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01. März 2004

Russlands Interessen

Pragmatismus und Suche nach Balancen

Der Experte für europäische Sicherheitspolitik analysiert die geopolitische Lage aus Moskauer
Sicht und erläutert, welche Prioritäten Putin in seiner „pragmatischen“ Außenpolitik setzt.

In der Zeit der Präsidentschaft Wladimir Putins hat die Außenpolitik Russlands ein exakteres Koordinatensystem erhalten, sie ist konsequenter und vorhersehbarer geworden.

Putin hat die Hinwendung Russlands nach Europa bekräftigt, Kurs auf eine Annäherung mit dem Westen aufgenommen, die Beziehungen mit der NATO aufgetaut und den amorphen Kurs der GUS-Integration durch die Festigung konkreter Bezehungen mit den Staaten der Gemeinschaft ersetzt.

In der Außenpolitik hat er „pragmatisches Herangehen“ verkündet, was jedoch neue Fragen aufwarf. Pragmatismus konnte alles sein, zum Beispiel der Versuch, in den Beziehungen mit dem Westen verstärkten, auch militärischen Druck auszuüben; oder eine „pragmatische“ Suche nach neuen strategischen Partnern als Alternative zur Zusammenarbeit mit dem Westen. All dies war mehr als denkbar, wenn man sich daran erinnert, in welcher Krise die russisch-westlichen Beziehungen nach der NATO-Operation in Kosovo, der Jubiläumserweiterung der Allianz und des von Putin eingeleiteten zweiten Tschetschenien-Unternehmens gesteckt hatten. Von Bedeutung war auch, dass der Präsident selbst aus Militärstrukturen hervorgegangen war, die auf „Neutralisierung“ und „Entgegenwirkung“ orientiert und durch die Schwächung Russlands unter Boris Jelzin sowie die Haltung des Westens zu Russland tief verunsichert waren.

Heute kann man sagen, dass der Pragmatismus Putins eine Umkehr bedeutet hat. Der neue Präsident, der keine Möglichkeit hatte, das JelzinscheErbe zu ignorieren, hat für Effizienz in der Außenpolitik gesorgt und eine klare Strategie entwickelt. Vor allem hat er die Beziehungen zum Westen entideologisiert. Die viel zitierte Antwort Putins: „Warum denn nicht?“ auf die Frage, ob Russland der NATO beitreten könne, war viel gewichtiger als die politische Rhetorik der Anti-NATO-Gruppe, zu der die meisten Abgeordneten der Staatsduma gehörten.

Pragmatismus bedeutet auch eine neue Auffassung von den Zielen der Außenpolitik. Das Wichtigste war nicht, etwas hinnehmen zu können, sondern die Fähigkeit, günstige äußere Bedingungen für die innere Stabilisierung und Entwicklung des Landes zu sichern. Dieses politische Ziel präsentierte Putin als Entgegnung auf den Vorwurf der einseitigen Zugeständnisse an den Westen nach dem 11. September 2001. Die Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen über Fragen der Sicherheitspolitik, die für Russland von zentraler Bedeutung sind, hörten auf, ein bestimmender Faktor der gegenseitigen Beziehungen zu sein. Der russische Präsident rief dazu auf, die Aufkündigung des ABM-Vertrags seitens der USA nicht zu dramatisieren und die alten Diskussionen zu beenden, um das bilaterale Verhältnis z.B. durch die NATO-Erweiterung nicht weiter zu belasten.

Die „destruktive Logik“ der russisch-westlichen Beziehungen wurde durch eine viel lukrativere Politik der Partnerschaft abgelöst. So meinte Verteidigungsminister Sergej Iwanow, dass die Deutschland-Reise des Emissärs der tschetschenischen Separatisten Achmed Sakajew die Beziehungen Russlands mit der Bundesrepublik nicht beeinflussen werde: „Die Reaktion, mit der die Organisatoren dieser Reise gerechnet haben, wird es nicht geben.“ Dieselbe Aussage, wenn auch zu einem anderen Thema, machte Außenminister Igor Iwanow: „Jene, die Komplikationen zwischen Russland und den USA wegen der Lage in Georgien erwarten, irren sich. Sie können ihnen sagen, dass sie damit nicht zu rechnen brauchen.“

