IP Special

01. Nov. 2021

Weiß­sein 
und jüdische Identität

Der „weiße Jude“ als Teil der rassistischen Mehrheit? Setzt sich diese Idee im antirassistischen Diskurs durch, wird das Konsequenzen haben.

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Bild: Zeichnung von vier individuellen Gesichtern
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Zwei Frauen sitzen entspannt mit angewinkelten Beinen auf dem Boden und halten Kaffeetassen in der Hand, während viele tausend Kilometer entfernt Menschen ihre Nächte in Bunkern und Treppenhäusern verbringen. Die eine erklärt der anderen, was dort in Gaza am Mittelmeer gerade passiert: „Es wird nicht gekämpft. Es gibt nur Kolonialisierung. Eine Gruppe von Menschen, eine Gruppe Siedler, die Palästina kolonialisiert.“



Die zwei Frauen sind auf einer Instagram-Infografik zu sehen, die während des jüngsten Israel-Gaza-Konflikts im Mai 2021 massenweise in sozialen Netzwerken geteilt wurde. Die Grafik transportiert ein Denken, das die US-amerikanische Journalistin Bari Weiss in der Tageszeitung Die Welt so beschreibt: „Das Narrativ besteht darauf, dass Israel nicht nur eine Unterdrückungsmacht ist, sondern die letzte Bastion des Kolonialismus im Nahen Osten, weiße Eindringlinge in einem fremden Land, die auf dem rechtmäßigen Territorium ‚brauner‘ Menschen hocken.“



Es ist ein binäres Weltbild, das sich während des Gaza-Israel-Krieges besonders deutlich zeigte, das aber auch über die Region hinaus an Einfluss gewinnt. Der Nahe Osten, die ganze Welt, scheint aufgeteilt zu sein: hier die unterdrückten People of Color, in diesem Fall Palästinenser und Palästinenserinnen, und dort die weiße Übermacht, in diesem Fall Juden und Jüdinnen. Große Bewegungen wie „Fridays for Future“ stimmten ein und bekannten sich auf ihrem internationalen Twitter-Account dazu, allen „kolonialisierten und unterdrückten“ Völkern zuzuhören. Und die US-Kongressabgeordnete Rashida Tlaib rief auf einer Kundgebung: „Unsere Freiheit ist mit der Freiheit der Schwarzen, der ‚braunen‘ Menschen, der Indigenen verbunden. Was sie den palästinensischen Menschen antun, ist, was sie unseren schwarzen Brüdern und Schwestern hier antun.“



Der britische Pädagoge Ben Freeman, Autor des Buches „Jewish Pride. Rebuilding a People“, bezeichnet die zahllosen antisemitischen Angriffe offline und online im Zuge des Krieges als „globalen Pogrom“. Er selbst war wüstem antijüdischen Hass ausgesetzt. Für ihn hat auch die Vorstellung des „weißen Juden“ dabei eine Rolle gespielt: „Die Idee des Weißseins ist zentral, denn es fügt sich ein in das globale Narrativ über Imperialismus, Unterdrückung, Unterdrücker. Für uns Juden ist das sehr schädlich. Es ist ein Desaster.“



Kritisches Weißsein in der Forschung

Weißsein ist in den vergangenen Jahren zu einer umkämpften Kategorie geworden. Begriffe wie „white privilege“ – Privilegien weißer Menschen – und „alter weißer Mann“ sind zu umstrittenen, aber geläufigen Schlagworten geworden. In wissenschaftlichen Diskursen werden „kritische Weißsein“-Ansätze schon seit vielen Jahrzehnten diskutiert, unter anderen in Denkschulen wie der „Critical Race Theory“, „Critical Whiteness“ und teilweise auch in postkolonialen Theorien. Der vielbeachtete Aufsatz „White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack“ von Peggy McIntosh erschien bereits 1989.



