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29. Apr. 2024

„Trump 2.0 wäre viel schlimmer als die erste Amtszeit“

Hochgradig polarisiert, tiefgreifend verändert: Ein Blick ins Innere der Vereinigten Staaten offenbart, warum sich die Weltmacht auch nach außen wandelt. 

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Bild: Porträt von Francis Fukuyama
Francis Fukuyama ist einer der bekanntesten amerikanischen Politikwissenschaftler. Mit seinem Werk „Das Ende der Geschichte“ wurde er weltberühmt. Seit 2010 lehrt er an der Stanford University. Zuletzt erschien sein Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ (2022).
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IP: Herr Professor Fukuyama, Ihr Buch „Das Ende der Geschichte“ erschien 1992. Wie hat sich die US-Demokratie seitdem verändert? 
Francis Fukuyama: Es gibt viele Dinge, die sich verändert haben, vor allem hat der Grad der Polarisierung zugenommen. Diese Entwicklung begann Mitte der 1990er Jahre, als die Republikaner zum ersten Mal die Kontrolle über das Repräsentantenhaus übernahmen, und sie hat sich in den folgenden 30 Jahren dramatisch beschleunigt. 

Es handelt sich hierbei nicht um eine symmetrische Polarisierung. Zwar hat sich mit dem Aufkommen der Identitätspolitik auch der linke Flügel der Demokratischen Partei in eine progressivere Richtung verschoben. Der Wandel, der zuletzt bei den Republikanern und innerhalb der amerikanischen Rechten zu beobachten war, bewegt sich jedoch in völlig anderen Sphären. Hier hat eine komplette Abkehr von dem stattgefunden, was wir früher als den amerikanischen Konservatismus bezeichnet haben. In den 1980er Jahren, als Ronald Reagan Präsident war, ging es beim Konservatismus um Deregulierung, niedrige Steuern, einen schlanken Staat, die Unterstützung demokratischer Verbündeter im Ausland, das Aufrechterhalten militärischer Macht und ein starkes Engagement in internationalen Institutionen. 

In den vergangenen acht Jahren ist all das völlig auf den Kopf gestellt worden. Der konservative Internationalismus wurde durch eine Rückkehr zum Isolationismus ersetzt. Dieser wurde innerhalb der Republikanischen Partei bereits in der Vergangenheit gepflegt, insbesondere vor dem Angriff Japans auf Pearl Harbor 1941 und auch bis in die späten 1940er Jahre hinein. Danach hatte es sich mit dem Isolationismus jedoch eigentlich erledigt, er existierte nur noch als Randbewegung. Jetzt ist er in großem Stil zurückgekehrt. 

Hinzu kommt, dass sich die Identitätspolitik längst auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums ausgebreitet hat, wo sich immer mehr Menschen in der Rolle als Opfer einer unterdrückerischen Gruppe gefallen. In den vergangenen Jahrzehnten waren es die Progressiven, die hier Pionierarbeit geleistet haben, aber jetzt ist dieses Verhalten ein Merkmal beider Seiten. 

Kombiniert man die Effekte all dieser Entwicklungen, dann steht am Ende eine deutliche Schwächung der US-Außenpolitik, ganz einfach, weil sich niemand mehr darauf einigen kann, was man auf internationaler Bühne tun oder lassen sollte. Das manifestiert sich derzeit auch in der Weigerung, die Ukraine zu unterstützen. 

Mit dem Niedergang der US-Demokratie verlieren die Vereinigten Staaten nicht zuletzt an Soft Power – mit welchen Folgen für die Weltordnung?
Diese Frage hat mehrere Komponenten. Am meisten Sorgen machen sich die Europäer derzeit wohl um die NATO und die allgemeine Haltung der USA zu ihren Allianzen. Alle erinnern sich daran, dass Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung Russland praktisch dazu eingeladen hat, NATO-Staaten anzugreifen, die seiner Meinung nach „ihre Beiträge“ nicht gezahlt haben. Zudem gab es Aussagen von Leuten wie John Bolton, Trumps ehemaligem Nationalen Sicherheitsberater, wonach Trump hinter verschlossenen Türen geschworen habe, sich aus der NATO zurückzuziehen, sollte er 2020 wiedergewählt werden. Berichten zufolge soll Trump auch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesagt haben, dass die Vereinigten Staaten Europa nicht zu Hilfe kommen würden.

