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01. Sep 2016

Wilders Westen

Die Brexit-Entscheidung war Wasser auf die Mühlen der niederländischen Rechtspopulisten. Droht der „Nexit“? Noch fehlt die Rechtsgrundlage für ein Referendum. Doch die Dynamik, die es auslösen könnte, wäre kaum zu kontrollieren.

Geert Wilders hatte seinen Spaß am 24. Juni. „Jetzt sind wir an der Reihe“, twitterte der niederländische Rechtspopulist sofort nach Bekanntwerden des britischen Ergebnisses. Auch in seinem Land müsse jetzt das EU-Austritts­referendum kommen, das er schon lange fordert. „Großbritannien weist Europa den Weg in Richtung Zukunft und Befreiung. Es ist Zeit für einen Neustart, im Vertrauen auf die eigene Kraft und Souveränität.“

Einen solch triumphierenden Ton schlägt Wilders zwar immer an, doch inzwischen hat er einigen Grund dafür. Seine Partei für die Freiheit (PVV) liegt seit fast einem Jahr konstant und deutlich auf Platz eins der Umfragen. Eine Mehrheit der immer europakritischer werdenden Niederländer möchte gerne über einen EU-Austritt abstimmen. Derzeit würden sich laut einer Umfrage 48 Prozent für einen Nexit aussprechen, 43 Prozent dagegen. Beim Referendum über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine haben die EU-Kritiker im April diesen Jahres mit einem haushohen Sieg bewiesen, was sie können. Ihr eigentliches Ziel, der EU eins auszuwischen, erreichten sie so auf spektakuläre Weise. Ihre Argumente mögen schwach sein, ihre Suggestivkraft ist umso stärker.

So leicht wird es indes nicht zu einem Nexit kommen; es fehlt die rechtliche Grundlage. Mithilfe der Regelung, die die Ukraine-Abstimmung möglich gemacht hatte, lassen sich nur Referenden zu neuen Gesetzen und Verträgen abhalten. Es gibt aber Überlegungen, den irgendwann vollzogenen Ausstieg der Briten als Änderung der EU-Verträge anzusehen, die dann einem Referendum unterworfen werden könnten.

Auf eine solche Schlaumeierei wird sich Wilders aber vermutlich nicht stützen wollen. Aussichtsreicher ist das Projekt eines korrigierenden Referendums, mit dem sich die Mitgliedschaft in der EU direkt angreifen ließe. Es hängt im Parlament fest, für die nötige Verfassungsänderung fehlt in der Ersten Kammer die Zweidrittelmehrheit. Auch ein zeitlich befristetes Gesetz, wie es 2005 zur Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag führte, käme derzeit nicht zustande; ein entsprechender Antrag Wilders’ wurde in der Zweiten Kammer kurz nach dem Brexit-Votum mit 124 zu 14 Stimmen abgewiesen.

Doch Mehrheiten können sich ändern, im März wird ein neues Parlament gewählt. Im Wahlkampf wird das Verhältnis zu Europa sicher eine dominierende Rolle spielen, und je besser es der britischen Regierung gelingt, den wirtschaftlichen Schaden des Brexit zu minimieren, umso stärker wird Wilders’ Position bei den Wählern. Die Mitte-Parteien werden nicht nur von rechts unter Feuer geraten. In der ähnlich europakritischen und oft auch populistischen Sozialistischen Partei hat die PVV in dieser Frage einen eifrigen Mitstreiter. Die Linken fordern zwar keinen vollständigen Austritt, aber eine stark abgespeckte EU-Mitgliedschaft; sie haben schon beim Ukraine-Referendum für ein Nein gekämpft.

Weder SP noch PVV haben es bisher in die Regierungsverantwortung geschafft, national wie lokal. Die PVV ist überhaupt erst in zwei Städten angetreten. In Almere hat sie zwar zweimal die meisten Stimmen geholt, wurde aber von der Konkurrenz blockiert.

Können die Niederländer dieser Partei, die immer wieder skandalträchtige Kandidaten in ihren Reihen hatte, überhaupt trauen? Von 2010 an schnupperte Wilders ein wenig an der Macht, als er eine Minderheitsregierung von Rechtsliberalen und Christdemokraten unter dem heutigen Ministerpräsidenten Mark Rutte duldete. Er verhalf ihr punktuell zu Mehrheiten, doch das Konstrukt platzte 2012, als ein Abgeordneter, der Wilders’ „diktatorischen Führungsstil“ nicht mehr ertrug, die PVV verließ. Wilders brach das Experiment ab, in der richtigen Erkenntnis, dass er Opposition besser kann. Seither ist er noch radikaler in seinen Aussagen. Ein extrem provokanter Auftritt 2014, bei dem er seine Anhänger fragte, ob sie „mehr oder weniger Marokkaner“ im Land wollten, hat ihn politisch isoliert und als Bündnispartner unmöglich gemacht.

Politisch brächte ein Nexit-Votum die Niederlande in eine schwierige Lage. Ein proeuropäisches Kabinett, wie es derzeit regiert, könnte den Austritt nicht herbeiführen, es würde unweigerlich stürzen. Ein Ministerpräsident Wilders aber müsste, wenn er größere wirtschaftliche Schäden vermeiden wollte, eine halbwegs konstruktive Lösung für sein Land suchen.

Er werde sich jedenfalls nicht vor der Verantwortung drücken, sagt er, vielmehr habe er einen „Plan“. Der beruht nach seinen Angaben im Wesentlichen auf den Untersuchungen zweier britischer Institute, die er selbst in Auftrag gegeben hatte. Kurzfristig bestünden demnach Risiken, langfristig aber wäre der Austritt ein Gewinn und brächte jedem Niederländer ein Plus von 9800 Euro pro Jahr.

Allerdings gehen die Institute von der Annahme aus, dass es den Niederlanden problemlos gelingt, mit dem Rest der Welt vorteilhafte Handels­abkommen zu schließen – natürlich auch mit der EU. Hauptsache, man habe weiterhin Zugang zum Binnenmarkt, sagt Wilders, der offenbar auf das norwegische Modell abzielt.

Danach behielten Polen und Rumänen ihre Freizügigkeit, es bliebe bei relativ hohen Beiträgen, Den Haag müsste die EU-Gesetze fast vollständig übernehmen, ohne in Brüssel mitreden zu können. Würde der Gulden als unabhängige Währung wieder eingeführt, würde das laut Wilders zwei Jahre lang Kosten verursachen, anschließend würde sich die Sache einpendeln. Möglich wäre aber auch, „dem Euro zu folgen“, womit der Gulden zum Pseudo-Euro würde. Sicher, es könnte zu einer Kreditkrise kommen, aber die Aussicht sei gering. Sicherheitspolitisch lautet Wilders’ Devise: „Raus aus Schengen, Grenzen dicht“. Muslime sollen draußen bleiben. Polizei- und Strafverfolgungsbehörden könnten außerhalb der EU kooperieren, nach dem Vorbild des Vertrags von Prüm.

Sieht so eine gedeihliche Zukunft für die Niederlande aus? Die anderen Parteien werden sich zusammenschließen, um einen Ministerpräsidenten Geert Wilders zu verhindern. Die Frage ist, ob das reicht. Die Dynamik, die ein verlorenes EU-Referendum auslösen würde, wäre kaum zu kontrollieren.

Thomas Kirchner ist seit 2015 EU-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2016, S. 26-28

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