Ebenso viele Jahrzehnte gibt es eine breite innerjüdische Debatte darüber, ob Juden und Jüdinnen als weiß gelten können oder nicht. Das gilt besonders für die USA, wo „race“ historisch anders bewertet wird als in Deutschland. So hat der Historiker Eric Goldstein in seinem Buch „The Price of Whiteness“ historisch nachgezeichnet, welchen widersprüchlichen und schwierigen Weg jüdische Assimilation in den USA gegangen ist. Die Journalistin Emma Green interviewte Goldstein 2016 für ihren Artikel „Are Jews White?“. Auf die Frage, ob Juden und Jüdinnen weiß sind, antwortete er: „Es gibt da eigentlich keine andere Schlussfolgerung als die, dass es kompliziert ist.“



Bisher ging es vor allem um Fragen wie: Wo bewegen sich Juden und Jüdinnen entlang der „Racial“­-Kategorien, die speziell in den USA gelten? Doch seit Konzepte wie „systemischer Rassismus“ auf dem Vormarsch sind und die Vorstellung, westliche Gesellschaften seien zutiefst geprägt von „white supremacy“, mehr und mehr Zustimmung finden, stellt sich nicht mehr nur die Frage: Sind Juden und Jüdinnen weiß? Sondern: Welche Konsequenzen bringt es mit sich, als weiß zu gelten?



Im antirassistischen Diskurs nimmt die Auseinandersetzung mit dem Weißsein eine prominente Rolle ein – auch wenn es in den Augen der Vertreter von Theorien wie der „Critical Race Theory“ primär um die Auseinandersetzung mit einer systemischen Benachteiligung von Schwarzen und People of Color geht. Aber gerade weil prominente Autoren wie der US-Amerikaner Ibram X. Kendi die „rassistische Macht“, wie er sie nennt, zur zentralen Figur einer Unterdrückungsmaschinerie erklären, kommt man nicht umhin, sich diese „rassistische Macht“ genauer anzusehen, wenn man verstehen möchte, wer genau unter diese Kategorie fällt.



Soziales Konstrukt oder Hautfarbe?

Definiert wird „race“ in antirassistischen Texten, von denen sich viele auf die in den 1970er Jahren als Rechtstheorie begründete „Critical Race ­Theory“ beziehen, als ein soziales Konstrukt. „,Race‘ und ‚races‘ sind das Produkt gesellschaftlicher Überlegungen und Beziehungen. Da sie nicht objektiv, inhärent oder festgelegt sind, entsprechen sie keiner biologischen oder genetischen Wirklichkeit“, heißt es etwa in Richard Delgado und Jean Stefancis „Critical Race Theory. An Introduction“. Auch Robin Diangelo, eine Ikone der antirassistischen Bewegung, stellt in ihrem Buch „Wir müssen über Rassismus sprechen“ fest: „‚Rasse‘ ist ein gesellschaftliches Konstrukt, daher ändert es sich im Laufe der Zeit, wer der Kategorie der Weißen zugerechnet wird.“



In einem zweiten Schritt sprechen antirassistische Autoren der „Race“-Kategorie „Weiß“ bestimmte Attribute zu. Bei Diangelo ist Weißsein die soziale Norm, an der sich alles orientiert und die alles bestimmt: „Als weiß wahrgenommen zu werden, ist mehr als die Zuordnung zu einer ‚Rasse‘, es ist ein gesellschaftlicher und institutioneller Status und eine Identität, ausgestattet mit rechtlichen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rechten und Privilegien, die anderen verweigert werden.“ Und weiter: „Weiße kontrollieren alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen und bestimmen die Politik und die Praktiken, nach denen andere leben müssen.“ Bei Kendi heißt es: „Wir müssen den Unterschied erkennen zwischen rassistischer Macht (rassistischen politischen Entscheidungsträgern) und weißen Menschen im Allgemeinen.“