Am wichtigsten ist allerdings, dass wir schon jetzt an die Zukunft denken. Zuletzt haben deshalb viele Kongress­abgeordnete versucht, die Sorgen über einen möglichen NATO-Austritt der USA zu beschwichtigen, indem sie erklärten, ohne eine formelle Abstimmung im Senat sei dies gar nicht möglich. Das Problem ist aber: Niemand muss sich förmlich aus der NATO zurückziehen, um ihr Abschreckungspotenzial gegenüber Russland zu untergraben. Dafür würde es schon ausreichen zu signalisieren, dass man seinen Verpflichtungen nach Artikel 5 unter bestimmten Umständen nicht nachkommen wird. Die Gefahr eines solchen Signals ist viel größer als die Gefahr eines formellen Ausstiegs aus dem Bündnis. 

Das andere große Thema hat mit der angesprochenen Soft Power zu tun. Denn über Jahre war die US-Demokratie ein Vorbild für instabile Staaten, Menschenrechtsaktivisten und prodemokratische Gruppen in der ganzen Welt. Sie wollten, dass ihre Heimat so wird wie die USA. Wenn die Vereinigten Staaten kriseln, dann wird diesem Wunsch natürlich seine Basis entzogen. Ich selbst erlebe das bei vielen meiner chinesischen Studentinnen und Studenten: Vor 20 Jahren hätten die meisten von ihnen gesagt, dass sie wollen, dass China so wird wie die Vereinigten Staaten. Jetzt gibt es erstens nicht mehr so viele von ihnen, und zweitens sprechen die Verbliebenen sich immer öfter offen für das chinesische System aus. Und ähnliche Tendenzen sind in der ganzen Welt zu beobachten: Autoritäre Regierungsformen sind auf dem Vormarsch und werden vielerorts imitiert. 

Wie kann sich Europa auf ein „Trump 2.0“-Szenario vorbereiten?
Der offensichtlichste Weg ist die Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Denn im Ex­tremfall ist Europa auf sich allein gestellt, und Russland, dessen Agenda weit über die Ukraine hinausgeht, gewinnt an Momentum. Sollte es Russland gelingen, die Ukraine zu besiegen, dann werden Estland, Moldawien, Georgien und viele andere Länder in der europäischen Peripherie die nächsten Ziele sein. Wenn Europa sich selbst verteidigen will, muss es mehr Geld für seine Verteidigung ausgeben und sicherheitspolitische Koordinierungsmaßnahmen übernehmen, da die traditionelle amerikanische Führung, auf die die europäischen Staaten seit Beginn des Kalten Krieges zählen konnten, dann fehlt. 

Diese Strategie sollte Europa meiner Meinung nach aber nicht nur für den Fall eines Trump-Sieges verfolgen, sondern auch, wenn Joe Biden Präsident bleibt und die USA der NATO treu bleiben. Der Ukraine-Krieg hat eine große Schwachstelle aufgezeigt. Immerhin wäre in den vergangenen 30 Jahren wohl niemand auf die Idee gekommen, dass ein Krieg auf europäischem Boden möglich sei. Aus diesem Grund ist die industrielle Basis der Verteidigungsindustrie nach und nach geschrumpft. Heute kann Europa beispielsweise nicht mehr ausreichend Artilleriemunition herstellen. 

Was würde unter einem wiedergewählten Trump aus der Rolle Amerikas als „Anführer der freien Welt“?
In diesem Fall wird die Führungsfrage neu verhandelt werden müssen. Speziell in Europa könnte das zu einem Problem werden, weil der Kontinent mit dem Thema Führung so seine Probleme hat. Eine Art wirtschaftliche Version dieser Dynamik haben wir während der Euro-Krise beobachten können. Damals war eigentlich klar, dass Deutschland eine Führungsrolle einnehmen muss. Berlin ist aber aus historischen Gründen davor zurückgeschreckt. 