Dieser Pragmatismus bedeutet aber nicht, dass Russland bereit wäre, jeden Preis für die westliche Loyalität und Partnerschaft zu bezahlen. Putin selbst formulierte das ziemlich deutlich: „Eine Abstimmung der Positionen und Kompromisslösungen ist möglich, aber nicht zu Lasten der Interessen unseres Landes und der Rechte unserer Bürger.“ Russland hat bereits seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, notfalls recht unnachgiebig und hart zu sein – zum Beispiel bei der Durchsetzung seiner Interessen beim Kaliningrader Transit oder bei der Zurückweisung der EU-Forderung an Russland, die Inlandspreise für Energieträger als Vorbedingung für den WTO-Beitritt heraufzusetzen. Aber diese Härte, die wohl ein Problem für die westlichen Partner Russlands ist, sprengt nicht den Rahmen der konstruktiven Zusammenarbeit.

Partnerschaft mit dem Westen

Russland geht unter Putin konsequent den Weg der Entwicklung einer Partnerschaft mit dem Westen. Dieser Kurs spiegelt nicht nur den politischen Willen wider, sondern auch die Lösung der historischen Aufgabe der Integration Russlands in die entwickelte demokratische Gemeinschaft. Aber die Aussichten für die künftigen langfristigen Beziehungen Russlands zum Westen sind noch nicht stabil, mehr noch: Sie sind unter den Bedingungen der wachsenden Instabilität der internationalen Beziehungen, der tief greifenden Transformation ihrer Strukturen, insbesondere im Kontext der sich verschärfenden globalen Herausforderungen der Sicherheit, äußerst kompliziert.

Die strategischen Orientierungspunkte der russischen Außenpolitik sind die Europäische Union und der GUS-Raum. Bisher ermöglichte es der Pragmatismus des russischen Präsidenten, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung erfolgreich zu agieren. Aber das Problem der Vereinbarkeit beider Optionen der Integrationsstrategie Russlands wird immer akuter. Es ist offensichtlich, dass eine beschleunigte Integration Russlands in Europa das Potenzial der Zusammenarbeit in der GUS wesentlich beschränken würde – und umgekehrt. Die Vertiefung der Beziehungen mit den Partnern in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, von denen viele von den europäischen Standards recht weit entfernt sind, engt die Möglichkeiten zur Schaffung gemeinsamer Aktionsfelder durch Russland und die EU ein, die auf dem Gipfel in Sankt Petersburg im Mai 2003 als langfristige Ziele der Zusammenarbeit benannt worden sind.

Doch schon heute kollidieren die Interessen Russlands und des Westens im GUS-Raum. Russland ist über die Ausweitung der amerikanischen Präsenz in Mittelasien und im Kaukasus beunruhigt, obwohl das bislang nicht laut gesagt wird. General Leonid Iwaschow, der unlängst noch im Verteidigungsministerium für die internationale militärische Zusammenarbeit zuständig war, sagt aufrichtig: „Gegenüber Russland wird (von den USA, Anm. des Verf.) eine Strategie der Herabsetzung seiner Rolle in den internationalen Beziehungen, des Verdrängens aus dem postsowjetischen Raum und der Umgebung mit Militärstützpunkten zur Verringerung seiner Möglichkeiten zum geopolitischen Manöver durchgeführt.“ Die Differenzen zwischen der EU und Russland um Moldau zeugen von wachsenden bilateralen Spannungen im postsowjetischen Raum; ganz abgesehen davon, dass diese Region in Zukunft zu einer neuen NATO-Erweiterungsrunde gehören kann. Im Westen wird die These über eine neoimperiale Politik Moskaus im postsowjetischen Raum und über das Streben Putins nach dem „Anschluss benachbarter Territorien“ immer lauter. Diese These wurde vom amerikanischen Senator John McCain auf der 40. Sicherheitskonferenz in München Anfang Februar 2004 vertreten. Und ein Artikel in der New York Times rief dazu auf, die ursprüngliche NATO-Aufgabe nicht zu vergessen: die Zügelung des russischen Bären.

Europa oder USA?

