Wachsen, aber wie?: Der Glaube schwindet
Rezession und Stagnation gefährden das europäische Projekt
Sparen oder wachsen? Die Debatte um diese Frage nimmt Fahrt auf – insbesondere seit kürzlich die These der Austeritätsbefürworter widerlegt wurde, es gebe eine negative Korrelation zwischen öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum. Hauptimpulse der Debatte sind die Ergebnisse der Spar- und Reformagenda, mit der man in den vergangenen Jahren versucht hat, die Euro-Zonen-Krise zu überwinden.
Die Rezession beherrscht die Krisenländer nun das sechste Quartal in Folge und breitet sich mittlerweile auf die europäischen Kernländer aus. Trotz strenger Sparmaßnahmen bleiben die Staatsdefizite hoch, Banken bleiben unterkapitalisiert und unfähig, eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft zu unterstützen. Was ist schief gelaufen? Nun, man wird wohl gleichermaßen Wirtschaft und Politik verantwortlich machen müssen.
Landläufigen Theorien zufolge kann ein Land durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen seine Finanzen konsolidieren. Wenn jedoch alle Länder gleichzeitig auf einen solchen Sparkurs einschwenken, werden alle scheitern. Denn wenn ein Land spart, mindert es die Nachfrage für die Produkte anderer Länder, wodurch binnen- und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte gefestigt werden. Das kann zu einer „Beggar-thy-neighbour“-Politik führen, mit der man sich auf Kosten des Nachbarn Vorteile zu verschaffen versucht. Eine solche Dynamik, gegen die John Maynard Keynes kämpfte, war es, die die große Depression in den dreißiger Jahren zu einer so bitteren Erfahrung werden ließ.
Das Gegenargument der Sparkursbefürworter lautet, dass strukturelle Reformen es überschuldeten Ländern erlaubten, die Rezession zu überwinden und auf den Wachstumspfad zurückzukehren. Indem man die Wettbewerbsfähigkeit stärke, steigere man das Vertrauen der Konsumenten und Investoren. Auf dieser Grundlage könnten höhere Ausgaben und eine verstärkte Produktion angeregt werden.
Reformen sind ein notwendiger Bestandteil jeglicher Rettungsstrategie. Sie erhöhen das Produktionspotenzial, mindern das Inflationsrisiko und verbessern die Aussichten des Landes. Kurzfristig zeigen sich ihre Folgen jedoch nur sehr begrenzt, denn sie brauchen Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Und, wichtiger noch, der Faktor Vertrauen greift in einer mangelhaft funktionierenden Währungsunion nicht unbedingt. Immer wieder zeigen sich systemische Schwachstellen und untergraben das Vertrauen. Unter solchen Umständen wird es eher zu Kapitalabflüssen und Hamsterreaktionen kommen als zu erhöhten Ausgaben. So ist es auch manchen der überschuldeten Länder der Euro-Zone ergangen, als sie Reformen in Angriff nahmen.
Der gemeinsamen Währung fehlt eine übergeordnete Instanz. Steuerpolitik und Bankwesen sind in 17 getrennte Einheiten fragmentiert; die Europäische Zentralbank (EZB) hat keine umfassenden Befugnisse, die nötig wären, um die Währung zu schützen. Die Schwachstellen der Euro-Zone spiegeln die konzeptionelle Distanz zu den Vereinigten Staaten wider, dem einzigen Modell für eine gut funktionierende Währungsunion.
Natürlich wird es mit Blick auf Europas Geschichte wohl unmöglich sein, das amerikanische Modell 1:1 abzubilden. Damit die Euro-Zone jedoch in Zukunft ihre Schwierigkeiten überwinden kann, muss die Währungsunion auf steuerliche und finanzielle Felder ausgeweitet und somit eine integrierte wirtschaftliche Union geschaffen werden. Öffentliche Schulden sollten schrittweise und partiell gemeinsam verwaltet werden.
Das Bankensystem sollte vereint werden, um die Verbindung zwischen den Banken und den Mächtigen im Staat zu kappen. Zentralisierte Beaufsichtigungs- und Abwicklungsbehörden würden zusammen mit einem Einlagensicherungssystem den Kern dieser Bankenunion bilden.