Allerdings: Genau diese Linie verschwimmt immer wieder – und das wird für Juden und Jüdinnen zu einem Problem. Balazs Berkovits, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bucerius Institute for Research of Contemporary German History and Society der Universität Haifa, hat sich in seinen Texten intensiv mit „Critical Whiteness Studies“ und deren „jüdischem Problem“, wie er es nennt, auseinandergesetzt. Er kommt zum Schluss, dass sich antirassistische Autoren letzten Endes doch immer wieder auf die Hautfarbe bezögen, wenn sie die Dominanz der „weißen Vorherrschaft“ beschrieben: „Wenn wir uns beispielsweise ‚white privilege‘ anschauen, ist es vollkommen klar, dass es hier in einer ersten, spontanen Definition um wahrgenommenes Weißsein geht. Wahrgenommenes und sozial erlangtes Weißsein ist nicht dasselbe und sollte nicht dasselbe sein – was im Falle von Juden und Jüdinnen überdeutlich wird –, aber in so vielen Fällen wird es vermischt, ohne weiter auf diesen Widerspruch einzugehen.“



Das hat zur Folge, dass selbst wenn Autoren wie Delgado und Stefancic erwähnen, dass Juden und Jüdinnen in der amerikanischen Geschichte auch vor dem Gesetz nicht immer als weiß galten, die jüdische Identität – zumindest jene aschkenasischer, europäischstämmiger Juden – als verfolgte Minderheit in antirassistischen Texten fast nie offen vorkommt. Wenn Juden und Jüdinnen überhaupt erwähnt werden, so werden sie scheinbar zur weißen, rassistischen Mehrheitsgesellschaft gezählt. So beschreibt Diangelo die US-Gesellschaft als eine, die tief geprägt ist von „white supremacy“, und definiert „white supremacy“ als ein „soziopolitisches Wirtschafts- und Herrschaftssystem auf der Basis von Rassenkategorien, das den als weiß definierten und wahrgenommenen Menschen nützt“. Sie ordnet also auch als weiß wahrgenommene Menschen – wobei man annehmen könnte, dass sie damit Juden und Jüdinnen meint – zur Gruppe der Nutznießer von „white supremacy“.



Noch deutlicher wird das, wenn Diangelo die „Verteilung der Menschen, die unsere Institutionen kontrollieren“, nach „race“ kategorisiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass 100 Prozent der reichsten Amerikaner und 95 Prozent der Regisseure, die 2016 die kommerziell erfolgreichsten Filme drehten, weiß seien. Eine kurze Recherche ergibt aber: Zwei der zehn reichsten Männer sind jüdisch, ebenso wie mindestens zwei Regisseure, die unter 95 Prozent der „weißen“ Regisseure fallen. Diangelo definiert dabei nicht, nach welchen Kriterien sie vorgeht. Wie sich das soziale Konstrukt „weiß“ in diesem Fall definiert und ob das anders als über die Hautfarbe geschieht. Es wird ebenso wenig klar, ob beispielsweise ein chinesischer Regisseur als weiß gilt oder nicht. Wenn „weiß“ ein soziales Konstrukt ist, müssten dann nicht alle Regisseure und reichen Menschen aufgrund von Einfluss und Status als weiß gelten, nicht nur jene mit einer weißen Hautfarbe? Diangelo löst diesen Widerspruch nicht auf und spricht von einer „unglaublich homogenen Gruppe“.



Auch an anderer Stelle kommen Juden und Jüdinnen als Minderheit nicht vor. Delgado und Stefancic sprechen in ihrer Einführung in die „Critical Race Theory“ die Problematik an, dass in einer rassistischen Gesellschaft Minderheiten gegeneinander ausgespielt werden können. Die Autoren gehen auf zahlreiche Beispiele ein, nennen japanische, mexikanische, schwarze Minderheiten in den USA. Die jüdische Minderheit aber kommt nicht vor – schon gar nicht in all der Diversität, die eine Gemeinschaft auszeichnet, zu der neben aschkenasischen, also europäischstämmigen, auch schwarze Juden und Jüdinnen gehören oder jene aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Berkovits sieht auch einen methodischen Grund in dieser Leerstelle: „Juden und Jüdinnen sind sehr schwer zu klassifizieren. Sie untergraben die übliche Minderheitenposition, die sich durch Beherrschung und Ausbeutung definiert. Die jüdische Gemeinschaft ist auf eine Art und Weise anders. Aber diese Radikalkritik schätzt klare Kategorien und binäre Gegensätze. Und Juden und Jüdinnen sind ein Faktor, der diese radikale Kritik stört.“



