IP Special

29. Apr. 2024

Vom Brexit zur Partnerschaft nach Maß

Großbritannien und die EU rücken angesichts geopolitischer Umbrüche wieder näher zusammen. Ob sich das Verhältnis auch langfristig verbessert, bleibt offen. 

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Bild:  Britische Premier Rishi Sunak im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz.
Jede Menge Gesprächsthemen im EU-UK-Superwahljahr 2024: Der britische Premier Rishi Sunak (li.) mit Bundeskanzler Olaf Scholz.
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Seit dem Brexit geht ein tiefer Riss durch die westliche Achse einer fragmentierten Welt. Die von innerparteilichen Dynamiken ausgelöste Abspaltung kam für viele überraschend, war die EU-Mitgliedschaft doch essenziell für die Rolle des Vereinigten Königreichs in der Welt und für die Ausrichtung der eigenen Wirtschaft. Andersherum prägte auch das Vereinigte Königreich seinerseits diee Rolle Europas auf der globalen Bühne. 

Bemerkenswerterweise wurden in der Austrittsdebatte weder die wachsenden globalen Spannungen diskutiert noch die Frage nach der geopolitischen Zuordnung des Landes gestellt. Der Brexit-Diskurs wurde vom rechten Flügel der britischen Konservativen weitgehend auf nationale Souveränität als Selbstzweck gemünzt. Die sich abzeichnenden Veränderungen in der globalen Ordnung spielten in der Debatte über eine alternative (sprich: bessere) globale Positionierung Großbritanniens höchstens eine untergeordnete Rolle. 

Damals hatten sogar gemäßigte Brexit-Philosophien noch Konjunktur, laut derer ein dereguliertes Großbritannien, das über eine agile „West-Coast-Tech-Mentalität“ verfüge und sich zwischen Europa und den USA bewege, von der Globalisierung profitiere. Wie plausibel diese Vision jemals war, sei dahingestellt; zweifellos erscheint sie mit Blick auf die heutige geopolitische Lage begrenzter denn je. 

Und doch ist eben dieses neue geo­politische Umfeld die Grundlage für eine Wiederannäherung nach dem Scheidungskrieg. Auslöser dieser Détente war der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022, der beiden Seiten die gemeinsamen demokratischen Werte, die unausweich­liche geografische Verbundenheit und die kollektiven Sicherheitsinteressen deutlich vor Augen führte.

Entsprechend ist die politische und diplomatische Tonlage seit dem Inkrafttreten der gemeinsam in der G7 verhandelten Sanktionspolitik gegenüber Russland im Sommer 2022 merkbar optimistischer. Das in dieser Phase entstandene Windsor-Abkommen, das den Warenverkehr zwischen Nordirland und der EU nach dem Brexit neu regelt, entschärfte die politische Spannung einer neu entstandenen inner-irischen Landesgrenze und trug ­entscheidend dazu bei, die neue Normalität zu stabilisieren. 

Der Status quo ist jedoch alles andere als zufriedenstellend. Ob bei der institutionellen Zusammenarbeit oder in Fragen der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik: Die Beziehungen zwischen Brüssel und London sind bestenfalls in Konturen erkennbar. Nun bieten geopolitische Veränderungen und das gemeinsame Wahljahr 2024 ein Gelegenheitsfenster, diese weiter auszugestalten. Mit Blick auf konkrete Veränderungschancen müssen drei Fragen bedacht werden: Wo sind technische Anpassungen im Rahmen existierender Strukturen möglich? Wo könnten der Kooperation aufgrund des neuen Drittlandstatus strukturell Grenzen gesetzt sein? Und wo lassen sich auch mittelfristig neue gemeinsame Wege einschlagen? Auf längere Sicht lauert die Aufgabe einer neu gedachten und vor allem maßgeschneiderten Form der Partnerschaft. Derzeit ist das aber sowohl in London als auch in Brüssel politisch kaum aussprechbar.


London not calling

Die gegenwärtig nur begrenzte institutionelle Kooperation ist offensichtlich. So sieht die gemeinsam ausgearbeitete politische Erklärung von 2019 auf expliziten Wunsch der damaligen Regierung unter Boris Johnson keinen EU-UK-Gipfel vor – in auffälligem Kontrast zur Schweiz, Norwegen oder der Türkei. Zudem enthält das 2020 abgeschlossene Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) keine nennenswerten Regelungen für eine außen- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit.

