Wenn der Löwe die Geschichte erzählt: Pandemie-Politik und globale Ungerechtigkeit
Der Kampf gegen Corona gilt im Globalen Norden als Erfolgsstory. Doch wenn man das Narrativ des Südens danebenstellt, sehen die Dinge schon anders aus. Zeit für ein Nachdenken über Pandemie-Politik und globale Ungerechtigkeit.
Aus dem Blickwinkel des Globalen Nordens gesehen ließe sich die Reaktion der Welt auf die Corona-Pandemie als schnell und effektiv bezeichnen: Die internationale Gemeinschaft hat ihre Kräfte gebündelt, um einen gemeinsamen Feind zu besiegen – unter anderem durch bemerkenswerte Innovationen bei den Impfstoffen.
Doch ein afrikanisches Sprichwort lautet: „Solange nicht der Löwe die Geschichte erzählt, wird der Jäger immer der Held sein.“ Nun, aktiv gejagt wurden wir aus dem Globalen Süden damals nicht. Doch viel zu viele von uns haben die Pandemie nicht überlebt; man hat sie mehr oder weniger sterben lassen. Trotz aller schönen Worte, die über Entwicklung und ihre Ziele geschrieben wurden, ist das nach dem US-Wissenschaftler Joseph P. Overton benannte „Overton-Fenster“ – der politisch zulässige und akzeptierte Handlungsrahmen – bei diesem Thema bis heute weitgehend unverändert geblieben. Und noch immer ist dieses Fenster getrübt: durch Kolonialismus, durch Rassismus und durch die Kurzsichtigkeit des Blickes von außen.
Pandemie der Ungleichheit
Worum es hier gehen soll? Ich möchte die Geschichte der Pandemie aus der Perspektive der Menschen im Globalen Süden erzählen. Und ich hoffe, dass das zu Reflexionen über die Differenzen zwischen Nord und Süd führt, und zu Ideen anregt, wie sie überwunden werden können.
In einem Artikel, den ich im Januar 2022 im Magazin Nature veröffentlicht habe, schrieb ich von einem „Gefühl der Traurigkeit und Frustration über ein System, das die Menschheit im Stich lässt, und ein politisches Personal, das nicht in der Lage zu sein scheint, das Offensichtliche zu erkennen“. In der Zwischenzeit ist wenig geschehen, was diese Gefühle zerstreuen könnte. Die Krisen, die den immer stärker werdenden Spannungen zwischen Nord und Süd zugrundeliegen, setzen sich unvermindert fort.
Corona begann mit einem Virus, doch es wurde zu einer Pandemie der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, in der die eklatanten Verzerrungen der Weltwirtschaft und der globalen Gesundheitspolitik erbarmungslos offengelegt wurden. Schmerzhaft wurde deutlich, dass die Leben derer im Globalen Norden mehr zählen als die Leben im Globalen Süden.
Ende Mai 2021 hatte erst 1 Prozent der weltweit vorgenommenen Impfungen in Afrika stattgefunden
Das ist keine gefühlte Wahrheit, sondern eine Tatsache, die von Statistiken über das Zwei-Klassen-System bei der Versorgung mit medizinischen Diagnose- und Behandlungsmaterialien sowie bei der Produktion, Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen untermauert wird. Nur 20,4 Prozent der weltweit durchgeführten Corona-Tests haben in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen stattgefunden, obwohl diese 50,6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Während der Pandemie war ich Co-Vorsitzende der African Vaccine Delivery Alliance. In dieser Funktion beschäftigte ich mich auf dem gesamten Kontinent mit dem Zugang zu Impfstoffen und machte jede Menge ziemlich desillusionierende Erfahrungen. Erst in der ersten Februarwoche 2021 und damit zwei Monate, nachdem andernorts Impfstoffe zur Verfügung standen, erhielt Afrika erste AstraZeneca-Impfdosen – und am 7. Februar stoppte die südafrikanische Arzneimittelbehörde ihren Einsatz gleich wieder, weil der Impfstoff gegen die neue Beta- Variante nicht wirksam war.
Wie Daten von Ende Mai 2021 zeigen, hatte zu diesem Zeitpunkt nur 1 Prozent der 1,3 Milliarden weltweit vorgenommenen Impfungen in Afrika stattgefunden. Im Juni des Jahres entsorgte Südafrika zwei Millionen Dosen des Impfstoffs von Johnson & Johnson aufgrund einer Kontaminierung. Bis zum August hatten die Vereinigten Staaten Optionen auf 1,96 Milliarden zusätzliche Dosen erworben, die Europäische Kommission hatte Zugang zu einer Milliarde zusätzlicher Dosen und Kanada hatte sich 191 Millionen davon gesichert. Es war ein nationalistisches Hamstern, das Menschen im Globalen Süden faktisch zum Tode verurteilte.