Uraltes antisemitisches Stereotyp



Der Publizist Ben Freeman sieht in der Zuschreibung von Juden und Jüdinnen zu einer mächtigen weißen Mehrheit zugleich eine Neuheit und ein Kontinuum. In seinem Buch „Jewish Pride. Rebuilding a People“ beschreibt er, wie seit Jahrhunderten die „nichtjüdische Welt“, wie er sie nennt, die jüdische Identität definiert. „Wenn man uns akkurat als das beschreibt, was wir sind, nämlich ein indigenes Volk mit Verbindungen zum Land [Anm. d. Red. Israel], dann wird der Vorwurf des Weißseins nicht halten“, sagt Freeman. „Wenn man uns aber unserer Indigenität beraubt und als weiße Europäer beziehungsweise weiß beschreibt, dann gehören wir nicht mehr zu den Unterdrückten – obwohl wir wahrscheinlich Teil der am meisten verfolgten Minderheit der Welt sind.“ Nicht nur werde damit eine Sichtweise von außen auf die jüdische Identität projiziert, sie bediene auch ein antisemitisches Klischee: „Es wird eine Vorstellung auf moderne Juden in einem modernen Kontext angewendet, die seit Jahrtausenden existiert. Seit 2000 Jahren wird gesagt, dass Juden und Jüdinnen reich, mächtig und privilegiert sind. Nun, was macht das heute aus uns? Weiße.“



Dabei gehe es nicht um ihre Hautfarbe, sondern darum, welcher Platz ihnen in der Gesellschaft zugewiesen werde – und das ist seit Jahrtausenden kein positiv konnotierter. Ein Novum ist für Freeman, dass Juden und Jüdinnen erstmals Teil einer Dominanzgesellschaft sein sollen. Hier geht es vor allem um die Sicht auf Juden und Jüdinnen in der Diaspora und weniger um gesellschaftliche Debatten innerhalb Israels als einzigem Land mit einer jüdischen Mehrheit; einem Land, in dem Rassismus, wie in so vielen anderen Ländern auch, durchaus ein Problem ist.



Anfang Juni 2021 eröffnete in Amsterdam eine multimediale Ausstellung, die sich genau diesen Fragen widmet. Unter dem Titel „Are Jews ­White?“ werden Fragen erörtert wie: Wie können Juden und Jüdinnen gewisse „weiße Privilegien“ genießen und sich dennoch nicht zugehörig zur Mehrheitsgesellschaft fühlen? Einer der Kuratoren ist Gideon Querido van Frank. In einem Interview, das er der israelischen Zeitung Haaretz gegeben hat, spricht er darüber, dass er mit der Ausstellung Raum für Dialog und Kooperation eröffnen möchte. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Querido van Frank in einer niederländischen Zeitung ein Meinungsstück unter dem Namen „Are Jews White?“, auf dem die Ausstellung beruht. Darin schreibt er: „Juden und Jüdinnen waren niemals weiß, niemals die Norm, niemals Teil einer Mehrheit mit ‚Waffen und Grenzen verantwortlich für Armut, Gewalt und Ausbeutung‘. Im Verlauf der Geschichte wurden wir größtenteils als ethnische Minderheit ausgegrenzt, verfolgt und ausgerottet. Und daran ist verdammt wenig weiß.“



Postkolonialer Diskurs in Deutschland

Eine Gesellschaft entlang von „Racial“-Kategorien zu klassifizieren, ist etwas spezifisch US-Amerikanisches und auch auf die Auswirkungen von Segregation und rassistischer Gesetzgebung vor den 1960er Jahren zurückzuführen. Doch diese Linse passt nicht deckungsgleich auf andere Gesellschaften – auch nicht auf europäische. In Deutschland wird die Vorstellung von „weißen Juden“ als Teil der Mehrheitsgesellschaft kaum offen vertreten – vermutlich auch, weil das Jahrhundertverbrechen des Genozids an den europäischen Juden Deutsche vorsichtig hat werden lassen gegenüber jeglichen „Racial“-Zuschreibungen.



