IP

01. Febr. 2005

»Scharon hat mich überrascht«

David Grossmann im Gespräch mit der IP

Der israelische Schriftsteller zu Siedlern und neuen Friedenschancen

IP: Herr Grossmann, der neu gewählte palästinensische Präsident Mahmud Abbas verhandelt einen Waffenstillstand mit den Extremisten, und in Israel will eine große Koalition unter Ariel Scharon den Rückzug der israelischen Siedler aus Gaza koordinieren. Sind das Gründe für Optimismus?

Grossmann: Im Nahen Osten ist allzu großer Optimismus nie angebracht. Mir ist eine nüchterne Analyse der Hoffnungen und Gefahren viel lieber. Anlass zur Hoffnung ist für mich natürlich schon, dass Mahmud Abbas, der neue palästinensische Präsident, während seiner gesamten Wahlkampagne betont hat, dass die Gewalt gegen Israel ein Ende haben muss – und zwar aus einem ganz wichtigen Grund: Sie schadet nicht nur uns, sondern der palästinensischen Sache. Eine große Mehrheit der Palästinenser hat für ihn gestimmt. Das zeigt mir, dass die meisten Palästinenser seine Position unterstützen. Wenn Mahmud Abbas und Ariel Scharon die nächsten Schritte sehr vorsichtig planen, dann könnten wir zum Friedensprozess zurückkehren.

IP: Während Abbas’ Amtszeit als Premier hat die Regierung Scharon sich nicht besonders kooperativ gezeigt. Dass palästinensische Gefangene nicht entlassen wurden, unterminierte das Prestige des Premiers und sein Reformprogramm. Was kann und will Israel denn jetzt besser machen?

Grossmann: Wir haben eine ganze Reihe großer Fehler begangen, als Mahmud Abbas Premier war. Aber ich sehe auch eine ungeheure Wandlung in der Politik und Haltung Ariel Scharons. Er handelt kühler, nüchterner und verantwortungsvoller. Der Schlüssel für eine Lösung dieses Konflikts liegt nach wie vor in den Händen Israels als Besatzungsmacht. Natürlich müssen auch die Palästinenser ihre Hausaufgaben erledigen. Kann Mahmud Abbas die Extremisten in seine Regierung integrieren? Ich meine damit nicht die islamischen Fundamentalisten der Hamas, sondern die jungen Führer der Al-Aksa- Brigaden und anderer Milizen säkularer palästinensischer Organisationen. Sie müssen aufhören, Israel vom Gaza-Streifen aus mit Raketen zu beschießen. Wichtig ist auch, dass Abbas diesen Männern weiter gehende und für die Wiederaufnahme von Verhandlungen oder gar ein Endstatus-Abkommen notwendige Kompromisse abringen kann. Ein erster Test für Abbas und die palästinensische Seite wird unser Rückzug aus Gaza werden: Für Israel ist es ungemein wichtig, dass nach dem Rückzug kein Chaos herrscht und ein Mindestmaß an öffentlicher Ordnung erhalten bleibt. Es wäre für uns inakzeptabel, wenn radikale Gruppen und Milizen dort faktisch die Macht übernähmen.

IP: Die Palästinenser wünschen sich einen gemeinsam abgesprochenen Rückzug. Soll die israelische Regierung da-rauf eingehen?

Grossmann: Ariel Scharon sollte den Rückzug aus Gaza so eng wie möglich mit den Palästinensern koordinieren, denn sie müssen ein Gefühl der Verantwortung entwickeln, das sie nicht haben können, wenn wir sie zu Erfüllungsgehilfen degradieren. Scharon muss und wird mit Mahmud Abbas sicherlich wesentlich besser zusammenarbeiten als jemals mit Jassir Arafat. Aber auch die palästinensische Bevölkerung muss den Stimmungswechsel zu spüren bekommen. Wir sollten ihr tägliches Leben erleichtern, indem wir eine ganze Reihe von Checkpoints auflösen und die Abfertigung an Kontrollpunkten, die noch immer notwendig sind, wesentlich erleichtern und beschleunigen. Wir sollten Gefangene entlassen, und der Grenzzaun sollte möglichst eng an den Grenzen von 1967 verlaufen. Ob Ariel Scharon all diese Maßnahmen durchsetzen wird, weiß ich nicht, ich gehöre ja nicht zu seinen engsten Beratern. Aber ich verfolge seine Politik in den letzten Wochen und Monaten sehr genau und komme zu dem Schluss, dass er sich wesentlich kompromissbereiter verhalten könnte als je zuvor.