Alte Patente statt neuer Ideen
Im November 2021 entdeckten Wissenschaftler in Südafrika die Omikron-Variante, die sowohl in afrikanischen als auch in europäischen Ländern nachgewiesen wurde. Doch nur Afrika wurde als „Covid-Kontinent“ bezeichnet und mit Reiseverboten belegt. Die spanische Zeitung La Tribuna de Albacete veröffentlichte eine Karikatur, die ein unter südafrikanischer Flagge fahrendes, mit Personen mit dunkler Haut und krausem Haar überfülltes Boot namens „Omikron“ zeigte, das auf ein Land zusteuerte, an dessen Küste die EU-Flagge wehte.
Ich twitterte damals darüber, wie unangemessen und rassistisch diese Karikatur war. Omikron entstand als Resultat der Unfairness bei der Impfstoffverteilung, und doch beschuldigte und bestrafte der Globale Norden prompt ungeimpfte Bevölkerungen dafür, dass bei ihnen Virusmutationen auftraten.
Bis zum 1. Januar 2022 waren 90 Millionen gespendete Impfdosen auf den afrikanischen Kontinent geliefert worden, doch der Großteil davon bestand entweder aus mangelhaften Resten, die im Globalen Norden nicht gefragt waren, oder wurde äußerst kurzfristig und mit noch kürzerer Haltbarkeitsdauer geliefert.
Der Vorschlag, die Regeln der WTO für Patente zeitweise auszusetzen, wurde insbesondere von Deutschland abgelehnt
Der Globale Norden hätte das Overton-Fenster durch mutige fiskalische Maßnahmen und eine Umstrukturierung der Architektur internationaler Kreditvergabe, -aufnahme und -abzahlung spürbar erweitern können. Stattdessen klammerte er sich an Patente und geistige Eigentumsrechte. Dadurch kam es zu einer Neuaufführung des Geber-Empfänger-Modells internationaler Solidarität, was zur Folge hatte, dass Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen häufig höhere Preise für Impfstoffe zahlen mussten als ihre wohlhabenden Geber.
Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa brachte das beim New Global Financial Pact Summit in Frankreich 2023 so auf den Punkt: „Wir fühlten uns wie Bettler, wenn es um die Verfügbarkeit von Impfstoffen ging.“ Zuweilen „hatten wir den Eindruck, bloß die vom Tisch gefallenen Essensreste abzubekommen“. Das habe die Menschen im Globalen Süden wütend gemacht, „und es wurde noch schlimmer, als wir erklärten, unsere eigenen Impfstoffe produzieren zu wollen. Und als wir zur Welthandelsorganisation gingen, trafen wir auf gewaltigen Widerstand. Wir fragten immer wieder: Was ist wichtiger: Leben oder Profite großer Pharmaunternehmen?“
Verspieltes Vertrauen
Und Deutschlands Rolle bei alledem? Im Mai 2021 unterstützten die Vereinigten Staaten einen Vorschlag von Indien und Südafrika, die Regeln der Welthandelsorganisation für Patente zeitweise auszusetzen, um dem Globalen Süden zu ermöglichen, selbst Impfstoffe zu produzieren. Der Vorschlag wurde aufgrund des Widerstands aus der EU, insbesondere aus Deutschland, abgelehnt.
Am selben Tag im Spätherbst 2021, an dem die spanische Zeitung die erwähnte rassistische Karikatur veröffentlichte, titelte die Rheinpfalz über einem Bild, das zwei schwarze Menschen zeigte: „Das Virus aus Afrika ist bei uns“. Am 8. Dezember veröffentlichte Reuters eine Schlagzeile, die lautete: „Exklusiv: Bis zu eine Million Covid-Impfdosen im letzten Monat in Nigeria abgelaufen“, und vermittelte so den Eindruck, das Problem sei eher der Unfähigkeit der Afrikaner geschuldet als dem Umstand, dass Deutschland im Oktober eilig 2,5 Millionen Impfdosen nach Nigeria verschifft hatte, die schon im November ablaufen würden.
Es gibt systemische Gründe, die zu alledem geführt haben. Wenn wir über Vertrauensverlust sprechen, müssen wir die Fehler der Vergangenheit anerkennen. Während die hier aufgezählten Fehler verglichen mit dem Genozid an den Herero und Nama – er endete 1908, doch erst 2015 erkannte Deutschland ihn vollumfänglich als solchen an und ließ erst 2021 eine förmliche Entschuldigung und Reparationen folgen – eher unbedeutend wirken, hallt die flächendeckende Zerstörung, die von den Kolonialherren angerichtet wurde, in generationenübergreifenden Traumata nach. Es wäre ein Anfang, wenn wir künftig den Fokus so verschöben, dass historisch zuvor dominante Kulturen in den Hintergrund treten; das Pendel muss möglicherweise etwas über die Mittellinie hinausschwingen, bevor es in einem echten Gleichgewicht zur Ruhe kommt – sodass die Macht neu ausbalanciert wird.
