„In Sachen Ukraine gibt es in der EU zu viele Fehleinschätzungen“
Interview mit Gernot Erler
Der Streit über die außenpolitische Orientierung der Ukraine treibt nicht nur die Menschen in Kiew auf die Straße, sondern hat auch zu Spannungen zwischen der Europäischen Union und Russland geführt. Deutschland und die EU sollten sich nicht zu eindeutig auf die Seite der ukrainischen Opposition schlagen, warnt der neue Russland-Koordinator der Bundesregierung Gernot Erler im Interview mit der INTERNATIONALEN POLITIK.
IP: Herr Erler, die Ukraine beherrscht die Schlagzeilen. Aus Protest gegen Russlands Politik hat Bundespräsident Gauck gerade angekündigt, dass er nicht zu den Olympischen Winterspielen in Russland fahren wird. Sie sind als Kenner und Freund Russlands bekannt ...
Gernot Erler: ... das klingt ja schon fast wie eine Anklage.
IP: Nein, das soll es nicht. Aber wir möchten Sie darum bitten, uns Russland zu erklären. Haben Deutschland und Europa die richtige Richtung eingeschlagen?
Erler: Die Kontinuität in der Russland-Politik ist viel größer als dies in der Öffentlichkeit manchmal wahrgenommen wird, auf EU-Ebene genauso wie in Deutschland. Seit vielen Jahren betreiben alle Bundesregierungen im Grunde die gleiche Russland-Politik. Diese Politik wird von drei Aspekten geprägt. Der erste ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit: Alle Regierungen, gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft, waren bisher immer daran interessiert, diese auszubauen. Der zweite Faktor ist die Erkenntnis, dass man Russland für bestimmte internationale Aufgaben braucht. Da geht es zum Beispiel um Transitrechte für die Bundeswehr. Ein Großteil der Ausrüstung soll auf dem Landweg aus Afghanistan abtransportiert werden. Und auch im Umgang mit internationalen Konflikten hat Russland zuletzt eine sehr konstruktive Rolle gespielt.
IP: Erklären Sie uns das, bitte.
Erler: Russland hat in der Syrien-Politik einen Schwenk in eine konstruktive Rolle vollzogen und damit erheblich dazu beigetragen, dass im Januar in Genf eine Friedenskonferenz für Syrien stattfinden kann. Auch Syriens Chemiewaffen-Verzicht wäre ohne Russlands Mitwirkung nicht denkbar gewesen. In Bezug auf Iran hat Russland ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Außerdem gilt, dass globale Herausforderungen wie der Klimawandel, die Energiesicherheit, Wasserressourcen oder Ernährungssicherheit nur gemeinsam mit Ländern wie Russland oder China bewältigt werden können. Das ist der dritte Pfeiler der Kontinuität. Deswegen haben Deutschland und die EU eine strategische Partnerschaft mit Russland.
IP: Aber die russische Innenpolitik wird immer fragwürdiger.
Erler: Hier gibt es vieles zu kritisieren. Dazu gehört die Einschränkung von Bürgerrechten, die Diskriminierung der Minderheiten und der Versuch, die Teile der Opposition zu kriminalisieren. Dies trübt das Bild von Russland in der Öffentlichkeit. Wir brauchen darüber weiterhin einen kritischen Dialog mit der russischen Regierung. Nur ändert das alles nicht viel an den von mir genannten Realitäten von Politik. Wir brauchen Russland als konstruktiven Partner in der internationalen Politik und deshalb bleiben die Hauptlinien der deutschen und europäischen Politik unverändert.
IP: Was ist mit dem Konflikt um die Ukraine?
Erler: In der Ukraine ist die Situation ziemlich festgefahren. Vielleicht hat die EU dort die Probleme auch nicht rechtzeitig erkannt.
IP: Wie meinen Sie das?
