Was uns eint, was uns trennt
Eine Deutsche, die für die europäische Idee wirbt; eine Griechin, deren Perspektive im eigenen Land durch die Eurokrise verdüstert wurde; und ein Ungar, dem „Brüssel“ noch nie so recht geheuer war: Wer durch Europa reist und mit jungen Menschen spricht, trifft auf Enthusiastinnen wie auf Skeptiker. Drei Porträts.
Deutschland, Frankreich, England, Italien, Bolivien, Tunesien. Die Liste der Länder, in denen Bettina Wolff schon gelebt hat, ist lang. Die 29-Jährige kommt ursprünglich aus einem kleinen Ort an der Mosel, fühlt sich aber auf der ganzen Welt zuhause. Besonders in Europa.
Nach dem Abitur hat Bettina vier Jahre „International Business“ in Warwick studiert, ein Jahr davon hat sie in Paris verbracht. Während ihrer Zeit in Großbritannien hat Bettina erlebt, dass eine europäische Einheit nicht selbstverständlich ist: „Meine Generation ist mit dem Wissen aufgewachsen, dass wir frei reisen können, im Ausland leben, arbeiten oder studieren. Aber mit dem Brexit und all diesen nationalistischen Bewegungen ist mir klar geworden: Wir müssen jetzt etwas tun, damit das auch so bleibt“, ist sie überzeugt. In ihrem Jahr an der Sciences Po in Paris wurde Bettina Mitglied bei den „Jeunes Européens France“, dem französischen Ableger der „Jungen Europäischen Föderalisten“, kurz JEF, einer überparteilichen Plattform für junge Menschen, die sich für mehr Europa einsetzen.
Zurück in Großbritannien gründete Bettina an der Universität Warwick eine JEF-Gruppe und wurde später Präsidentin des „Young European Movement UK“. Immer wieder demonstrierte sie zusammen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU und sprach im Sommer 2018 bei einer Kundgebung in London sogar vor Zehntausenden Brexit-Gegnern. Doch das ganze Engagement half nichts: Am 31. Januar 2020 verließ das Vereinigte Königreich die Europäische Union. An diesem Tag postete Bettina auf ihrem Instagram-Kanal ein Foto von einer Pro-EU-Demonstration in London. Auf dem Bild hält sie eine Karte mit dem Union Jack und den Europasternen in die Kamera, im Hintergrund schwenken Menschen Europafahnen. „Bye bye Britain …!“ schreibt sie darunter und setzt dahinter ein gebrochenes Herz.
Diesen Kampf hat Bettina genauso wie viele andere junge Europäerinnen und Europäer erst mal verloren. Aber sie gibt ihre „Mission Europa“ nicht auf. Nach ihrer Zeit in Großbritannien studierte Bettina an der Universität Venedig „Migration im Mittelmeerraum“. Sie wollte verstehen, warum Menschen ihre Heimat verlassen müssen – und was sie in der Europäischen Union suchen und finden können. Aber Wissen allein reicht ihr nicht. Bettina will auch etwas tun und sich für eine bessere Integration und eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik einsetzen – und damit gegen Rechtspopulisten, die Stimmung gegen Einwanderer machen: „Auf dieser Angst vor dem Fremdem und Hass aufzubauen, das ist viel einfacher, als wenn man sich positive Visionen macht und harte Arbeit reinsteckt“, findet die junge Frau und schaut entschlossen: „Aber dann führt es eben auch zu etwas Positivem. Und Hass führt nur zu Hass.“
Bettina hat viele Ideen; sie sprudelt vor Energie, will etwas bewegen. In den folgenden Jahren entwickelte sie gemeinsam mit einem Freund aus Großbritannien den Podcast „Europe Calling“, in dem sie regelmäßig Themen wie Rassismus, Digitalisierung oder Klimawandel besprechen – immer die europäische Perspektive im Blick. Der Podcast wurde größer, mittlerweile ist er ein internationales Projekt, bei dem unter anderem auch junge Menschen aus Frankreich, Spanien und Polen mitsprechen. Und erst in diesem Jahr trat Bettina in die Partei „Volt“ ein, die „erste paneuropäische Partei“, so heißt es auf der Homepage. Seit 2019 sitzt der erste Volt-Abgeordnete im Europaparlament. Zur Bundestagswahl tritt Bettina in Trier als Direktkandidatin an. „Wir wollen, dass Europa mehr ist als eine Wirtschafts- und Währungsunion“, erklärt sie ihr Engagement: „Wir wollen eine richtige politische Union. Nur gemeinsam können wir die Probleme lösen!“
Gerade lebt Bettina in Köln, aber vielleicht ist sie kommendes Jahr schon wieder ganz wo anders. Bettina will sich weiter politisch engagieren und würde gern vielleicht irgendwann mal bei den Vereinten Nationen arbeiten – und sich bei all dem weiter für das einsetzen, was ihr wirklich am Herzen liegt: Europa. •
Ungarn und die EU. Beziehungsstatus: kompliziert! Schon lange ist das Verhältnis angeknackst, es gibt Vorwürfe, Blockaden und Streit. Seit 2010 ist Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei an der Macht. Bei seinem Wahlsieg hat er eine nationale Revolution versprochen: Hungary first, Europe second. In den vergangenen Jahren hat Orbán das Land in eine Autokratie verwandelt; in den wichtigsten Medien und Gerichten haben Fidesz-Leute großen Einfluss. Eine Gefahr für die Demokratie, sagen die einen – endlich wird Ungarn wieder mächtig, finden die anderen.
