Szenarien von Krieg und Frieden: Was „Wargames“ können
Wargames, Simulationen von Konfliktszenarien, dienen als wichtiges Instrument zur Analyse und Vorbereitung auf reale militärische und geopolitische Herausforderungen. Traditionell auf taktische Gefechte fokussiert, gewinnen sie in der modernen Strategieplanung stetig an Bedeutung – wie sehr, zeigt auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine.
Für die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine ist das gelingende Zusammenspiel von Politik, Militär, Wirtschaft und Zivilgesellschaft entscheidend. Ohne westliche Militärhilfe sind die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine nicht aufrechtzuerhalten. Die Faktoren wiederum, die den Fortbestand dieser Militärhilfe beeinflussen, sind sowohl politisch als auch wirtschaftlich; sie entwickeln im Zusammenspiel mit der militärisch-operationalen Ebene eine oft unbeabsichtigte Dynamik; diese gibt den strategischen Rahmen vor, in dem sich die Ukraine verteidigen kann – insgesamt ein Feld, das sich für Konfliktsimulationen sehr gut eignet.
Die meisten Wargames verbleiben allerdings auf der taktischen Ebene und simulieren Konflikte in klar umrissenen Gefechtsfeldern. So zielte ein Bericht der RAND Corporation Mitte des Jahres 2022 auf die Analyse der Unterschiede zwischen den Ergebnissen früherer Wargames, die einen russischen Angriff auf die NATO simulierten, und der realen Performance der russischen Streitkräfte in der Ukraine ab.
Ein zu schmaler Fokus
Der Bericht identifiziert mehrere wichtige Unterschiede. So unterschätzten die Wargames die Bedeutung von Nachschubproblemen und logistischen Herausforderungen, die in der Ukraine-Invasion deutlich wurden. Die Fähigkeit der russischen Armee zu kombinierten Operationen wurde dagegen überschätzt. In der Ukraine waren russische Truppen oft schlecht koordiniert und somit weniger effektiv. Die Bedeutung von Moral und Ausbildung wurde in den Wargames möglicherweise zu gering angesetzt, was wiederum zu einer Überschätzung der Kampfkraft der russischen Truppen führte. Der taktisch-operative Fokus bestehender Wargames verdeckt demnach Erfolgsvoraussetzungen, die strategisch zu schaffen sind.
Siehe das Beispiel Kursk: Dem ukrainischen Angriff auf die russische Provinz ging sehr wahrscheinlich eine monatelang andauernde Phase der operationalen Vorbereitung, der Täuschung, Verschleierung und Irreführung der russischen Militärführung voraus, ohne die das entscheidende Überraschungsmoment überhaupt nicht hätte erreicht werden können. Voraussetzung: strategische Simulation.
Simulation komplexer Entscheidungen
Zunächst einmal lassen sich mit Wargames die verhaltenswissenschaftlichen Mikrofundamente internationaler Sicherheit erforschen; oft stellen einige wenige historische Fälle und Berichte die Datengrundlage für die Modellierung komplexer Entscheidungen dar. Hier können experimentelle Designs helfen, Entscheidungsmuster nachzubilden, und so die Zahl vergleichbarer Fälle erhöhen. Wargames werden bereits eingesetzt für die Erforschung der Cybersicherheit, zur Entscheidungsfindung in Krisensituationen oder zur Nachbildung komplexer Entscheidungssituationen in der Friedenssicherung.
Nachdem über Jahre das Interesse an diesem Instrument gering war, weckte die sich rasch verändernde geopolitische Lage nach der russischen Annexion der Krim 2014 das Interesse an Wargames neu. Um ihre zunehmende institutionelle Bedeutung zu unterstreichen, hat das Allied Command Transformation der NATO seine „Operations and Experimentation“-Sparte seit 2022 zur „Experimentation & Wargaming Branch“ umstrukturiert. Sie weist Wargames einen zentralen Part für die Weiterentwicklung der Verteidigungsallianz zu.