Zudem hat man zuletzt deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Europäern erkennen können. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat etwa über eine mögliche Intervention in der Ukraine gesprochen, Bundeskanzler Olaf Scholz hat solche Gedankenspiele unmissverständlich zurückgewiesen. Und so wird es wahrscheinlich auch weitergehen. Ginge es nur nach mir, dann müsste Deutschland allein schon mangels Alternativen eine stärkere Führungsrolle in Europa übernehmen – vor allem jetzt, da das Vereinigte Königreich aus der EU ausgetreten ist. 

Laut einer Umfrage des Chicago Council von 2023 ist die Unterstützung für ein aktives Engagement der USA in der Weltpolitik unter Amerikanerinnen und Amerikanern heute so gering wie seit 1974 nicht mehr. Warum ist das so?
Die offensichtlichen Gründe sind Af­ghanistan und Irak. Diese Kriege wurden schlecht geführt – und schlecht vorbereitet. Die Invasion des Irak war zudem ein großer Fehler. Ich glaube, viele US-Bürger sind diese Interventionen satt und projizieren dieses Gefühl mittlerweile auf die Außenwelt im Allgemeinen. Die US-Außenpolitik wird allerdings nicht von der Basis bestimmt, sondern von der politischen Spitze.

Ich glaube außerdem, dass die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner gar keine ausgeprägte Meinung zu diesem Thema haben und sich mehr um innenpolitische Belange kümmern. Das Jahr 1974, das Sie genannt haben, ist in gewisser Weise ein ganz passender Beleg für diese Vermutung. Damals gab es aus der Bevölkerung kaum Unterstützung für eine internationalistische Außenpolitik. Wohl vor allem, weil die USA gerade erst den Vietnam-Krieg hinter sich gebracht hatten, einen weiteren überseeischen Konflikt, der die Unterstützung für Interventionen im Ausland bröckeln ließ. Doch als dann Ronald Reagan 1980 ins Amt kam, der eine sehr starke internationalistische Position vertrat und ein besonderes Augenmerk auf das Militär legte, waren doch wieder alle begeistert.

„Viele US-Bürger sind Interventionen wie im Irak satt und projizieren dieses Gefühl auf die Außenwelt im Allgemeinen“

Ich denke, dass die öffentliche Meinung zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen in diesem Sinne maßgeblich davon abhängt, was führende Politikerinnen und Politiker sagen und wie sie die öffentliche Meinung beeinflussen. 1980 war der Spitzenpolitiker der Republikanischen Partei ein Internationalist. Jetzt hat die Partei ­einen Kandidaten, der anti-internationalistisch eingestellt ist. Ich glaube nicht, dass die außenpolitische Meinung des Volkes bei der Auswahl dieser Kandidaten eine große Rolle spielte. 

Dennoch sind die Amerikaner, wie es der ehemalige US-Generalstabschef Mark Milley kürzlich ausdrückte, „nie endende Kriege“ leid ...
Niemand, mich eingeschlossen, befürwortet endlose Interventionen, die weder gut begründet noch einfach zu kontrollieren sind. Wie ich schon sagte: Die Invasion im Irak war ein großer Fehler, und Sie werden relativ wenige Amerikaner finden, die diesen Krieg heute noch verteidigen. Ich halte auch die Art und Weise, wie wir mit Afgha­nistan umgegangen sind, für einen Fehler.

Nicht jede außenpolitische Frage ist jedoch eine Schwarz-Weiß-Entscheidung zwischen Isolationismus und ­Intervention. Ich denke, wir brauchen eine internationalistische Politik, die realistischer und vernünftiger ist, wenn es darum geht, wo und wie wir unsere Ziele verfolgen. Der große Fehler, den die Regierung von George W. Bush gemacht hat, bestand darin, das politische Potenzial militärischer Stärke zu überschätzen. Ich hoffe, dass wir diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Die Unterstützung der Ukraine fällt für mich aber nicht annähernd in diese Kategorie. 

Ein Ende der US-Unterstützung für die Ukraine hätte natürlich enorme Signalwirkung. Was könnte im Fall einer Wiederwahl Trumps noch passieren?
Es gibt eine offene Debatte darüber, wie eine zweite Trump-Präsidentschaft aussehen würde. Viele Menschen, darunter auch viele republikanische Wählerinnen und Wähler, geben an, dass sie bereit sind, für Trump zu stimmen, weil die erste Amtszeit nicht so schlimm war, wie allgemein befürchtet wurde. Zudem nehmen viele von ihnen fälschlicherweise an, dass es der Wirtschaft unter Trump gut ging.

