IP Special

29. Apr. 2024

„Von dieser Wahl hängt mehr ab als von allen zuvor“

Putin ante portas, die Rechtspopulisten im eigenen Haus: Ein Gespräch über die Zukunft der EU zwischen äußeren und inneren Bedrohungen.

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Bild: Portrait von Timothy Garton Ash
Prof. Dr. Timothy Garton Ash ist Professor für Europastudien in Oxford und Senior 
Fellow der Hoover Institution an der Stanford University. Sein jüngstes Buch „Europa. Eine persönliche Geschichte“ ist im Frühjahr 2023 bei Hanser erschienen.
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IP: Herr Professor Garton Ash, Sie verfolgen die Wahlen zum Europäischen Parlament seit 1979. Warum ist die Wahl in diesem Jahr so wichtig? 
Timothy Garton Ash: Weil Europa im Krieg steht; das wäre die einfachste Antwort. Deswegen hängt vom Ergebnis dieser Wahlen so viel ab wie von noch keiner zuvor. Doch mit dieser Antwort ist noch eine zweite verbunden. Laut neuerer Untersuchungen des European Council on Foreign Relations werden die Populisten möglicherweise noch besser abschneiden, als wir es ohnehin befürchten. Das heißt nicht, dass sie die größte Fraktion im Europaparlament stellen werden. Aber wenn es Viktor Orbán gelingt, die „Europäischen Konservativen und Reformer“ mit „Identität und Demokratie“ zu vereinen, dann wäre ihre Fraktion größer als „Renew Europe“, die liberale Fraktion, der auch Emmanuel Macrons Partei Renaissance angehört. Und das würde einen erheblichen Rechtsruck bedeuten.

Welche Folgen hätte das für die EU? 
Zunächst einmal ist zu hoffen, dass die nicht unbeträchtlichen Meinungsunterschiede zwischen den Rechtspopulisten, etwa zum Ukraine-Krieg, dazu führen, dass das Bündnis von Orbán nicht zustande kommt. Zwischen Italiens Giorgia Meloni, der polnischen PiS, dem Slowaken Robert Fico und dem Ungarn Viktor Orbán gibt es doch erhebliche Differenzen. Trotzdem wird eine robuste und verlässliche europäische Unterstützung der Ukraine noch schwieriger werden – ob es da jetzt ums Militärische geht, um die Wirtschaftspolitik oder die Beitrittsverhandlungen. 

Besonders in der Einwanderungspolitik wird der Rechtsruck erhebliche Konsequenzen haben, denn sie ist das Hauptthema der Populisten. Ich fürchte, dass die Europäische Volkspartei sich veranlasst sehen wird, noch mehr von der Rhetorik der Populisten zu übernehmen – was ein großer Fehler wäre. Vielleicht führt es aber auch dazu, dass wir, wie früher in Deutschland und, auf andere Weise, in Frankreich, eine De-facto-„Große Koalition“ haben: Mitte-rechts und Mitte-links tun sich zusammen, um die Extremen von der Macht fernzuhalten. Kurzfristig ist das sehr vernünftig, aber mittel- bis langfristig wird es, das wissen wir aus Erfahrung, die Extreme stärken. 

Sie haben einmal gesagt, der Schlüssel gegen die Rechtspopulisten sei es, effektiver die Probleme anzugehen, die Wähler und Wählerinnen in die Arme der Populisten treiben. Was sind die Probleme, die Europa vor dieser Wahl am stärksten beschäftigen?
Ganz eindeutig steht an erster Stelle das Thema Einwanderung. Die Umfragen sind da ziemlich klar. An zweiter Stelle folgt die ökonomische und soziale Ungleichheit, etwa der Zugang zu Wohnraum. Das sind die Themen, die hier offensichtlich eine große Rolle spielen und den Populisten erheblichen Zulauf bringen. Es ist beunruhigend, dass, anders als wir gedacht hatten, auch viele junge Wähler populistische Parteien unterstützen. 

Was ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine?
Der steht interessanterweise relativ weit unten auf der Prioritätenliste. Die geopolitischen Konsequenzen dieser Wahlen werden besonders den Ukraine-Krieg betreffen. Aber die Ursachen des populistischen Erfolgs sind nicht in diesem Krieg zu suchen – obwohl natürlich die wirtschaftlichen Folgen wie Inflation oder erhöhte Lebenskosten eine Rolle spielen. 