Zu den anderen gehört auch Viktor Neugebauer. Er ist 24 Jahre alt, lebt und studiert in Budapest. Sein Vater ist Deutscher, seine Mutter kommt aus Ungarn – als Europäer fühlt er sich trotzdem nicht. „Ich stehe für einen konservativen Staat, für einen Nationalstaat – und ich bin gegen die Vereinigte Europäische Union“, stellt der junge, schlanke Mann gleich zu Beginn klar. Viktor ist in der Fidesz-Partei aktiv und hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Wahlkämpfen engagiert.
Besonders gern erinnert er sich an eine große Kundgebung zum Nationalfeiertag im Jahr 2016. Auf seinem Smartphone zeigt er Videos von fahnenschwenkenden Orbán-Unterstützern. Hunderttausende waren in der Hauptstadt zusammengekommen, um dem Ministerpräsidenten zuzujubeln. „Wir haben so eine Stärke gespürt, so einen Frieden. Es war sehr emotional und hat sich angefühlt, als wäre ganz Ungarn dabei“, schwärmt Viktor, obwohl es am selben Tag auch Gegendemonstrationen gab, bei denen Europafahnen hoch gehalten wurden.
Politik fand Viktor schon immer interessant, aber seit 2015 lässt sie ihn nicht mehr los. Nach dem Abitur entschied er sich für ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland. Auf der indonesischen Insel Flores arbeitete er zwölf Monate in einem Kinderheim für Mädchen, die in ihren Familien Gewalt erfahren haben. Von Ungarn und Europa war Viktor weit weg – aber was zuhause passierte, verfolgte er auch Tausende Kilometer entfernt in Indonesien. „Ich habe die Bilder gesehen von all den Migranten, die nach Europa kommen. Ich habe gelesen, was in Ungarn passiert und konnte es nicht fassen“, erinnert er sich. Als Viktor 2016 zurückkam, war für ihn klar, dass er sich in der Fidesz-Partei engagieren will: „Seitdem habe ich den Kampf gegen Migration aufgenommen und will mich dafür einsetzen, was mir wichtig ist“, sagt Viktor. Wichtig sind ihm Ungarn, die eigene Kultur und besonders seine Heimatstadt Budapest. Egal ob historisches Gebäude, Statue oder Museum – Viktor weiß fast alles über die ungarische Hauptstadt und hat beim Spaziergang durch die Stadt zu jeder Ecke und jeder Sehenswürdigkeit eine Anekdote parat.
Viktor will, dass seine Heimat so bleibt, wie sie ist. Und das bedeutet für ihn auch, dass kein Platz ist für Menschen, die aus anderen Ländern geflohen sind. Damit liegt er auf einer Linie mit Ministerpräsident Orbán, der der EU vorwirft, gezielt Einwanderer nach Europa zu holen, und der sich gegen ihre Verteilung auf die Mitgliedstaaten wehrt. Von anderen Ländern wird Orbán wegen seiner starren Haltung immer wieder kritisiert. Was für viele Unmenschlichkeit ist, ist für Viktor Neugebauer Stärke: „Er hat eine eigene Meinung und dafür kämpft er auch. Für ihn stehen das Land und die Bevölkerung an erster Stelle und nicht Ausländer oder Flüchtlinge.“
Mit Europa kann Viktor wenig anfangen. Dass Länder zusammenarbeiten, findet er grundsätzlich gut – aber dass Brüssel Entscheidungen trifft, die für alle gelten, lehnt er ab: „Meine Befürchtung ist, dass Ungarn nicht mehr selbst über Gesetze und Politik bestimmen kann“, sagt er nachdenklich.