Um Fiskal- und Wirtschaftspolitiken zu koordinieren, werden starke zentrale Institutionen gebraucht, die direkt einem gewählten Parlament unterstehen. Der Einigungsprozess könnte außerdem dadurch unterstützt werden, dass die Märkte, insbesondere bei den Dienstleistungen, weiter geöffnet und Freihandelsabkommen mit wichtigen Partnern wie etwa den USA geschlossen werden.
Im Windschatten des Wirtschaftsbooms
Wie die deutsche Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts gezeigt hat, lassen sich Reformen leichter im Windschatten von stabiler Wirtschaftslage und steigender Beschäftigung anpacken – Umstände, die wir derzeit in Südeuropa nicht vorfinden.
Ohnehin gelingt es Regierungen nur selten, ihre Bürger davon zu überzeugen, dass kurzfristiger Verzicht langfristig eine bessere Zukunft sichern wird. Privatisierung, Marktliberalisierung, die Öffnung geschützter Berufszweige und Personalabbau im öffentlichen Dienst bergen Konfliktstoff in Verhandlungen mit wichtigen Interessengruppen wie etwa Unternehmen in geschützten Industriezweigen, den Gewerkschaften des öffentlichen Sektors oder einflussreichen Lobbygruppen. Um einen solchen Konflikt zu lösen, bedarf es sozialer Allianzen, die jedoch ausnahmslos durch Unzufriedenheit, soziale Unruhen und politische Instabilität unterminiert werden.
Es gibt keine Universallösung, mit der die Krise überwunden und alle europäischen Ökonomien wieder auf den Wachstumspfad zurückgeführt werden können. Doch die Punkte, in denen man sich weitgehend einig ist, sollten benannt und vertieft werden, damit die Rettungsstrategie funktioniert.
Zunächst einmal müssen wir den Sparkurs in den fiskalisch stärkeren Mitgliedstaaten der Euro-Zone lockern – oder den Trend sogar umkehren –, um die Nachfrageverluste in überschuldeten Ökonomien zu kompensieren. Die EZB sollte von der durchschnittlich niedrigeren Inflation profitieren und die Geldpolitik lockern, um so zu ermöglichen, dass die Preise in den Kernstaaten schneller steigen und sich damit der Abstand der Wettbewerbsfähigkeit zwischen diesen Ländern und der Peripherie verringert. Außerdem sollten die Kreditvergabekapazitäten der Europäischen Investitionsbank erheblich ausgeweitet und die Strukturfonds der Europäischen Union mobilisiert werden, um Projekte in den Ökonomien der Peripherie finanzieren zu können. Besonderes Augenmerk sollte darauf liegen, die Jugendbeschäftigung und Investitionen von kleinen und mittleren Unternehmen zu fördern.
Zweitens sollte der fiskale und finanzielle Einigungsprozess schneller vorangetrieben werden. Je länger die europäischen Behörden die Einführung von Euro-Bonds, eine effektive Banken- und Fiskalunion und eine Installierung der EZB als Kreditgeber letzter Instanz hinauszögern, desto länger wird die Krise anhalten. Neue zentralisierte Institutionen sollten demokratische Legitimität erwerben, indem ihnen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament auferlegt wird.
Der Glaube an das europäische Projekt schwindet. Und während es der Euro-Zone an Zusammenhalt fehlt, könnten Stagnation und Rezession zu einer gefährlichen Ablehnung durch die Bevölkerung und somit vielleicht zu einem Zerfall der einen oder anderen Art führen. Entweder wird schrittweise Zermürbung – ergänzt dadurch, dass schwächere Staaten mit ihren Zahlungen in Verzug geraten – dazu führen, dass ein kleinerer, von Deutschland angeführter Club von „vorbildlichen“ Euro-Ländern entsteht. Oder Deutschland wird sich dafür entscheiden, die gemeinsame Währungsunion zu verlassen, um einen minimalen fiskalischen Vorteil zu erlangen. Die Alternative zu einer demokratisch geeinten Währungsunion ist eine deutsche Wirtschaftshegemonie, die langfristig das europäische Projekt zerstören und auch die ökonomische und strategische Sicherheit Deutschlands unterminieren würde. Die bevorstehende Bundestagswahl und das Vorgehen der kommenden Bundesregierung werden entscheidend sein für den künftigen Kurs in Europa.
Yannos Papantoniou war von 1994 bis 2001 Wirtschafts- und Finanzminister Griechenlands. Derzeit ist er Vorsitzender des Think-Tanks „Centre for Progressive Policy Research“ in Athen.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 13-15