IP: Wo sehen Sie die Hauptgefahren in diesem Prozess?

Grossmann: Wenn wir die Abriegelung der West Bank und Gazas lockern und möglichst viele Kontrollpunkte auflösen, können Extremisten sich auch wieder besser nach Israel einschleichen, um dort Attentate auszuüben. Das Dilemma hier ist ja immer, dass Entgegenkommen ausgenützt werden kann. Trotzdem sollten wir den Terror nicht als Entschuldigung nutzen, um die Verhandlungen wieder einmal zu stoppen. Beide Seiten müssen eine äußerst prekäre Balance halten, nämlich eine friedliche Lösung vorantreiben, die eigene Gesellschaft und die andere Seite dabei beständig bei der Stange halten und gleichzeitig den Terror bekämpfen. Es ist für jeden israelischen Premier ungeheuer schwierig, weiter mit den Palästinensern zu kooperieren – oder sogar im Amt zu bleiben – wenn sich Attentäter in unseren Städten in die Luft sprengen und hunderte unschuldiger Menschen töten. Trotzdem gilt noch immer: Verhandlungen sind das einzige Mittel, den Terror langfristig zu beenden und wir werden alles tun müssen, um in beiden Gesellschaften eine Mehrheit zu gewinnen, die sich zuverlässig für den Friedensprozess stark macht.

IP: Sollte Israel endlich den Bau von weiteren Siedlungen stoppen?

Grossmann: Bis jetzt haben die Amerikaner keinen Druck auf Ariel Scharon ausgeübt, wenigstens die illegal errichteten Außenposten der Siedler in der West Bank zu räumen. Sie verstehen, dass er sich jetzt vor allem auf den Rückzug aus dem Gaza-Streifen konzentrieren muss. Aber in den letzten Wochen bemerke ich eine wichtige Veränderung. Jahrzehntelang ließ sich die Armee zum Handlanger der Siedler degradieren. In der Politik wedelte ebenfalls der Schwanz mit dem Hund. Die Siedler waren gewöhnt, auf allen Korridoren der Macht zu Hause zu sein, sämtliche Premierminister unter Druck zu setzen und der Mehrheit der Israelis ihren Willen aufzuzwingen. Sie diktierten eine nationale Agenda, die nicht unsere war. Jetzt begreifen Scharon und die Armeeführung langsam, dass es höchste Zeit ist, den Siedlern zu zeigen, wer hier eigentlich das Sagen haben sollte, und wer die rechtmäßigen Vertreter der staatlichen Souveränität sind. Scharon, der ja zu den Geburtshelfern der Siedlungsbewegung gehört, versteht, dass er die von ihm gezüchtete Gefahr auch wieder unter Kontrolle bringen muss.

IP: Wie erklären Sie sich Scharons Wandlung vom Übervater der nationalreligiösen Bewegung zum ersten Premier, der sich mit den Siedlern anlegen würde?

Grossmann: Das Schlüsselwort ist „Premier“. Als Staatschef besitzt man eine etwas weitere Perspektive. Vermutlich hat Scharon verstanden, dass das Interesse der Siedler den Interessen Israels zuwider läuft. In den letzten Monaten gab es ungeheuer viele Beispiele, die zeigten, dass die Siedler sich ihrer göttlichen Ordnung verpflichtet sehen und nicht der weltlich- demokratischen unseres Staates. Wieder und wieder sahen die Israelis fürchterliche und empörende Szenen im Fernsehen, die nicht deutlicher zeigen könnten, wie sehr die Siedler den Aufruhr gegen die Institutionen unseres Staates und unserer Gesellschaft riskieren, wenn nicht sogar bewusst suchen. Siedler attackierten Soldaten. Eine Siedlerfrau schlug einem hochrangigen Offizier ins Gesicht. Natürlich kann er als Offizier nicht zurückschlagen oder sich sonst gegen diese Frau wehren. Sie schlug ihn so lange, bis er stolperte und hinfiel. Ich kann wirklich nur hoffen, dass es noch nicht zu spät ist, um ihnen endlich Einhalt zu gebieten. Denn ich fürchte, dass der Versuch, die staatliche Autorität möglichst effektiv zu untergraben, sich auch auf andere Gruppierungen in unserer Gesellschaft auswirken wird.