Aber zumindest die Idee findet sich zum Teil in postkolonialen Theorien und Debatten wieder. Die offensichtlichste Form, in der sich die Vorstellung des „weißen Juden“ widerspiegelt, ist, wenn die Shoah als ein „white on white crime“ bezeichnet wird – als ein Verbrechen, das Weiße an Weißen begangen hätten. Der Antisemitismusforscher Steffen Klävers hat in seiner Dissertation „Decolonize Auschwitz?“ herausgearbeitet, dass etwa der Politikwissenschaftler Aram Ziai dieser Argumentationslinie folgt. Demnach sei der einzige Grund, warum die Shoah in Deutschland aufgearbeitet werde, der, dass die koloniale Gewalt hier zum ersten Mal ins Zentrum, nach Europa, zurückgekehrt sei. Die Gewalt, so die These, die in den Kolonialgebieten erprobt worden war, wurde nun zum ersten Mal in Europa verübt und erhalte nur deshalb Aufmerksamkeit, weil nicht Afrikaner, sondern „weiße Europäer“ unter ihr zu leiden hatten. „Es ist im angloamerikanischen Raum verbreiteter, dieses Argument so offen zu formulieren. Das beobachte ich im deutschsprachigen Raum seltener. Allerdings findet es sich in verklausulierter Form in vielen Ansätzen wieder, die auch in aktuellen Debatten auftauchen“, sagt Klävers.



Eine aktuelle Debatte rund um postkoloniale Theorien dreht sich in Deutschland unter anderem darum, ob das Festhalten an einer Singularität der Shoah den kritischen Blick auf Israel verstelle. Das behauptet unter anderem der australische Historiker A. Dirk Moses. Was nicht nur Moses, sondern auch viele andere postkoloniale Denker unterstellen: Israel sei sehr kritisch zu sehen, wenn nicht sogar abzulehnen, da es sich um ein koloniales Gebilde handele. Damit folgen diese Theoretiker der Sichtweise der internationalen palästinensischen Israel-Boykottbewegung BDS. So erklärt Moses in seinem Aufsatz „Der Katechismus der Deutschen“ mit Blick auf einen Bundestagsbeschluss, der die Finanzierung von BDS-Veranstaltungen unterbinden soll: „Welche alternativen Möglichkeiten Palästinenser:innen ergreifen können, um sich der Kolonisierung ihres Landes zu widersetzen, schien diese Politiker:innen nicht zu kümmern.“ Um welches Land es geht – Siedlungen oder israelisches Kerngebiet –, lässt er offen, ebenso wie auch viele BDS-Anhänger sich häufig uneindeutig darüber äußern, welches Gebiet sie genau meinen.



Noch deutlicher wird die postkoloniale Theoretikerin Anna-Esther Younes, wenn sie die zionistische Bewegung nicht nur in eine koloniale Ecke rückt, sondern auch noch das Motiv des „weißen Europäers“ hinzufügt. In einer Diskussion mit der Philosophin Susan Neiman erklärte sie 2021, sie sei unsicher, ob Palästinenser und Palästinenserinnen nach der Gründung Israels infolge der Shoah vertrieben wurden oder wegen eines „bereits existierenden (europaweiten) Siedlerkolonialismus-Projekts und -Denkens, das einen ‚Bevölkerungstransfer und -austausch‘ von Juden und Jüdinnen in den Nahen Osten unterstützte und einen Katalysator im Nationalsozialismus fand“. Für den Antisemitismusforscher Klävers kann die Argumentation, die Gründung Israels als einen der letzten imperialen Akte zu sehen, eine klare Konsequenz haben: „Dann spielt es keine Rolle mehr, ob der Staat Israel eine Schutzfunktion darstellt für jüdische Menschen, man sieht dann nur ein aktuelles Beispiel von weißer, kolonialer Dominanzgesellschaft gegenüber der nicht-weißen indigenen Bevölkerung, die kolonialisiert wird.“