Das Problem an dieser Haltung ist, dass Trumps zweite Amtszeit wahrscheinlich keine Wiederholung der ersten Amtszeit sein wird. In der ersten Amtszeit hatte Trump ja gar nicht erwartet, Präsident zu werden. Er hatte weder politische Berater noch Kandidaten, mit denen er die Kabinettspositionen besetzen konnte. Deshalb war er in Sachen Regierungsführung stark auf die Republikanische Partei angewiesen, und viele seiner ersten Kabinettsmitglieder waren Personen, die auch jeder republikanische Präsident gewählt hätte: H.R. McMaster, Rex Tillerson und andere. 

Im Laufe seiner Amtszeit traten dann jedoch zahlreiche Kabinettsmitglieder zurück oder wurden entlassen. Trump hatte erkannt, dass diese alteingesessenen Republikaner ihm gegenüber nicht unbedingt loyal waren. Also entledigte er sich nach und nach all derer, die über die berufliche Erfahrung und die Fähigkeit verfügten, ihren Job zu machen, und ersetzte sie durch Lakaien, die nach seiner Pfeife tanzten. Mark Esper, der ehemalige Verteidigungsminister, wurde zum Rücktritt gezwungen, weil er sich entsetzt darüber zeigte, dass Trump seine Wahlniederlage nicht anerkennen wollte. Ersetzt wurde er durch Christopher Miller mit Kash Patel als Stabschef, der absolut keine Erfahrung im Verteidigungsbereich hatte. In Trumps Augen war Patel für den Job geeignet, nur weil er ihm gegenüber loyal sein würde. 

Das gibt Ihnen eine Vorstellung davon, wie das Personal in einer zweiten Trump-Regierung aussehen wird. Auch die Heritage Foundation hat festgestellt, dass der Mangel an loyalen Mitarbeitern die erste Trump-Regierung behindert hat. Deshalb bereitet sich sein Lager mit dem „Project 2025“ bereits auf eine zweite Amtszeit vor und plant, eine Vielzahl von Beamten zu entlassen und sie durch Personen zu ersetzen, die im Voraus ausgewählt wurden. Bei dieser Auswahl wird Loyalität eine größere Rolle spielen als Kompetenz. Die Behörden, die am unmittelbarsten davon betroffen sein werden, sind die, die mit nationaler Sicherheit zu tun haben, etwa das Verteidigungsministerium, die CIA und das Außenministerium. Das werden die ersten Ziele sein.

Sobald diese Personalwechsel vollzogen sind, wird es für Trump viel einfacher sein, die Dinge zu tun, die er tun möchte. Er wird dann nicht mehr so zurückhaltend agieren wie in der ersten Amtszeit. Meiner Meinung nach wird seine Rückkehr also nicht mit seinen ersten vier Jahren als Präsident vergleichbar sein. Es wird viel schlimmer sein. Leider gibt es eine ganze Reihe amerikanischer Wählerinnen und Wähler, die das anders sehen.

Ein weiteres Beispiel, was im Falle einer zweiten Trump-Amtszeit passieren könnte: Trump hat geschworen, sollte er wiedergewählt werden, einen Generalstaatsanwalt einzusetzen, der die „Biden-Verbrecherfamilie“ strafrechtlich verfolgt. Und die Republikaner im Repräsentantenhaus haben bereits versucht, „Beweise“ für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Biden zu sammeln. Diese „Beweise“ gibt es zwar nicht, aber sie haben trotzdem versucht, sie zu fabrizieren. Damit sind sie zwar bislang krachend gescheitert, aber sollte Trump Präsident werden, dann spielen Beweise womöglich keine Rolle mehr. Er könnte Staatsanwälte ernennen, die so oder so gegen Biden vorgehen. Sollte das passieren, dann müsste man die USA fortan in einem Atemzug mit manch einem Entwicklungsland nennen, in dem die Justiz als Waffe gegen politische Gegner eingesetzt wird. Das wäre ein schrecklicher Präzedenzfall. 