IP: Welche Gruppierungen?

Grossmann: All diejenigen, die in unserer Gesellschaft wenig integriert sind wie die Ultra-Orthodoxen, einige Segmente der arabisch-israelischen Gemeinschaft, einige der Ärmeren, die sich von unserer Gesellschaft und unserer Regierung im Stich gelassen fühlen. Sie alle könnten sich von der Siedlerbewegung Solidarität oder wenigstens Sympathie erhoffen. Anarchie kann eine große Attraktivität ausüben. Es steckt etwas Verführerisches in dem Chaos, das die Siedler zu provozieren versuchen. Vor allem für Gruppierungen, die sich allein gelassen fühlen.

IP: Bislang sprach man immer von einer Spaltung der israelischen Gesellschaft in rechts und links, Friedensbefürworter und Friedensgegner. Verläuft die Trennungslinie eher zwischen Bürgern eines weltlichen Staates und jenen, die Israel um ihrer eigenen heilsgeschichtlichen Agenda willen unterminieren wollen und andere mit sich ziehen könnten?

Grossmann: Genau. Die Siedler wissen, dass der Kampf um Gaza eigentlich verloren ist. Wir werden uns aus diesem Gebiet zurückziehen und die Siedlungen dort räumen. Der harte Kern der Bewegung – ich schätze ihn auf etwa tausend bis zehntausend Leute – wird alles versuchen, um die Räumung der Siedlungen zu einem nationalen Trauma für die Israelis werden zu lassen. Sie hoffen, dass es dann noch einmal zehn Jahre dauert, bis ein israelischer Premier es wagen kann, weitere Siedlungen zu räumen. Vergessen Sie auch nicht, dass Gaza in unserer Geschichte keine allzu große Bedeutung hatte. Die West Bank aber, „Judäa und Samaria“ sind das Kernland des Judentums, was die nationalreligiösen Siedler nicht müde werden zu betonen. Die Zeit spielt für die Siedler, deren Anzahl sich seit den Anfangsjahren des Friedensprozesses verdoppelt hat. Auch die Gewalt, die sich seit dem Ausbruch dieser Intifada ja auch explizit gegen Siedler richtete, schreckte viele nicht ab, in diese Gebiete zu ziehen. Heute leben dort 250.000 Menschen. In zehn Jahren könnten es eine halbe Million sein.

IP: Siedler brauchen Baugenehmigungen, militärischen Schutz, Subventionen. Warum bekamen sie all das von israelischen Regierungen, wenn sie doch gleichzeitig dem Interesse Israels schaden?

Grossmann: Es stimmt, dass die meisten israelischen Regierungen einen Friedensprozess wollten und gleichzeitig den Siedlungsbau in zuvor ungeahntem Ausmaß fortsetzten. Das reflektiert die innere Ambivalenz der Israelis. Wir wollen zwar Frieden, aber wir trauen der Sache nicht. Wir haben seit über fünfzig Jahren einen Staat, benehmen uns aber oft genug noch immer wie eine Minderheit, die ohne den Schutz eines eigenen Staatswesens auskommen muss. Die palästinensische Gesellschaft ist wiederum geprägt von Furcht, Gewalt und einem Todeskult, der offensichtlich tief verankert ist. Beide Seiten müssen sich völlig aus ihrer mentalen Struktur, ihrer Geschichte, ihrer politischen Kultur lösen, um neue Wege zu finden. Sind wir dazu fähig? Ich bin nicht so sicher. Deshalb bin ich trotz der jüngsten Entwicklungen auch nicht übermäßig optimistisch. Solche ungeheuren Veränderungen unserer Mentalität zu erwirken, erfordert eine fast übermenschliche Anstrengung. Trotzdem gibt es eine kleine Chance: Wir haben uns beide erschöpft. Die politische Führung beider Seiten weiß, dass es so nicht weiter geht.

IP: Bislang hatte sich die israelische Armee nur auf Auseinandersetzungen mit der Linken einzulassen, mit Piloten etwa, die sich weigerten, Kampfeinsätze zu fliegen. Diese Gruppe konnte leicht als „unpatriotisch“ abgestempelt werden. Was gibt Ihnen die Sicherheit, dass die Armee eine ähnliche Konfrontation mit der Rechten aushält, die sich ja als die einzig wahren Patrioten darstellen?

