Unterm Radar

28. Aug. 2023

Stabil verschuldet

Ägyptens brachiale Modernisierung hat einen hohen Preis: Die Sisi-Regierung sichert ihre Macht durch massive Repression. In der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise setzt sie darauf, dass niemand an Chaos interessiert ist – weder im In- noch im Ausland.

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Bild: Bau der neuen Verwaltungshauptstadt Ägyptens
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Im historischen Viertel Al-Khalifa im Süden Kairos, nicht weit entfernt von der Zitadelle, rückten in diesem Frühjahr Bagger an. Jahrhundertealte Friedhöfe müssen weichen für moderne mehrspurige Ausfallstraßen. Proteste von Anwohnern und Archäologen bleiben folgenlos; die bedeutsamen historischen Orte würden geschützt und die Leichname umgebettet, beschwichtigt die Verwaltung.

Andernots prägen Kräne das Stadtbild – in Kairo, Alexan­dria und vor allem in der neuen, noch namenlosen Verwaltungshauptstadt. Hier, rund 45 Kilo­meter östlich von Kairo, entstehen Regierungsgebäude, ein von Wolkenkratzern geprägter Geschäftsdistrikt, dazu Moscheen, Kirchen, ein Flughafen und ein Stadion.

2015 verkündete die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-­Sisi den Plan, eine neue Hauptstadt für das bevölkerungsreichste Land in der arabischen Welt zu bauen. Das offizielle Ziel: den Verkehr in der 20-Millionen-Einwohner-Stadt Kairo zu entlasten. Wer dort jemals stundenlang im Stau stand, der dürfte dieser Idee durchaus etwas abgewinnen.

Aber hinter dem Plan der Regierung steckt mehr: der Wunsch nach einem neuen Ägypten, das den von vielen als chaotisch empfundenen Jahren von 2011 bis 2013 entrückt ist.

 

Ein Jahrzehnt Sisi-Herrschaft

Seit 2013 ist Präsident Sisi nun an der Macht – nach einem Putsch gegen die Regierung der Muslimbrüder und den frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Das größte Versprechen des ehemaligen Militärchefs war es, Stabilität zu schaffen. Darauf aufbauend setzt Sisi auf eine brachiale Modernisierung, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung nimmt. In gewisser Weise ist er mit beiden Projekten erfolgreich: Innenpolitisch herrscht Friedhofsruhe, und so manches Bauprojekt wird auch fertig, wie der zehnspurige Highway direkt an der Küste von Alexandria, der als Musterbeispiel eines autogerechten Strandes gelten kann.

Der Preis für Stabilität und Modernisierung ist jedoch immens: Politisch sichert sich das Sisi-Regime die Macht durch massive Repression, und die Modernisierung geschieht auf Pump. Die Auslandsverschuldung des Landes hat sich von 2015 bis 2022 vervierfacht – auf mehr als 160 Milliarden US-Dollar. Im Herbst 2022 hat Stephan Roll, Leiter der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Ägyptens Regierung noch eine „erfolgreiche Schuldenpolitik“ attestiert.

Man könnte aber auch von einem geschickt konstruierten Kartenhaus sprechen: Großzügige Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) ermunterten die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, ebenfalls Geld in Milliardenhöhe zuzuschießen. Zusammen sicherte das die Kreditwürdigkeit auf den internationalen Kapitalmärkten.

Mit dem Zufluss der Devisen konnte Sisi die wichtigste Stütze seines Regimes befriedigen: das Militär. Inzwischen, sagt Roll, sei dieses Modell jedoch an seine Grenzen gestoßen: In den Golfstaaten sei der Ärger groß und die Bereitschaft, noch mehr Geld nach Ägypten zu pumpen, immer geringer geworden. Dazu sei der IWF erstmals seit Beginn der groß angelegten Unterstützung im Jahr 2016 „zickig“ geworden. Der Grund: Angekündigte Reformen und Privatisierungen kommen nur stockend voran; außerdem verweigert Kairo bislang die vom IWF geforderte Wechselkursliberalisierung des ägyptischen Pfundes.    

Im Juni 2023 bat der ägyptische Präsident die ausländischen Gläubiger um Verständnis – die ökologisch nachhaltige Erneuerung seines Landes brauche Zeit. Dazu hätten die Corona-Pandemie und die Folgen des Krieges in der Ukraine die Wirtschaft ausgebremst. Viele Kommentatoren sahen darin nur Ausreden, denn weder stehen die Großprojekte des letztjährigen Gastgebers der Weltklimakonferenz für besondere Nachhaltigkeit, noch zeichnet sich ab, dass sie für die Geldgeber profitabel sein könnten.

 

Too big to fail?

Droht das Kartenhaus also einzustürzen und Ägypten der finanzielle Ruin? Für die Regierung in Kairo ist das unvorstellbar. Sie setzt darauf, dass ihr Land mit seinen 108 Millionen Einwohnern too big to fail ist, dass für viele wichtige Akteure in der internationalen Politik weiterhin die Stabilität Ägyptens Priorität hat. Das gilt für den IWF und nicht zuletzt für die Europäische Union.