Warum finden der Trumpismus und ­autokratische Ideen bei den US-Bürgern überhaupt Anklang?
Ein Teil der Antwort ist das, was wir bereits eingangs besprochen haben: die Veränderungen der amerikanischen Demokratie in den vergangenen Jahren. Zudem hat sich die Informationslandschaft verändert. Diesen Faktor halte ich mittlerweile für sehr entscheidend. Mit dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien leben die Menschen in völlig verschiedenen Informationsräumen, in denen sie ganz unterschiedlichen Nachrichten Glauben schenken. So glaubt die Mehrheit der Republikaner laut Umfragen, dass die Wahl 2020 gestohlen wurde. Ist es da nicht folgerichtig, dass Menschen wütend sind und zu extremen Maßnahmen greifen? Wenn diese Wähler wirklich daran glauben, dass Biden massiven Betrug begangen und eine rechtmäßige Wahl gekippt hat, dann scheint mir das nur logisch. Dass das Ganze auf einer glatten Lüge beruht, spielt dabei keine Rolle, weil es bereits genug Menschen gibt, die dieses Narrativ aufgesogen haben. Sie glauben ihrerseits, dass sie die Rechtsstaatlichkeit und die Verfassung verteidigen. 

Trump hat wiederholt mit der Idee gespielt, Diktator zu sein, wenn auch nur „für einen Tag“. Das klingt sehr unamerikanisch. Warum schreckt es Wähler nicht ab?
Ich denke, das liegt daran, dass viele die Bedrohung einfach nicht ernstnehmen. Wenn Trump sagt, er will an seinem ersten Tag im Amt ein Diktator sein, dann sagen viele, vor allem viele Republikaner: „Nun, das ist eben Trump. Ihr solltet ihn nicht ernst nehmen, er scherzt halt gern.“ Das ist ein psychologisches Problem. Wenn man etwas nur fest genug glauben will, dann wird man auch Argumente finden, um zu erklären, warum die Welt so ist, wie man sie haben will, und nicht so, wie sie ist. 

„Biden selbst hätte beschließen können, nach vier Jahren aufzuhören, aber das ist nicht passiert – jetzt stecken wir fest“

Man kann die US-Politik meiner Meinung nach nicht mehr mit herkömmlichem Politjargon erklären. Man muss stattdessen auf diese Art von psychologischen Erklärungen zurückgreifen. Natürlich spielt die eine oder andere inhaltliche Frage auch eine Rolle, denn Biden erweist sich bislang als extrem schwacher Kandidat. Neben der Tatsache, dass ihn sein Alter in den Augen vieler Menschen für das Amt des Präsidenten disqualifiziert, schneiden auch manche seiner politischen Maßnahmen schlecht ab. So zum Beispiel sein Umgang mit der Grenze zu Mexiko, wo die Zahl der Menschen, die einen Flüchtlingsstatus beantragen, dramatisch gestiegen ist. Biden hat zwar mehrfach stichhaltig erklärt, warum ihm die Hände gebunden sind, die Menschen sind trotzdem wütend.

Das grundlegende Problem ist, dass die Demokraten sich nicht auf einen anderen Kandidaten geeinigt haben. Auch Biden selbst hätte beschließen können, nach vier Jahren aufzuhören, aber das ist nicht passiert. Jetzt stecken wir fest. 

Muss man die liberale Demokratie reformieren, um sie widerstandsfähiger gegen den Autoritarismus zu machen, speziell in den USA?
Einige interessante institutionelle Lösungen gäbe es, ja. Ein Teil des Problems ist das Präsidialsystem, gekoppelt mit dem „First-past-the-post“-Wahlsystem, bei dem man im Gegensatz zu einer Verhältniswahl entweder alles gewinnt oder alles verliert. Diese beiden Faktoren haben stark zum Grad der Polarisierung in den USA beigetragen. Und hätten wir ein parlamentarisches System nach britischem Vorbild, dann könnte eine Partei beispielsweise einfach beschließen, eine schwache Parteispitze abzulösen. Die britischen Konservativen haben das in der Vergangenheit schon ein paar Mal gemacht. Im US-System ist das nicht möglich. Im Rahmen eines Verhältniswahlrechts oder eines Präferenzwahlsystems wäre es auch viel einfacher, für Kandidaten jenseits der beiden großen Parteien zu stimmen. 