Grossmann: Man hat schon damit begonnen, sich einer ähnlichen Verfahrensweise zu bedienen: Verweigerer hatten sich vor einem Gericht zu verantworten. Das werden auch jene Soldaten tun müssen, die aus den Reihen der Siedler stammen und sich jetzt weigern, den Befehlen zur Räumung von Siedlungen Folge zu leisten. Damit soll klar werden, dass politische Auseinandersetzungen innerhalb der Armee nichts zu suchen haben. Befehlsverweigerung bleibt Befehlsverweigerung.

IP: Und Sie sind sich sicher, dass Ex-General Ariel Scharon diese Auseinandersetzung riskieren wird?

Grossmann: Ja. Das ist das Interessante an der Entwicklung Scharons. Der Likud kannte immer eine ideologische und eine pragmatische Seite. Ginge es nach der Ideologie des Likud oder dessen Vorläuferpartei „Cherut“ könnte das Land Israel gar nicht groß genug sein. In der „Cherut-Hymne“ fantasierte man sogar davon, dass uns nicht nur das westliche, sondern auch das östliche Jordan-Ufer zustünde. Aber man wusste auch: Wir wollen einen jüdischen, demokratischen Staat. Mit einer großen palästinensischen Mehrheit ist aber kein jüdischer Staat mehr möglich. Schließen wir sie von jeglicher politischer Teilnahme aus, ist es mit unserer Demokratie vorbei. Scharon hat eine klare Wahl getroffen. Für ihn ist die Existenz eines kleinen jüdischen und demokratischen Staates Israel wichtiger als alle Träume von einem biblischen Land Israel. Ich bin sehr angenehm von seiner Wandlung überrascht – bis jetzt macht er jedenfalls alles ganz richtig. Natürlich würde ich lieber gestern als morgen aus Gaza abziehen, natürlich wünsche ich mir beim Abzug eine enge Kooperation mit den Palästinensern. Doch Scharon tut, was der politische Spielraum zulässt. Mit Jassir Arafat auf der anderen Seite war es ihm unmöglich, die Dinge schneller voranzutreiben. Jetzt haben wir einen palästinensischen Partner und eine Mehrheit in Israel, die den Rückzug will. Jetzt wird der Abzug vermutlich auch schneller vonstatten gehen als geplant. Vorgesehen ist der Juli 2005 – aber ein halbes Jahr ist viel zu lang. Dafür gibt es zu viele Elemente auch auf unserer Seite, die sich alle Mühe geben werden, den Abzug zu torpedieren. Das sahen wir bei der Ermordung Rabins – er war zögerlich, er nahm die Extremisten nicht ernst und erlaubte ihnen damit, unsere Geschichte zu kidnappen. Scharon hat aus der Geschichte gelernt. Er ist ein sehr guter Stratege. Ich glaube, dass er sehr schnell und entschlossen handeln wird.

IP: Erwarten Sie jetzt ein größeres Engagement der Bush-Regierung?

Grossmann: Bis jetzt verstehe ich nicht wirklich, was die Amerikaner vorhaben. Zu sehen ist nur, dass sie Scharon auf ganzer Linie unterstützen. Ich wünschte mir, dass sie größeren Druck auf Scharon ausüben, ihm klarere Grenzen aufzeigen würden. Dass sie natürlich die Sicherheit unseres Staates in dieser verrückten Region garantieren, aber uns auch entschlossen in die Richtung einer fairen Lösung drängen. Wann immer ein israelischer Premier von einem Besuch im Weißen Haus zurückkehrte, erklärte er stolz, dass Israel in Washington einen großartigen Freund hätte. Ich wünschte mir, unsere Freunde dort wären manchmal etwas weniger großartig. Loyal zwar, aber entschlossen, uns immer wieder zu erinnern, dass das Ende der Besatzung und eine klare, international anerkannte Grenze mit einem palästinensischen Staat ganz in unserem eigenen Interesse liegen. Und ich spreche natürlich nicht von dem Sicherheitszaun, der den Palästinensern jetzt von uns aufgedrängt wird. Wir – Israelis und vielleicht noch mehr die Palästinenser – brauchen diese Grenze, damit wir uns endlich um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern können und uns nicht mehr nur über unsere Feindschaft mit dem anderen definieren. Seit Generationen fehlt uns diese Möglichkeit. In seiner zweiten Amtszeit hätte Präsident Bush die einmalige historische Chance, uns, Palästinensern wie Israelis, auf die Sprünge zu helfen.

