert, dass der Kühlschrank wegen all der Lebensmittel zu klein ist, man sich dabei ertappt, dass man gerade von „Hunger“ sprach, obwohl es nur Appetit ist, dann drückt das die Stimmung. Es ist aber die Realität unserer Zeit, an der man nicht vorbeikommt. Und wir führen bei UNHCR einen Kampf, den wir nicht gewinnen können. Aber wie entsetzlich wäre das Los dieser Menschen ohne Hilfe? Und man schafft ja auch nicht Ärzte ab, nur weil es immer Krankheiten geben wird. Im Gegenteil.



Wie sehen Sie die Entwicklung der kommenden Wochen, worauf kann man Hoffnungen gründen und was ist schlimmstenfalls zu befürchten?

Selbst wenn wir – und alle unsere Partner – jetzt, in dieser Sekunde, vollen Zugang bekommen würden, wären die Herausforderungen gewaltig. Das betrifft zum Beispiel die Unterbringung der Flüchtlinge, und wir reden hier von einfachsten Behausungen. Und da ist das Hungerproblem. Hier sind Hunderttausende Menschen vertrieben und gerade wird die Winterernte zum Teil nicht eingebracht, weil die Bauern auf der Flucht sind. Ich höre immer wieder von Hunger. Nicht von Mangelernährung, nein, Hunger! Das macht mir Angst. Aber es gibt auch eine Zahl der Hoffnung für mich: 86. Es wurden 86 Kinder in Adi Harush und Mai Aini geboren, während diese Camps abgeschnitten waren. Kein Arzt, keine Hebamme waren dabei, geschweige denn ein Krankenhaus. Trotzdem wurden 86 gesunde Kinder geboren. Das Licht der Welt erblickten sie allerdings als Flüchtlinge.

 

Die Fragen stellten Lisa Marie Rumpf und Martin Bialecki

Eine ausführliche Analyse zur Lage in Äthiopien von ZEIT-Reporterin Andrea Böhm lesen Sie hier.

Bibliografische Angaben

IP online exklusiv, 26.02.2021

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