Erler: Der Ausgangspunkt ist das Programm der Östlichen Partnerschaft von 2009. Hauptinitiator war damals Polen, mit starker Unterstützung von Schweden. Polens Ziel war es, die EU für eine Beitrittsperspektive für die Ukraine zu öffnen. Aus Sicht Warschaus war das verständlich. Aber die anderen EU-Staaten haben nicht mitgemacht und eine Beitrittsperspektive für die Ukraine abgelehnt.
IP: Stattdessen bot man Kiew ein Assoziierungsabkommen an.
Erler: Man darf nicht vergessen, was das eigentliche Ziel bei allen EU-Nachbarschaftspolitiken ist: Die EU will aus ihrer eigenen Erfahrung heraus die grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern. Bei der Östlichen Partnerschaft ging es darum, durch regionale Zusammenarbeit zu Fortschritten bei den gefährlichen eingefrorenen Konflikten in Transnistrien, Südossetien, Abchasien und Berg-Karabach zu kommen. Aber das hat nicht funktioniert. Keiner dieser Konflikte ist gelöst worden. Stattdessen hat man dann sehr intensiv an den Assoziierungsabkommen gearbeitet. Man hat versucht, die Ukrainer für die mangelnde Beitrittsperspektive zu entschädigen, indem man ihnen ein umfassendes Freihandelsabkommen anbot. Das war so etwas wie ein Ersatzbonbon. Aber in Russland hat das die Alarmglocken klingeln lassen.
IP: Wie reagierte Moskau?
Erler: 2011 schlug Putin die Eurasische Union, eine Art Zollunion der östlichen Staaten, vor. Das wurde zum Problem. Aus zumeist technischen Gründen geht es nicht, dass die Ukraine sowohl in die Eurasische Union eintritt als auch ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU abschließt. Der Grund ist, dass beispielsweise Kasachstan und Belarus nicht Mitglied der Welthandelsorganisation WTO sind. Dieses Entweder-Oder zwischen Eurasischer Union und EU-Abkommen hat die EU aber nie laut ausgesprochen.
IP: Bis zum EU-Gipfel in Vilnius.
Erler: Ja. Putin hatte bereits im Vorfeld die Daumenschrauben angesetzt, auch bei den Gaspreisen. Auch ukrainische Schokolade, die seit Jahrzehnten exportiert wird, wurde plötzlich für mangelhaft befunden. Allerdings kam auch von Seiten des IWF Sperrfeuer. Plötzlich wurden der Ukraine weitere Auflagen für die Erteilung neuer Kredite erteilt und die EU hatte wiederum ihre Kreditzusagen von einem Abkommen der Ukraine mit dem IWF abhängig gemacht. Insofern stand die Ukraine auf einmal von zwei Seiten unter Beschuss: Aus östlicher und westlicher Richtung.
IP: Und Präsident Janukowitsch hat schließlich darauf verzichtet, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.
Erler: Das stimmt. Aber genauso wenig wird die Ukraine jetzt gleich der Eurasischen Union beitreten – da wären die Nachteile zu groß, die Tür wäre in Richtung EU wäre zugeschlagen. Janukowitsch wird weiter hin- und her schwanken. Und wir müssen dieses Schwanken nutzen, um zu prüfen, ob es Zwischenwege gibt. Ob es Möglichkeiten gibt, der Ukraine erhebliche Handelsvorteile mit der EU einzuräumen, ohne die russischen Interessen definitiv zu verprellen. Das ist ein technischer Prozess, der geklärt werden muss.
IP: In Wahrheit geht es um die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland. Das ist doch keine technische Frage.