Im kommenden Jahr wird in Ungarn gewählt. Die sechs wichtigsten Oppositionsparteien wollen sich gegen Regierungschef Orbán zusammenschließen und mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten antreten. Für Viktor ist aber ohnehin klar, dass seine Stimme wieder die Fidesz-Partei bekommen wird: „Ich liebe Ungarn, wie es jetzt ist. Und ich möchte auch, dass es so bleibt!“ •
Eigentlich wäre ich gerne in Athen geblieben“, sagt Eleni Karamali. Vergangenen November ist die 18-jährige Griechin nach Berlin gezogen, um dort an der Freien Universität Sozial- und Kulturanthropologie zu studieren. Eleni lebt gerne in Berlin. Sie mag, wie lebendig und multikulturell die Stadt ist, aber im Herzen ist sie nach wie vor Athenerin: „Seit ich hier bin, habe ich noch mehr gemerkt, dass ich eine ganz besondere Beziehung zu meiner Heimat habe“, erklärt sie.
Rückblick. Eleni hat in Athen die Deutsche Schule besucht und dort vergangenes Jahr ihr Abitur gemacht. Fast alle an der Schule sind Griechen, die Deutsch lernen und aus finanziell eher guten Verhältnissen kommen. Trotzdem. Sorgen um ihre Zukunft haben sich viele von Elenis Klassenkameradinnen und -kameraden gemacht, auch Eleni selbst. „Mir war klar, dass es in Griechenland für junge Leute schwer werden könnte, eine Arbeit zu finden“, erinnert sie sich: „Und dass die Universitäten hier nicht so gut sind wie in anderen europäischen Ländern.“
Elenis Mutter ist Deutsch-Dolmetscherin, ihr Vater Architekt. Die Krise hat auch ihre Familie erwischt. An der Bildung der Kinder wollten Vater und Mutter nicht sparen – deshalb ist die Familie aus einem Haus mit Garten in eine Stadtwohnung gezogen. Wie Elenis Familie ging es vielen Griechinnen und Griechen; die vergangenen Jahre waren hart. Griechenland hatte sich hoch verschuldet, und als auch noch die Finanzkrise dazu kam, war das Chaos komplett. Immer wieder stand das Land kurz vor dem Staatsbankrott.
Die EU schnürte Rettungspakete, im Gegenzug musste Griechenland einen rigorosen Sparkurs fahren. Viele Menschen blieben auf der Strecke – und die jungen leiden bis heute unter den Folgen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist nach Spanien die höchste in ganz Europa; bei den 18- bis 24-Jährigen lag sie im Dezember 2020 bei 35 Prozent. Deutschland steht mit rund 6 Prozent im EU-Vergleich am besten da.
Obwohl sie die Sprache perfekt beherrscht, wollte Eleni zunächst nicht zum Studieren nach Deutschland: „Die Beziehung zwischen Griechen und Deutschen ist nicht besonders gut“, sagt sie. Und das liegt nicht zuletzt an den Medien. Über Jahre haben deutsche Boulevardzeitungen Stimmung gegen angeblich gierige „Pleite-Griechen“ gemacht – die griechischen Medien schossen zurück. Das hat tiefe Spuren hinterlassen.
Trotzdem ist Eleni froh, dass sie sich getraut hat und nach Berlin gegangen ist. Und das, obwohl der Studienstart mitten in der Pandemie nicht gerade einfach war: „Vorlesungen, Veranstaltungen, einfach alles findet online statt. Und natürlich ist es so auch schwieriger, neue Freunde zu treffen“, fügt sie mit Bedauern hinzu.
Das nächste Ziel ist für Eleni der Bachelor-Abschluss in drei Jahren, danach will sie in Deutschland noch einen Master draufsetzen. Irgendwann allerdings möchte sie nach Griechenland zurückkehren, auch wenn die Aussichten dort zurzeit nicht allzu rosig sind. „Ich finde, dass wir jungen Griechen auch etwas für das Land tun müssen. Sonst wird sich nichts ändern“, stellt sie klar und ergänzt lachend: „Außerdem vermisse ich das Wetter!“ •
Julia Lehmann ist Moderatorin und Reporterin beim Saarländischen Rundfunk. 2019 drehte sie für die ARD mit Tobias Seeger die Dokumentation „Europas Jugend – Europas Zukunft?“
Internationale Politik Special 04, Juli 2021, S. 48-53
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