In ihrer militärischen Ausrichtung sind Wargames Konfliktsimulationen zur Ableitung von Erkenntnissen auf taktischer Ebene. Weitet man den Blick, so bietet Erik Lin-Greenbergs Definition im Journal of Conflict Resolution einen Anhaltspunkt dafür, wie sich Wargames in der Strategiefindung einsetzen lassen: „Wargames lassen menschliche Spieler in interaktive Szenarien eintauchen, in denen sie Entscheidungen nach vorgegebenen Regeln treffen und auf die Folgen ihrer Entscheidungen reagieren.“ Ein frühes Beispiel für ein strategisches Wargame ist das von John F. Kennedy und Henry Kissinger gespielte Brettspiel „Diplomacy“ mit seinen diversen Möglichkeiten zur Kooperation, Täuschung oder zur strategischen Untätigkeit.
Strategische Erfolgsvoraussetzungen
Die USA haben eine reiche Tradition, Wargames im Training, in der Operationsplanung und als Forschungsinstrument anzuwenden. Sie kann als Ausgangspunkt für eine intensive Beschäftigung mit Wargames als Forschungs- und Planungsmethode sowie als Trainingsinstrument dienen. Hierbei müssen Geopolitik und Geoökonomie gleichzeitig gedacht werden – in einem globalen und in Echtzeit vernetzten weltweiten Informationsraum, getrieben und verändert durch ständigen technologischen Wandel.
Wie wirkmächtig Wargames Strategien formulieren helfen und Transformationsprozesse begleiten können, zeigt ein Blick auf die ukrainische Militärreform von 2016–2022. Hier hat die Forschung neue Führungs- und Kontrollsysteme sowie ein neues Unteroffizierskorps und Spezialeinheiten als Hauptfaktoren identifiziert, aufgrund derer sich die Ukraine zunächst erfolgreich gegen die russische Invasion verteidigen konnte. In Verbindung mit klaren Beschaffungsprioritäten schuf die Reform die Voraussetzungen für die Entwicklung eines flexiblen und anpassungsfähigen Militärs, das in der Lage ist, russische Angriffe abzuwehren – hin zu ukrainischen Streitkräften, die mit der NATO interoperabel sind.
Experimentelle Designs
Für den Erfolg der ukrainischen Militärreform dürfte der neue Fokus der NATO auf experimentelle Designs zur Erprobung von Doktrinen mitverantwortlich sein, insbesondere durch Wargaming. Die Formalisierung eines schnellen Entwicklungsprozesses ermöglicht die Entwicklung von Fähigkeiten und eine strukturierte Zusammenarbeit. Simulationsumgebungen, die den ukrainischen Streitkräften zugänglich gemacht wurden, sind weiter ein entscheidendes Instrument dafür, um die Fähigkeiten zur Gefechtsführung und zur Integration der ukrainischen Streitkräfte in westliche Strukturen zu ermöglichen.
Die Trainingsmethoden der seit 2016 an der Neuentwicklung der ukrainischen Militärdoktrin beteiligten Trainer der U.S. Army Security Assistance Training Management Organization (SATMO) nutzen Wargames in hohem Maße zur taktischen und operativen Simulation. Außerdem testen sie unmittelbar Grundsätze in der Entwicklung von Doktrinen, um deren Stärken, Schwächen und blinde Flecken zu identifizieren. Mit Hilfe der Simulation in Wargames werden so die strategischen Voraussetzungen gesetzt, um taktisch-operativen Erfolg haben zu können – von der Infrastrukturentwicklung über das Setzen von Beschaffungsprioritäten. So legte die „Taskforce Illini“ der SATMO einen Schwerpunkt darauf, ukrainischen Offizieren Wargame-Designs zu vermitteln, diese an ihre spezifischen Erfordernisse anzupassen und daraus gemeinsam Erkenntnisse für die Operationsführung abzuleiten.
Natürlich: Wie stark der neue Fokus auf die Simulation von Konfliktsituationen und daraus abgeleitete Erkenntnisse tatsächlich die ukrainische Militärreform erfolgreich gemacht haben, lässt sich nur schwer konkret quantifizieren. Allerdings wird deutlich, dass strategische Schwerpunkte wie die Beschaffungspriorisierung ohne vorherige Simulation nur schwer hätten bestätigt werden können.