Wenn Effektivität und Problemlösen gegen Rechtspopulisten helfen: Warum liegt dann Donald Trump bei den amerikanischen Wählern vor Joe Biden? Trumps Regierungszeit war unterm Strich wenig erfolgreich, während Bidens Bilanz mindestens ordentlich ist. Gibt es andere Instrumente im Kampf gegen den Rechtspopulismus? 
Es hilft, wenn man die Fakten kennt. In den USA kann man sehen, was passiert, wenn eine demokratische Öffentlichkeit, eine gemeinsame Agora, wie wir sie noch in den meisten europäischen Ländern haben, fast völlig verschwunden ist. Das ist ja die Uridee der Demokratie: Alle Bürgerinnen und Bürger treffen sich auf der Agora, hören, wie die Lage ist, erfahren die Fakten und Argumente und entscheiden. Angesichts der Hyperpolarisierung nicht nur der Parteien, sondern auch der ­amerikanischen Medienlandschaft, gerade der sozialen Medien, ist es ein wenig so, als habe man zwei Agoras. Zwei getrennte Öffentlichkeiten, zwei Wirklichkeiten. Und so gibt es nicht nur die eine amerikanische Wirtschaft, der es laut Faktenlage gut geht. Daneben gibt es die Wirtschaft der Trump-Wähler, die lausig läuft. 

„Es gibt die eine amerikanische Wirtschaft, der es faktisch gut geht, und die der Trump-Wähler, die lausig läuft“

Das ist natürlich nur ein Teil der Erklärung, aber auch für uns in Europa ein entscheidender. Er zeigt, wie wichtig es ist, unabhängige Medien und eine echte gemeinsame demokratische Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Denn wir erleben auch bei uns die ersten Anzeichen für eine solche Entwicklung wie in den USA. Etwa in der Slowakei: Robert Fico gibt sich kaum Mühe, in den unabhängigen Medien aufzutreten, weil Facebook so mächtig bei seinen Wählern ist, dass er sich darauf verlassen kann. Medien und Öffentlichkeit scheinen mir ein Schlüssel zu sein. 

Sie haben die Unterschiede zwischen Europas Populisten erwähnt. In Italien hat die Postfaschistin Giorgia Meloni mit einem Anti-Europa- und einem ­Anti-Flüchtlingskurs die Wahlen gewonnen. Gegenüber der EU aber handelt sie vergleichsweise un­ideologisch. Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer kommentiert das so: „Europa verändert auch Rechtspopulisten und bringt ihnen bei, dass sie sehr pragmatisch operieren müssen, wenn sie für ihr Land etwas gewinnen wollen.“ Würden Sie dem so allgemein zustimmen?
William Blake hat einmal gesagt: Verallgemeinerungen sind fast immer falsch. Aber ich finde die These schon überlegenswert. Giorgia Meloni – eine Postneofaschistin, das wäre die präzise historische Beschreibung ihres Werdegangs – steht im ­Ukraine-Krieg eindeutig auf westlicher Seite. Auch in Sachen Eurozone verhält sie sich konstruktiv und bekommt sogar Lob von ihrem Amtsvorgänger Mario Draghi. Andererseits bedeutet die Tatsache, dass sie in der Führungsriege der EU voll akzeptiert wird, eben auch eine schleichende Legitimierung der harten Rechten. Die sind sozusagen salonfähig geworden. Das kann zur Folge haben, dass der Rassemblement National in Frankreich ebenfalls salonfähig wird. Und genau das will ja Marine Le Pen erreichen, wenn sie, wie kürzlich, eine Zeremonie für kommunistische Widerstandskämpfer im Pantheon besucht. Wenn das alles dazu führt, dass 2027 die französische Präsidentin Marine Le Pen heißt, ist es ausgesprochen schädlich für Europa und für das europäische Projekt. 