Ehemalige britische EU-Diplomaten sprechen von schwerwiegenden Kontakt- und Wissensverlusten 

Die Sunak-Regierung verweist auf vielfältige alternative Austauschformate, insbesondere die G7 oder die neu geschaffene Europäische Politische Gemeinschaft. Doch ehemalige britische EU-Diplomaten sprechen von schwerwiegenden Kontakt- und damit auch Wissensverlusten. Die rasanten Entwicklungen innerhalb der EU seit 2016 werden in britischen politischen Kreisen weniger wahrgenommen als zuvor. Die Labour-Partei fordert für den Fall eines Wahlsiegs eine institutionelle Annäherung („a structured dialogue at both the political and official levels“).


Strukturelle Kooperationsbarrieren

Wirtschaftlich von Bedeutung sind die Lücken im TCA. Diese erstrecken sich von praktischen Fragen der Mobilität junger oder berufstätiger Europäerinnen und Europäer auf beiden Seiten und der gegenseitigen Anerkennung von beruflichen Qualifikationen über fehlende Regelungen für den Handel von Tier- und Pflanzenprodukten bis hin zur strittigen Anwendung von EU-Herkunftsregeln für britische E-Autos. Das Abkommen verpflichtet beide Seiten dazu, bis 2026 eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Auch hier wünscht sich die Labour-Partei Nachverhandlungen.

Diese könnten jedoch auf strukturelle Barrieren stoßen. Mit lückenhaften Regelungen für Dienstleistungen (die wesentliche Stärke der britischen Wirtschaft) und umfassenden Regelungen für Waren (hier erzielt die EU einen Handelsüberschuss) ist das TCA zum Vorteil Brüssels angelegt. Zudem bedeuten die getrennte Regulierungsaufsicht und die fehlende Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs, dass selbst ein ergänztes, besser implementiertes Handels- und Kooperations­abkommen weiterhin aufwändige Grenzkontrollen mit sich bringen wird. 

Dennoch schließt auch Labour eine substanzielle Annäherung an den Binnenmarkt für die kommende Legislaturperiode aus. Eine grundsätzlich neue, besser auf Großbritannien zugeschnittene Vereinbarung, wie das sogenannte Jersey-Modell (EU-Binnenmarktzugehörigkeit für Waren und Güter, nicht aber für Dienstleistungen), ist gegenwärtig selbst am Horizont kaum zu erkennen.

Unterschiedliche industriepolitische Ausrichtungen der EU und Großbritannien könnten für zusätzliches Konfliktpoten­zial sorgen. Die EU hat ihre Industriepolitik mit dem „Green Deal Industrial Plan“ weiter intensiviert. Wenn es Labour gelingt, eine britische Industriestrategie umzusetzen, ausgerichtet auf die Stärkung des innovativen britischen Dienstleistungssektors oder die Produktion erneuerbarer ­Energien, steht diese in direkter Konkurrenz mit EU-Fördermaßnahmen.


Ein Sicherheitspakt mit der EU?

Mehr Kooperationspotenzial bietet mittelfristig der Bereich der europäischen Wehrhaftigkeit. Bereits jetzt bemüht sich Großbritannien um die Teilnahme an einem gemeinsamen europäischen Verteidigungsprojekt im Rahmen der ­PESCO-
Initiative. Es könnte unter noch zu verhandelnden Rahmenbedingungen auch militärische EU-Missionen unterstützen.

Gleichzeitig führen die EU-Bemühungen um strategische Autonomie zu Kooperationsbarrieren. So gibt es derzeit keine Vereinbarung zwischen Großbritannien und der Europäischen Verteidigungsagentur, anders als im Fall von Norwegen, der Schweiz oder den USA. Zudem gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Verteidigungsfonds schwierig – mit Folgen für die europäische 
Rüstungs­industrie. Verantwortlich sind französische Ambivalenzen in Bezug auf die Einbindung Großbritanniens bei der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

Dabei lassen sich gemeinsame Zielsetzungen durchaus identifizieren. Die Tories haben seit 2019 intensive Anstrengungen unternommen, die Außenpolitik konzeptionell zu ordnen und mit neuer Tatkraft zu untermauern. Dies geschah auch als Reaktion auf Vorwürfe, der Brexit würde das Land isolieren. Die „Global Britain“-Strategie der Johnson-Regierung vom März 2021 neigte sich vor allem dem Indo-Pazifik zu, untermauert mit Militär- und Handelsvereinbarungen wie AUKUS und CPTPP. Diese Ausrichtung wurde zwei Jahre später von der Sunak-Regierung zwar bestätigt, gleichzeitig jedoch geschickt verwoben mit einer primär auf Europa ausgerichteten Sicherheitsstrategie. 