Handfeste realpolitische Folgen

Die Fehlkonzeption von Juden und Jüdinnen als Teil einer dominanten Mehrheit in westlichen Ländern; ein stark vereinfachtes, wenn nicht gar dämonisierendes Bild Israels als weißer Kolonialstaat – wozu führt all das? Jüdische Stimmen wie Ben Freeman und Bari Weiss warnen eindringlich davor, dass Judenhass zunehme, offline wie online. Während der rund zwei Wochen des Konflikts zwischen dem israelischen Militär und der Hamas verzeichnete die Anti-Defamation League (ADL) in den USA eine Zunahme antisemitischer Taten um 75 Prozent. Der Historiker Saul Friedländer hält in der Wochenzeitung Die Zeit fest: „Gewiss: Nicht alle, die sich unter dem Banner der postkolonialen Kritik versammeln, sind Feinde Israels, und diejenigen, die sich offen antisemitisch äußern, mögen eine Minderheit sein. Der Antisemitismus in den USA aber hat im Zuge der jüngsten Proteste beunruhigende Ausmaße angenommen.“ Es kann ergänzt werden: Das gilt auch für Deutschland.



Das hat weitaus tieferliegende Gründe als nur die Vorstellung eines „weißen Juden“, der zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Aber diese Vorstellung könne dazu führen, dass sich Menschen zu antijüdischem Hass ermutigt fühlen, sagt Freeman. Der „weiße Jude“ fungiere als „dog whistle“ (Hundepfeife) – als Botschaft also, die Antisemiten genau verstehen würden. Bisher haben sich große jüdische Organisationen in den USA zu der Problematik des Antisemitismus in antirassistischen Kreisen kaum geäußert, wohl auch wegen der Schulterschlüsse, die es zwischen jüdischer Gemeinschaft und Bürgerrechtsbewegungen traditionell gibt. Doch als die US-Kongressabgeordnete Tlaib Anfang August 2021 den Bogen schlug von einer reichen Elite, die „hinter dem Vorhang“ agiere, zu Gaza, zu Rassismus in den USA, wählte auch der Präsident der ADL deutlichere Worte und bezeichnete die Äußerungen als „dog whistle“.



Nach den antisemitischen Ausschreitungen im Zuge des Gaza-Israel-Krieges – und dem Schweigen antirassistischer Aktivisten – häuften sich in verschiedenen Ländern die Stimmen von Jüdinnen und Juden, die ernüchtert feststellen mussten, dass sie – zumindest, wenn sie sich als Zionisten identifizieren – in antirassistischen Kreisen keine politische Heimat haben. Die Journalistin Mirna Funk etwa schreibt in der Zeit: „All jene, die plötzlich begreifen, dass jetzt Schluss ist mit kollektivem Spaß auf dem Women’s March und den Antirassismus-Demos, sind in einer neuen Zeitrechnung angekommen. Einer, in der ganz klar ist, dass sie aus allen aktivistischen Migrations-, Antirassismus-, LGBTQI- und People-of-Color-Räumen nicht nur ausgeschlossen sind, sondern dort als Endgegner gehandelt werden.“



Binäres Weltbild

Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, sieht die Gründe dafür auch im kollektivistischen Denken einiger antirassistischer Akteure. Eine demokratische Gesellschaft bräuchte stattdessen eine „ganz konsequente Politik gegen Diskriminierung, um Freiheits- und Entfaltungsmöglichkeiten von Individuen herzustellen“.