Die Wahlen in Polen im vergangenen Herbst haben gezeigt, dass es möglich ist, eine rechtspopulistische und europa­feindliche Regierung auf demokratische Weise abzulösen – sogar in einer Wahl, die zwar frei, aber nicht fair war. Ein Hoffnungsschimmer?
Ich würde sagen, dass das nicht nur die beste politische Nachricht des vergangenen Jahres war, sondern auch die einzige. Nicht nur, weil man eine rechtspopulistische, xenophobe, penetrant antideutsche und europafeindliche Regierung abgelöst hat. Sondern auch, weil das, was man in der Politikwissenschaft als „state capture“ oder Staatseroberung bezeichnet, in Polen bereits ziemlich weit vorangeschritten war. Beim öffentlichen Fernsehen, in der Justiz, in der staatlichen Verwaltung. Die Frage ist, wie schnell man den Rechtsstaat in Polen wiederherstellen kann. Und ob man dabei mit rechtsstaatlichen Mitteln auskommt oder quasi-revolutionäre Schritte braucht. Es ist das erste Mal in der neuen europäischen Geschichte, dass wir ein solches Experiment beobachten.

Was bedeutet das polnische Wahlergebnis für die EU?
Die Regierung Donald Tusk hat mit Radek Sikorski als Außenminister das Weimarer Dreieck wiederbelebt. Die EU braucht dringend etwas mehr als den deutsch-französischen Motor, denn der funktioniert zurzeit sichtbar schlecht. Aber in diesem Dreieck, in diesem Bund, kann man relativ schnell etwas bewirken. 

Vor allem die junge Generation nutzt alle Möglichkeiten, die Europa ihr bietet. Gleichzeitig ist der Gedanke, dass diese Freiheiten nicht selbstverständlich sind und immer wieder erarbeitet werden müssen, über die Jahrzehnte etwas verblasst. Inwieweit hat hier Russlands Angriff auf die Ukraine oder der „Putin-Effekt“ etwas verändert?
Bei einem Vortrag an der Universität Göttingen habe ich eine These aus meinem aktuellen Buch zitiert. Danach gab es vier entscheidende politische Generationen, die das Europa von heute aufgebaut ­haben: die 14er, die 39er, die 68er und die 89er. Daraufhin fragte eine Studentin: „Glauben Sie, es wird eine Generation der 22er geben?“ Unter dem Eindruck des größten Krieges in Europa seit 1945 könnte eine Mobilisierung für die Freiheit und die Verteidigung der Demokratie stattfinden.

Ich war im vergangenen Jahr in mehr als 20 europäischen Ländern. Es gibt so etwas sehr wohl in der Ukraine, in Moldau, in den baltischen Staaten, zum Teil in Polen. Aber je weiter man nach Westen kommt, desto schwächer ist dieser Effekt. Ich wage sehr zu bezweifeln, dass es eine Generation der 22er in Spanien, Italien oder Großbritannien gibt. Ich würde es sehr hoffen, aber ich bin skeptisch. Zumal wir bei vielen Umfragen, auch bei meinen Forschungsprojekten in Oxford, gesehen haben, dass viele junge Europäer befürchten, sie werden schlechtere Aussichten haben als ältere Generationen. Man sollte vielleicht hinzufügen, dass Emmanuel Macron bei den Wahlen im Jahr 2022 weniger Wählerstimmen von jungen Franzosen und Französinnen hatte als Marine Le Pen. 

Sie haben von einem „Zweikampf zwischen zwei Europas“ gesprochen, einem des Friedens, der Integration und des Liberalismus und einem des Krieges wie in der Ukraine, der Desintegration und der antiliberalen Werte. Was macht Sie optimistisch, dass das liberale Friedens-Europa am Ende gewinnen wird? 
Diese Frage setzt voraus, dass ich optimistisch bin. Ich würde von einem Pessimismus des Intellekts und einem Optimismus des Willens sprechen. Bei der Analyse und der Prognose dürfte man wohl mit Recht einigermaßen pessimistisch sein, aber wir müssen uns den Optimismus des Willens bewahren. Das Beispiel Polen zeigt doch eines: Wenn man ein paar Jahre lang ernsthaft krank war, dann lernt man wieder, die Gesundheit zu schätzen. Die Frage ist eher, ob wir selbst ausreichend immunisiert sind, um nicht krank zu werden. Die Umfrageergebnisse von Parteien wie der AfD sind nicht gerade dazu angetan, einen da übermäßig optimistisch zu stimmen. 