Weitere Anwendungspotenziale
In Wargames lassen sich auch Theorien experimentell testen; es kann zum Beispiel modelliert werden, unter welchen Bedingungen die Teilnehmenden in ein Wettrüsten einsteigen. Ferner lassen sich durch deren Zusammenstellung Verzerrungen in Entscheidungs- und Strategiefindungsprozessen etwa aufgrund von Geschlecht oder Herkunft nachbilden. Außerdem lassen sich über die Auswahl der Teilnehmenden, etwa mit Entscheidungsträgern aus der Ministerialbürokratie, realitätsnahe Entscheidungs- und Strategiefindungszusammenhänge abbilden.
Teilnehmende an Wargames werden unmittelbar mit den Folgen ihrer Entscheidungen konfrontiert. Sie machen es so möglich, die Bedeutung von Emotionen in internationalen Beziehungen näher zu untersuchen – die Teilnehmenden werden mit dem Gefühl des Verlierens, der Unzulänglichkeit etc. konfrontiert. Solche emotionalen Komponenten und der unmittelbare Einfluss anderer Persönlichkeitsmerkmale (Aggression, Offenheit, Extrovertiertheit etc.) lassen die Teilnehmenden tief in die Spielrealität eintauchen. Sie beginnen, eine eigene Geschichte zu Strategie, Erfolg und Misserfolg zu entwickeln, die ihr jeweiliges Spielverhalten erklärt und beeinflusst.
Unter Laborbedingungen lassen sich auch Faktoren wie der „cognitive load“ von Entscheidungsträgern in Strategiefindungsprozessen messen: geweitete Pupillen, schweißnasse Hände, erhöhter Puls – so lässt sich nachvollziehen, wie schnell und unter welchen körperlichen Bedingungen sich Entscheidungsträger an neue Situationen anpassen. Dies bietet eine Vielzahl von Ansätzen in der interdisziplinären Forschung und zur Fortentwicklung von Strategiefindungsprozessen. Durch ein solch vollständiges Eintauchen der Teilnehmenden (Immersion) können Wargames möglicherweise auch eine größere externe Validität in der Forschung zu Strategieprozessen, Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen für sich beanspruchen als andere experimentelle Ansätze.
Fazit und Kritik
Die Bedeutung von Wargames hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Organisationen wie die NATO haben ihre Organisationsstrukturen angepasst und Wargames als festen Bestandteil für Planung, Training und Weiterentwicklung etabliert. Die Einbindung von Simulationsdesigns in Trainings zur Begleitung der ukrainischen Militärreform zeigt deutlich, dass sich mit Wargames der strategische Rahmen für taktisch-operativen Erfolg entwickeln lässt und strategische Prioritäten identifiziert werden können.
Die vielfältigen Anwendungspotenziale von Wargames werden allerdings noch nicht umfassend genutzt. Die Vorstellung von Wargames und deren Umsetzung bleiben noch stark in ihrer Tradition des Kalten Krieges verankert. Neue Impulse zur Nutzung von Wargames kommen bisher vorwiegend aus den USA.
Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Forschung zu internationalen Beziehungen lässt sich ein dezidierter Arbeitsauftrag ableiten: Wargames sind als Forschungs-, Planungsmethode und Trainingsinstrument in Deutschland zu verankern. Dazu sollten in Forschungseinrichtungen entsprechende Bereiche gegründet und zur experimentellen Forschung ausreichend finanziert werden. Das Doktrinzentrum und das Wargaming-Referat der Führungsakademie der Bundeswehr sowie das German Wargaming Center an der Helmut-Schmidt-Universität sind erste Institutionen, die Wargames in Forschung und Training zur Entwicklung des strategischen Rahmens und operativen Erfolgs einsetzen. So lassen sich speziell auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zugeschnittene Szenarien entwickeln, spielen und daraus wertvolle Erkenntnisse für Planung und Weiterentwicklung ableiten.
Den Herausforderungen, die sich aus dem notwendigen Zusammendenken von Geopolitik und Geoökonomie ergeben, einem globalen Informationsraum sowie den rasch voranschreitenden technologischen Entwicklungen ließe sich so konzeptionell etwas entgegensetzen: Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ließe sich faktenbasiert weiterentwickeln.
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