Die Europäer haben sehr genau registriert, dass allen Anzeichen nach ein ägyptisches Schleusernetzwerk beteiligt war an der Fahrt des Flüchtlingsboots, das im Juni vor der Küste der griechischen Stadt Pylos gekentert ist. Für die EU gilt das Sisi-Regime bislang als wichtiger Partner im Kampf gegen die illegale Migration. Sisi weiß genau, wie groß die Sorge in Europa ist, dass deutlich mehr Ägypter den gefährlichen Weg über das Mittelmeer suchen. Die Angst vor Chaos und Instabilität in Ägypten ist Sisis größter Trumpf, sowohl innen- als auch außenpolitisch.

Ob er als Herrscher mittelfristig unantastbar bleibt, ist dennoch nicht ausgemacht. Mut­maßlich hängt das davon ab, wie sich die Golfstaaten positionieren, sollte sich innerhalb der militärischen Elite ein Herausforderer finden.

Und wo bleibt bei all dem die Bevölkerung? Die ächzt unter steigenden Preisen. Im Frühjahr lag die Inflation bei mehr als 30 Prozent. Zum Opferfest konnten sich viele Ägypter kein Fleisch leisten. Nach Angaben der Regierung leben rund 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die Weltbank und internationale Experten gehen jedoch davon aus, dass die Quote eher doppelt so hoch liegt. „Der Unmut in der breiten Bevölkerung wächst, die wirtschaft­liche Situation ist ein absolutes Desaster“, sagt Stephan Roll.



Freie Wahlen nicht in Sicht

Damit, dass dieser Unmut in politischen Widerstand umschlägt, rechnen die meisten Beobachter aber nicht. „Wenn es freie Wahlen gäbe, wäre das das Ende der Herrschaft von Sisi“, ist Basma Mostafa überzeugt. Die Investigativjournalistin, die seit zwei Jahren in Deutschland im Exil lebt, sagt aber auch: „Ich habe keine Hoffnung.“ Zu umfassend war die Repression in zehn Jahren Sisi-Herrschaft. Die freie Presse ist bis auf wenige Ausnahmen ausgeschaltet; nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sitzen rund 60 000 Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis. Die Muslimbruderschaft ist weitgehend zerschlagen und intern zerstritten, den säkularen Aktivistinnen und Aktivisten von 2011 – sofern sie noch in Freiheit und in Ägypten leben – fehlt die Energie, um sich gegen das Regime aufzulehnen.

Im April 2024 läuft Sisis zweite Amtszeit ab. Gewählt wird möglicherweise schon Ende dieses Jahres oder Anfang 2024. Damit, dass sich der aktuelle Präsident einem echten politischen Wettbewerb stellen wird, rechnet Basma Mostafa nicht. Sie verweist auf den Fall von Ahmed Tantawi. Der ehemalige oppositionelle Parlamentsabgeordnete hatte im Frühjahr aus dem libanesischen Exil heraus angekündigt, er wolle bei der Präsidentschaftswahl antreten. Daraufhin wurden nach Angaben von Human Rights Watch zwölf Angehörige und Unterstützer Tantawis in Ägypten festgenommen. „Der Bevölkerung ist diese Wahl inzwischen egal“, sagt Mostafa, „es wissen ja eh alle, wie sie ausgehen wird.“ Sie geht davon aus, dass das Regime es nur relativ unbekannten Zählkandidaten ermöglichen wird, gegen Sisi anzutreten.



Vorgetäuschte Reformen

Inmitten der ­Wirtschaftskrise und vor den anstehenden Wahlen hat Sisi durchaus den Wunsch, größere Teile der Bevölkerung und der politischen Klasse einzubinden, allerdings ohne dabei große demokratische Zugeständnisse zu machen. 2022 rief er dazu einen „nationalen ­Dialog“ ins Leben, an dem auch Oppositionsparteien teilnehmen.

Für Mostafa ist das nur „eine Show“, die gegenüber dem Westen Reformbereitschaft vortäuschen soll: „Sie haben im Rahmen des sogenannten Dialogs zwar einige Menschenrechtler freigelassen, im gleichen Zeitraum kamen aber noch viel mehr Menschen ins Gefängnis.“ Gleichzeitig bleibt der nationale Dialog ein Hebel, um Missstimmungen im In- und Ausland abzumildern. SWP-Experte Roll will nicht ausschließen, dass noch vor der Wahl prominente Gefangene aus der Haft entlassen werden könnten. Möglicherweise wird auch der Raum für Gegenkandidaten bei der Wahl etwas weiter geöffnet als 2018, als Sisi nach offiziellen Angaben mehr als 97 Prozent der Stimmen erhielt.

Ein grundsätzlicher Wandel der autoritären Politik in Kairo steht aber nicht bevor: In den Jahren vor dem Sturz des Langzeitherrschers Hosni Mubarak 2011 beendete der Bestseller-Autor Alaa al-Aswani seine regierungskritischen Zeitungskolumnen immer mit dem Satz „Demokratie ist die Lösung“. Damals war das eine Hoffnung – im heutigen Ägypten scheint es unvorstellbar.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 12-14

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Moritz Behrendt ist freier Journalist. Er arbeitet unter anderem für zenith, Deutschlandradio und das ARD-Hörfunkstudio in Kairo.

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