Aber auch wenn es eine Menge Dinge gäbe, die wir institutionell tun könnten, um die US-Demokratie widerstandsfähiger zu machen: Der derzeitige Grad der Polarisierung lässt solche Reformen nicht zu. 

Bei einer Kundgebung in Ohio im März sagte Trump, es werde in den USA keine weiteren Wahlen mehr geben, sollte er 2024 nicht gewinnen. Wie realistisch ist ein Bürgerkriegsszenario?
Nicht sehr wahrscheinlich, wenn Sie mich fragen. Denn anders als im Bürgerkrieg, den die USA bereits hinter sich haben, gibt es heute keine geografische Trennung zwischen der roten und der blauen Seite. Selbst in roten Staaten wie Wyoming, Montana oder Alabama werden die großen Städte von Demokraten kontrolliert. Ich wüsste nicht, wer hier auf wen schießen sollte, wenn die Bevölkerung politisch so durchmischt ist. Dass es zu Gewalt kommt, ist aber natürlich nicht ausgeschlossen. Sollte die Wahl offen angefochten werden oder sollte es zu Unstimmigkeiten bei der Stimmenauszählung kommen, dann gibt es zweifelsohne viele schwer bewaffnete Menschen, die wütend sein werden. Menschen, die bereit sind, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Solche Art von Gewalt liegt im Bereich des Möglichen. 

Was macht Sie trotz dieser düsteren Aussichten optimistisch?
Ich muss sagen, dass ich im Moment nicht sonderlich optimistisch gestimmt bin. Allerdings nimmt der Wahlkampf gerade erst Fahrt auf. Derzeit verfügen die Demokraten über viel mehr Geld als die Republikaner, auch weil Donald Trump noch immer damit beschäftigt ist, seine Anwaltsrechnungen für all die Gerichtsverfahren zu bezahlen, die er in den vergangenen Monaten verloren hat.

Zudem scheinen die Wähler, die derzeit befragt werden, noch sehr uninformiert zu sein. Viele von ihnen haben das politische Geschehen zuletzt offenbar nicht genau verfolgt. An die letzte Trump-Regierung haben sie nur vage Erinnerungen, über die Anklagen und Strafprozesse sind sie mitunter gar nicht informiert – und auch einige der verrückten und ungeheuerlichen Dinge, die Trump gesagt hat, haben sie nicht mitbekommen. Wenn wir uns aber erstmal mitten im Wahlkampf befinden, dann werden all diese Dinge mehr und mehr in den Vordergrund rücken. 

Die US-Wahlen sind keine Volksabstimmung im herkömmlichen Sinne. Sie werden maßgeblich von den Ergebnissen in etwa sechs „swing states“ abhängen. Es sind am Ende also eine Handvoll Wähler in diesen Staaten, die bestimmen, wer der nächste Präsident wird. Viele dieser Wähler lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt noch überzeugen und sind nicht so stark parteigebunden, dass sie auf ihren Standpunkten beharren. Diese Gruppe wird zwar immer kleiner, aber sie sollte uns Hoffnung geben. 

Es wurde zuletzt ja viel über Bidens Alter und seine Vergesslichkeit gesprochen. Weniger Augenmerk lag derweil auf Trump. Dessen geistiger Zustand hat sich laut Einschätzung einiger Beobachter jedoch in den vergangenen Monaten auf vielleicht entscheidende Art und Weise verschlechtert. Er redet oft unzusammenhängend. Einige Neurologen halten das nicht für eine altersbedingte Sache, sondern für etwas Tiefgreifenderes. Wir werden abwarten müssen, ob das stimmt. In jedem Fall ist es bedauernswert, dass das Schicksal der US-Politik maßgeblich davon abhängt, wessen Gesundheitszustand sich schneller verschlechtert. So weit ist es mittlerweile gekommen.

Das Interview führten Martin Bialecki, Henning Hoff, Tim Hofmann, Uta Kuhlmann, Hannah Lettl und ­
Joachim Staron. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier              

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 24-31

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Francis Fukuyama ist einer der bekanntesten amerikanischen Politikwissenschaftler. Mit seinem Werk „Das Ende der Geschichte“ wurde er weltberühmt. Seit 2010 lehrt er an der Stanford University. Zuletzt erschien sein Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ (2022).