Demnach ist der Schutz der westlichen liberalen Ordnung angesichts autoritärer Bedrohung nur durch enge Kooperation innerhalb Europas möglich. Nebenbei wurden 70 neue Handelsabkommen (oftmals mit dazugehörigen Sicherheitsvereinbarungen) vereinbart – eine notwendige neue Aufgabe nach 50 Jahren EU-Mitgliedschaft. Die Ausrichtung überzeugt zwar als in sich stimmig, wirft aber gleichzeitig mit Blick auf den desolaten Zustand der britischen Wirtschaft Fragen der Finanzierung auf. 

Größere Veränderungen sind von Labour nicht zu erwarten; die zentrale Forderung ist bisher ein „Sicherheitspakt mit der EU“. Dieser soll die britische Orientierung in Richtung NATO komplementieren. Zudem setzt auch Labour auf die Verstärkung bilateraler Beziehungen mit europäischen Partnern und benennt hier konkret Frankreich und Deutschland sowie das aus den Iran-Verhandlungen hervorgegangene E3-Format – ein Hinweis auf die außen­politische Führungsrolle der bis dato letzten Labour-Regierung unter Tony Blair.

Labour möchte diese Ausrichtung als europäische Annäherung verstanden wissen. Es fällt jedoch auf, dass die europäische Dimension einer breiter angelegten „Britain Reconnected“-Strategie in einem Zuge mit weiteren außenpolitischen Themenfeldern abgearbeitet wird. Beziehungen zur EU erscheinen in dieser Weltsicht nicht als Teil einer größeren Bestimmung, sondern lediglich als eine weitere außenpolitische Herausforderung, neben Entwicklungshilfe oder Klimawandel. 


Offene Fragen

Unklar bleibt, ob die Zurückhaltung der Labours sowohl in Wirtschafts- als auch Sicherheitsfragen nur taktischer Natur ist (mit Blick auf die Wahlen) oder tiefere Wurzeln hat. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der im linken Spektrum gut verankerte Euroskeptizismus seit dem Brexit zu einer gewissen Gleichgültigkeit weiterentwickelt hat – „just not that into EU“, wie eine britische Zeitung jüngst bemerkte. 

Ebenso offen ist, welche Dynamik eine neue Generation von Labour-Abgeordneten sowie Veränderungen in der öffentlichen Meinung auslösen könnten. Gleiches gilt für den Einfluss neuer rechtspopulistischer Kräfte in Großbritannien, die eine Spaltung der Tory-Partei anvisieren und sehr wahrscheinlich realisieren werden.

Der aktuelle Kurs der britischen Regierung deutet auf eine stetige Verbesserung der Beziehungen zu Brüssel hin, mit Fokus auf der Umsetzung sowie der Ergänzung des TCA bei gleichzeitiger Annäherung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ein Labour-Wahlsieg würde diesem Kurs durch eine noch konstruktivere Tonlage einen Schub verleihen. Kritisch zu hinterfragen ist, ob dieses Veränderungstempo ausreicht, insbesondere im Falle einer Wiederwahl Donald Trumps in den USA und weiterer geopolitischer Umbrüche. 

Grundsätzliche Veränderungen in den Beziehungen – und damit die Ausgestaltung einer maßgeschneiderten Partnerschaft – würden politische Neuverhandlungen auf oberster Ebene voraussetzen. Hierfür braucht es weitreichendere proeuropäische Bekenntnisse von Großbritannien, untermauert mit politisch umsetzbaren Angeboten im Sinne einer umfassenden Sicherheitspartnerschaft.

Seitens der EU, wo geopolitische Rhetorik schnell auf technokratisch-gesetzliche Barrieren stößt, braucht es Offenheit und Flexibilität. Eine Sicherheitspartnerschaft unter „like-minded allies“ ist kaum vereinbar mit einem aus britischer Sicht hochproblematischen Handelsabkommen – ein Aspekt mit einer nicht zu unterschätzenden politischen Sprengkraft.                  

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 52-55

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Jake Benford ist Senior Project Manager im Programm Europas Zukunft bei der Bertelsmann Stiftung.