Erler: Natürlich nicht ausschließlich. Ein Grundproblem ist die russische Wahrnehmung. Russland empfindet die Annäherung der Ukraine an die EU als „Grenzüberschreitung“. Man darf schließlich nicht die jahrhundertealten Beziehungen, die Russland und die Ukraine miteinander verbinden, ignorieren. Das wird man nicht mit technischen Prozessen lösen können. Aber man muss ja erst einmal aus der augenblicklichen Kalten-Kriegs-Situation herauskommen. Man braucht Schritte zur Entspannung, Schritte, die uns aus diesem Entweder-Oder herausbringen. Die Leute in Kiew glauben, dass sie mit ihren Demonstrationen die Unterschrift unter das EU-Assoziiierungsabkommen doch noch erzwingen können. Für diesen Fall bereitet sich aber Russland darauf vor, erhebliche Maßnahmen zu ergreifen. Wie soll man denn aus dieser Situation herauskommen? Also nicht, indem man Druck macht. Nicht, indem man jeden Tag sagt, die Tür ist offen. Es ist doch klar, dass die Tür offen ist. Lasst uns lieber darüber reden, wie Zollunion und Handelsabkommen zusammenpassen können.
IP: Muss man dazu auch Russland am Tisch haben?
Erler: Das ist die russische Forderung. Die EU hat jahrelang mit der Ukraine verhandelt, man stand kurz vor der Unterschrift. Plötzlich kam Russland und sagte: Lasst uns jetzt mal dreiseitige Gespräche darüber führen. In der unmittelbaren Drucksituation kann die EU dem nicht nachgeben. Auf Dauer allerdings wird man die russische Seite in den Vermittlungsprozess einbeziehen müssen.
IP: Nach Vermittlung sieht es im Moment allerdings nicht aus. Deutschland und die EU haben sich ganz eindeutig auf die Seite der ukrainischen Opposition gestellt.
Erler: Ich halte es für falsch, dass Herr Westerwelle die Demonstranten besucht hat. Wenn man in ein Land fährt, ist es normal, neben Vertretern der Regierung auch mit der Opposition zu sprechen. Aber sich auf die Straße zu stellen, sich in die Demo einzureihen, das ist ungewöhnlich. Abgesehen davon, dass die ukrainische Opposition ein Zusammenschluss von Parteien ist, zu denen mit Swoboda („Freiheit“) auch eine klar nationalistische und rechtsradikale Organisation gehört. Wenn Klitschko mit denen zusammenarbeitet, ist das seine Entscheidung. Herr Westerwelle hätte sich das genauer ansehen müssen.
IP: Die EU-Außenbeauftragte Ashton war auch bei den Demonstranten.
Erler: Ich verstehe eines nicht: Wie kann man sich als Vermittler anbieten, und gleichzeitig eindeutig Position beziehen für eine Seite? Das ist nicht glaubwürdig. In Sachen Ukraine gibt es in der EU zu viele Fehleinschätzungen. Die EU hat auch gedacht, sie kann für die Unterzeichnung des Assoziiierungsabkommen noch eine Vorbedingung stellen, nämlich dass Julia Timoschenko freigelassen wird. Aber wenn die Ukraine unter anderem aufgrund des russischen Drucks gar keine Unterschrift leisten wollte, konnte man auch keine Bedingung daran knüpfen.
IP: Timoschenko wird in Haft bleiben?
Erler: Davon gehe ich aus, jedenfalls, solange die jetzige Regierung im Amt ist.
IP: Wenn man die ungeheuren Erwartungen der Ukrainer an Europa sieht: Wird die EU weiterhin Nein sagen können zum ukrainischen Beitrittswunsch?
Erler: Sie wird es tun. Denn es gibt gegenwärtig null Zustimmung in Europa für neue Versprechungen an andere Länder. Es wäre unrealistisch, etwas anderes zu erwarten. Und es würde die russische Seite auch noch mehr provozieren, wenn die EU jetzt nicht nur Assoziiierung und Freihandel, sondern gleich den EU-Beitritt anbieten würde. Die politische Klasse in Russland würde dies als absolute Provokation sehen und alles unternehmen, um diesen Schritt zu verhindern.
Das Gespräch führten Rachel Tausendfreund und Bettina Vestring.
Gernot Erler ist Russland-Koordinator der Bundesregierung.
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