Die theoretischen Grundlagen dazu sieht Salzborn sogar in antirassistischen Texten selbst gegeben. Er verweist auf Frantz Fanon, der eine schwarze Identität in den Mittelpunkt gerückt habe, ohne ein „Freiheitsparadigma“ zu verwerfen. Leider würden Autoren wie Fanon innerhalb des theoretischen Diskurses zu wenig besprochen.



„Ich habe die Befürchtung“, sagt Salzborn, „dass es eine große Indifferenz in der antirassistischen Bewegung gibt und dass es die Gefahr gibt, dass diese kleinen, lautstarken antisemitischen Positionen Fuß fassen können. Es gibt auch viele Kräfte, die sich bemühen, diese Diskussionen in Gang zu setzen. Das ist der wichtige Punkt, dass hier Debatten in Gang kommen müssen, dass man am Ende die antisemitischen Positionen aus dem antirassistischen Kontext ausgrenzen muss und zu einer antisemitismussensiblen Auseinandersetzung, auch mit Blick auf die Frage um Israel, gelangen muss.“ Auch für Ben Freeman ist es unerlässlich, dass sich Theorien wie Postkolonalismus und „Critical Race Theory“ weiterentwickeln: „Critical Race Theory hat eigentlich mit uns Juden nichts zu tun. Es ist eine Theorie über die Erfahrungen Schwarzer in den USA. Aber sie hat ein binäres Weltbild erschaffen. Und wenn sie eine Theorie sein will, die wirklich in der Realität verankert ist, müssen andere Erfahrungen berücksichtigt werden. Die Schwarze Erfahrung ist legitim und wichtig, aber die meinige ist es auch.“



Das binäre Weltbild antirassistischer Theorien führt dazu, die jüdische Minderheit unsichtbar erscheinen zu lassen. In einer Welt, die aus Unterdrückten und Unterdrückern besteht, gibt es keine Nuancen und keinen Platz für eine Minderheit, die den Rastern nicht entspricht. Einer Minderheit, die in einer negativ behafteten Mehrheit aufgehen soll und der gleichzeitig all jene Stereotypen angeheftet werden, die sie schon seit Jahrtausenden verfolgen.



Unbewusst oder bewusst kann das antirassistische Weltbild, wie es aktuell gepredigt wird, gepaart mit einem dämonisierenden, vereinfachten Bild Israels, zu einem Antisemitismus in neuem Gewand beitragen. Mehr noch: Ohne die Beschäftigung mit den Schwächen der eigenen Theorie wird es kaum möglich sein, bei der Beurteilung von anti­jüdischem Hass auf einen Nenner zu kommen. So beschrieb Saul Friedländer in seinem Artikel in der Zeit, wie im Rahmen von Black-Lives-Matter-Demonstrationen auch Synagogen und jüdische Geschäfte im Viertel Fairfax in Los Angeles angegriffen wurden. A. Dirk Moses widersprach wiederum in der Zeit. Er bestritt, dass es gezielte Angriffe auf jüdische Einrichtungen gewesen seien. Stattdessen, so Moses, zielten die Proteste darauf ab, die „weißen Bewohner wohlhabender Gegenden an das Leiden der Schwarzen zu erinnern“.

 

Lisa Hänel begann ihre Studienzeit mit einem Bachelorstudium der Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und studierte anschließend Internationale Beziehungen im Master an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Bevor sie mit ihrem zweiten Masterstudium am journalistischen Seminar in Mainz endgültig einen journalistischen Werdegang einschlug, absolvierte sie bei der Zeitschrift Internationale Politik ein Redaktionspraktikum unter der Leitung von Sylke Tempel. Andere journalistische Stationen folgten, so war sie Hospitantin bei der dpa und der SZ sowie Studentische Mitarbeiterin bei der FAZ. Seit dem Abschluss ihres journalistischen Volontariats im Jahr 2019 arbeitet sie als Redakteurin bei der Deutschen Welle. Dort arbeitet sie unter anderem zu Themen über jüdisches Leben und Antisemitismus.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 7, November 2021, S. 14-21

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