Wie hat sich der Brexit auf die Haltung der verbliebenen EU-Mitgliedstaaten zur Union ausgewirkt? 
Kurzfristig hat er abschreckend gewirkt. Außer der AfD-Chefin Alice Weidel empfiehlt derzeit keiner der Rechtspopulisten einen Frexit, Dexit, Nexit, Polexit, Ungexit. Langfristig dagegen ist die Frage noch sehr offen. Das europäische Projekt fußt psychologisch auf dem Nimbus der Unumkehrbarkeit, auf dem Gefühl, in diese Richtung entwickelt sich die Geschichte, und das ist auch richtig so. Die Tatsache, dass ein wichtiges Mitglied aus der EU ­ausgestiegen ist, stellt all das infrage, zumindest dann, wenn das Land anschließend gut oder zumindest nicht allzu schlecht zurechtkommt. Im Moment ist das eher unwahrscheinlich, wenn wir uns Großbritannien anschauen. Aber wenn es sich in absehbarer Zukunft ändern sollte, könnten sich Stimmen wie die von Alice Weidel mehren. Vor allem dann, wenn es der EU gleichzeitig schlechter gehen sollte. 

Die EU wurde einst als Wirtschaftsunion gegründet. Heute weisen Nord- und Zentraleuropa überdurchschnittliche Einkommensniveaus auf, periphere Regionen in Süd- und Osteuropa fallen wirtschaftlich zurück. Wie hinderlich für die europäische Kohäsion, für das vielbeschworene gemeinsame „Europa-Gefühl“, ist diese Ungleichheit, und was lässt sich dagegen tun?
Dass die Währungsunion reichere Regionen reicher und ärmere Regionen ärmer machen würde, hatten einige Wirtschaftswissenschaftler seinerzeit in der Tat vorausgesagt. Und so ist es ja zu großen Teilen auch gekommen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Europäische Union schaffen sollte, nämlich Konvergenz und Solidarität. Bei den Debatten in Italien oder Griechenland steht dieser Punkt im Fokus. 

Welche Rolle könnte der europäische Wiederaufbauplan nach Corona, „NextGenerationEU“, spielen?
Eine entscheidende Rolle; allerdings nur, wenn er nicht ein einmaliges Experiment bleibt, wie von vielen Ländern in Nordeuropa gefordert. Sollte die praktizierte Solidarität in Gestalt der NextGeneration­EU ein strukturelles Element der Währungsunion und der Europäischen Union überhaupt werden, dann könnten wir alle guter Hoffnung sein, glaube ich.

„Viktor Orbán darf weiterhin Europas Werte verletzen und fast alle Vorteile der EU-Mitgliedschaft genießen“

Aber wenn nicht, dann wird es gefährlich, vor allem in der Kombination mit der vertikalen Ungleichheit unserer eigenen Gesellschaften. Dann fühlen sich viele Menschen in Europa gleichsam doppelt diskriminiert: durch die geografischen Nachteile auf dem Lande, im Dorf oder im Süden des Kontinents, und zusätzlich durch die vertikalen gesellschaftlichen Ungleichheiten, denen sie in ihren eigenen Ländern ausgesetzt sind. 

Dem großen Europäer Jean Monnet wird der Ausspruch zugeschrieben: „Wenn ich noch einmal mit dem Aufbau Europas beginnen könnte, dann würde ich mit der Kultur anfangen.“ Was würden Sie tun, wenn Sie das europäische Projekt noch einmal starten könnten?
Ich würde da anfangen, wo die europäische Integration tatsächlich begonnen hat: nämlich mit dem Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Bevor es die europäische Wirtschaft gab, stand 1952 der Vertrag für eine euro­päische Verteidigungsgemeinschaft. Der ist 1954 in der französischen Nationalversammlung gescheitert. Aber man könnte argumentieren, Europa stünde heute, vor allem im Angesicht der militärischen Bedrohung durch Russland, besser da, wenn wir bei der Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik angefangen hätten. 

Zweitens: die Demokratie. Wir haben das, was im Artikel 2 des Unionsvertrags zu den Werten der EU steht, an eine Wirtschaftsunion angebaut. Aber die Verbindung zwischen Geld und Werten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und so weiter funktioniert, wie wir im Falle Ungarn sehen, noch nicht besonders gut. Viktor Orbán darf weiterhin diese Werte verletzen und fast alle Vorteile der EU-Mitgliedschaft genießen – insbesondere die finanziellen.


Das Interview führten Martin Bialecki, Tim Hofmann, Hannah Lettl und Joachim Staron.          

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 12-17

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