Den Löwen brüllen lassen
Nach einem jüngst erschienenen Bericht der Vereinten Nationen lebt beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung heute in Staaten, die mehr Geld für den Schuldendienst gegenüber dem Ausland ausgeben als für ihr Gesundheitssystem; und doch bleibt international alles beim Alten: Der Präsident der Weltbank ist stets ein Amerikaner, der Direktor des Internationalen Währungsfonds ein Europäer und der Leiter des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten ein Brite. Wollen wir das Problem der Auslandsverschuldung weiter mit denselben Methoden und Mentalitäten lösen, die das Problem erst verursacht haben?
Auch wenn es schwierig für den Globalen Norden sein dürfte, die eigenen Positionen zu räumen: Es muss dem Globalen Süden ermöglicht werden, aus dem Schatten hervorzutreten. Wir müssen die bestehenden Machtdynamiken analysieren, und wir müssen die Stimmen aus dem Globalen Süden bündeln und sicherstellen, dass sie gehört werden.
Beim Klimagipfel 2015 in Paris haben sich die Industriestaaten verpflichtet, jedes Jahr 100 Milliarden US-Dollar auszugeben, um Hunger und Armut zu beenden, Impfstoffe verfügbar zu machen und Klimamaßnahmen in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu unterstützen. Doch gibt es jährlich Fehlbeträge in Höhe von zig Milliarden Dollar, und die Finanzierung findet überwiegend in Form von Krediten statt, sodass die Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen den Preis für Konsum und Verbrauch wohlhabender Staaten bezahlen.
In einer Rede vor der UN-Generalversammlung hat Pakistans Premierminister Shehbaz Sharif im September 2022 die Folgen einer 40-tägigen Flutkatastrophe beschrieben und darauf hingewiesen, dass „es eine unbestreitbare Tatsache ist, dass dieses Unglück nicht durch irgendetwas ausgelöst wurde, das wir selbst getan haben“. Pakistan ist eines der durch den Klimawandel verwundbarsten Länder, selbst aber für weniger als 1 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich.
Nimmt man noch die bekannten historischen Kränkungen und den Wettlauf um die Rohstoffe des Globalen Südens hinzu, dann muss man ein Klima des tiefen Misstrauens konstatieren. Die volatile geopolitische Situation macht die Dinge nicht besser. Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Krieg zwischen Israel und der Hamas in Palästina haben die durch die Pandemie befeuerte Polarisierung weiter verstärkt; der Globale Süden wurde von den Folgen der Inflation, gestörten Lieferketten und abnehmenden humanitären Hilfen empfindlich getroffen.
Ghada Al Jadba, der Leiter des Gesundheitsprogramms des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA in Gaza, meint, dass der Verlust des Vertrauens auf die internationale Gemeinschaft einer Erosion unserer Menschlichkeit entspringt; und Richard Horton, Chefredakteur der Fachzeitschrift The Lancet, schrieb kürzlich, dass „unsere Menschlichkeit zerfressen und in manchen Fällen gänzlich getilgt wurde. Wir sind gefühllos gegenüber dem Leid der Anderen.“
Der Globale Norden muss Verantwortung für die Ausbeutung der Welt übernehmen, für unfairen Austausch und Ungerechtigkeiten. Anzunehmen, der Wohlstand einiger Nationen sei einzig das Resultat von Fleiß und Talent statt vergangener Plünderei, hieße, der historischen Wahrheit einen Bärendienst zu erweisen.
Heute dienen die Preisunterschiede im internationalen Handel als Instrument, um die Methoden der Ausbeutung versteckt aufrechtzuerhalten, die die koloniale Wirtschaft einst ganz offen bestimmten; so lässt sich die Schuld auf die Opfer abwälzen. Wir alle, zuvorderst die Menschen im Globalen Norden, müssen das Narrativ der Meritokratie hinter uns lassen und unsere Privilegien kritisch hinterfragen. Reflexion beginnt zuhause; allzu viele scheitern daran, die eigenen blinden Flecken und die eigene Verstrickung in die bestehenden Strukturen zu bemerken.
Wir müssen anerkennen, dass – obwohl eine Vielzahl an Ex-Politikern, Wissenschaftlerinnen und Akademikern daran arbeiten, die Global Governance zu verbessern – der Korridor des politisch Möglichen sich nicht verändert, das Overton-Fenster sich nicht verschoben hat. Nach der Können-Wollen-Matrix lässt sich das, wenn es nicht an einem Mangel an Fähigkeiten liegt, nur auf einen Mangel an Veränderungswillen zurückführen. Wie Seye Abimbola in seinen Arbeiten zur Dekolonisierung der globalen Gesundheit gezeigt hat, ist es die Entfernung zwischen Zentrum und Peripherie, die Ungerechtigkeiten in Bezug auf Wissen und Bildung schafft. Der Globale Norden sollte den Anstand haben, in die Peripherie zurückzutreten, seine historischen Privilegien aufzugeben und es dem Globalen Süden so zu ermöglichen, das Zentrum zu besetzen und, wenn man so will, zu brüllen.
Aus dem Englischen von Matthias Hempert
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Wenn der Löwe die Geschichte erzählt" erschienen.
Internationale Politik Special 5, September/Oktober 2024, S. 12-16
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