IP: Druck scheint die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice aber offensichtlich nicht auf Israelis oder Palästinenser,sondern auf den Iran ausüben zu wollen, wie ihre ersten Äußerungen im Amt zeigen.

Grossmann: Man darf nicht vergessen, dass der Iran das einzige Land dieser Region ist, das Israel offen mit Vernichtung bedroht. Selbst wenn wir die Traumata der jüdischen Geschichte außer Acht ließen, müssten wir den Versuch des Iran, sich in den Besitz von Nuklearwaffen zu bringen, für außerordentlich beunruhigend halten. Als Israeli weiß ich aber nur zu genau, dass uns gewaltsame Lösungen keinen Schritt weiter bringen. Allerdings muss man – was die Europäer leider manchmal vergessen – gelegentlich mit Gewalt drohen, wenn man etwas erreichen will. Doch man sollte Gewalt wirklich nur als allerletztes Mittel einsetzen. Außerdem würde ein Krieg mit dem Iran wohl in erster Linie Israel in Gefahr bringen.

IP: Wie können die Europäer sich am Friedensprozess beteiligen?

Grossmann: Wir können uns nicht allein auf die USA verlassen. Jede nüchterne Staatsführung sollte über Alliierte und gute Freunde in verschiedenen Teilen der Welt verfügen. Wir haben eine große Affinität zu Europa, kulturelle und historische Verbindungen – nicht zuletzt verknüpft uns der Holocaust mit einem starken Band. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass Deutschland eine äußerst konstruktive Rolle spielen könnte, um Israel zu den notwendigen Kompromissen zu bewegen. Ich weiß, dass sich deutsche Regierungen wegen der Vergangenheit eher vorsichtig verhalten. Sie haben das Gefühl, dass sie nichts tun könnten, was Israel in Gefahr bringt. Aber das, was oberflächlich betrachtet aussieht wie eine Gefahr für Israel, nämlich der Rückzug aus den besetzten Gebieten, ist in unserem ureigensten Interesse. Es wäre die hilfreiche Tat eines Freundes, uns dazu zu bringen.

IP: Momentan misstrauen viele Israelis den Europäern eher. Man hält sie für propalästinensisch und obendrein zunehmend antisemitisch.

Grossmann: Antisemitismus ist unglücklicherweise in der christlichen, der säkularen westlichen und der islamischen Kultur tief verwurzelt. Oft braucht dieser Antisemitismus nur einen Auslöser wie den Beginn der Intifada und Israels Politik in den besetzten Gebieten, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ja, Israel wird allzu oft nach härteren Kriterien beurteilt als andere Länder. Juden oder Israelis dienen oft als eine Art Metapher. Man betrachtet sie nicht als Volk oder als Individuen – mit allen Vorzügen und Fehlern – sondern dämonisiert oder idealisiert sie. Beides sind nur unterschiedliche Formen des gleichen Phänomens – nämlich einer Entmenschlichung. Es gibt immer wieder starke Kräfte, die diesen Antisemitismus kontrollieren können – nur im Augenblick sind sie leider nicht besonders ausgeprägt. Ich kann nur hoffen, dass Israels Kritiker immer wieder darauf achten, wo die Grenzen legitimer Kritik überschritten werden. Um sich das Vertrauen beider Konfliktpartner zu erringen, bräuchte Israel ein paar positive Gesten der Europäer. Deutschland, mit dem uns die Geschichte verknüpft, und Frankreich und Belgien, die hier als besonders antisemitisch gelten, müssten uns zeigen, dass sie sich um unsere Sicherheit bemühen. Damit wäre uns schon sehr gedient. Natürlich können die Europäer dazu beitragen, uns und den Palästinensern so etwas wie ein normales Leben zu verschaffen. Damit wir endlich nicht mehr täglichen Stoff für die Nachrichten abgeben müssen, sondern uns mit unserem kleinen, bescheidenen Leben beschäftigen können. Das würde vermutlich auch helfen, den Virus des Antisemitismus zu bekämpfen.

Das Gespräch führte Sylke Tempel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 70 - 75.

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