Die Ausrichtung Russlands auf Europa, die, wie es schien, in seiner außenpolitischen Strategie verankert ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung als nicht ganz eindeutig. In gesellschaftspolitischen Debatten gibt es deutliche Stimmen, die fordern, bei der Zusammenarbeit mit dem Westen den Schwerpunkt von Europa auf die USA zu verlagern.

Die Argumente laufen im Großen und Ganzen auf die Feststellung der unzureichenden Fähigkeit und Bereitschaft der EU hinaus, die Modernisierungsenergie Russlands zu unterstützen. Im Bereich der internationalen Politik wird der Kurs auf eine strategische Partnerschaft und sogar ein Bündnis mit dem starken Amerika als ein aussichtsreicherer Weg betrachtet als die politische Partnerschaft mit dem schwachen Europa. Natürlich neigen die USA (noch) nicht zu einer strategischen Partnerschaft mit Russland; aber für die ferne Zukunft kann das nicht ganz ausgeschlossen werden. Schon heute wird die Kritik an der Regierung von George W. Bush, sie ignoriere das „nichtdemokratische Verhalten“ Russlands, vom Aufruf begleitet, die Beziehungen nicht abzubauen, sondern im Gegenteil die demokratischen Prozesse verstärkt zu unterstützen. Das Zusammenwirken mit Russland kann für die USA zu einer Antwort auf die neuen Herausforderungen der Sicherheit und zu einem Mittel für die Sicherung der strategischen Stabilität werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist getan: In diesem Jahr sind im Nordatlantik auf amerikanische Initiative hin umfangreiche gemeinsame Übungen der Kriegsflotte und der Luftstreitkräfte beider Länder geplant.

In Europa wurden schon Befürchtungen geäußert, dass die Annäherung zwischen Russland und den USA zu einem Bedeutungsverlust der europäischen Partner in der Politik Moskaus führen könne. Aber Wladimir Putin hat wiederholtden Wunsch nach strategischer Partnerschaft mit der EU bekräftigt. Der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, unterstreicht seinerseits, dass „es unmöglich ist, die Bedeutung Russlands für die Europäische Union zu überschätzen“. Gleichzeitig aber bleibt der Inhalt der künftigen Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU recht unbestimmt.

Das Ziel der Schaffung gemeinsamer Politikbereiche wird von den Partnern unterschiedlich verstanden: Für die EU ist es ein Prozess der Annahme ihrer Standards und Normen durch Russland, d.h. die Integration Russlands in Europa. Für Russland ist es eher eine Integration Russlands mit Europa, d.h. eine gegenseitige Annäherung, selbst wenn Russland dabei den längeren Weg in Richtung EU wird zurücklegen müssen. Nach Ansicht vieler Russen zeigt die Europäische Union keine Bereitschaft, sich gemeinsam mit Russland auf Kompromisslösungen hinzubewegen; die Position der EU zum WTO-Beitritt Russlands beweise dies. Ohne Zweifel sind die inneren Reformen in Russland eine unerlässliche Bedingung für seine strategische Partnerschaft mit der EU; aber die ökonomische Liberalisierung muss einhergehen mit einem vernünftigen Protektionismus, damit der Wettbewerb am Markt für die russische Wirtschaft nicht zerstörerisch ist.

Man kann Romano Prodi nur beipflichten, wenn er sagt, dass die Umgestaltung des Russland-EU-Rates in den Ständigen Rat für Partnerschaft „zu einem Wendepunkt in den russisch-europäischen Beziehungen werden kann“. Dies wird zur Erweiterung der Möglichkeiten der Zusammenarbeit und zu deren Aktivierung auf allen Ebenen, inklusive der Arbeitsgruppen, beitragen. Aber in prinzipieller Hinsicht geht es nach wie vor um einen Konsultationsmechanismus und nicht um gemeinsame Beschlussfassungen im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. Anders gesagt: Die europäische Priorität in der Politik Russlands bedarf nicht der Bestätigung, sondern der Konkretisierung.

Interessenunterschiede

Die Dichotomie „Zügelung – Zusammenarbeit“ bleibt ungeachtet der merklichen Annäherung zwischen Russland und dem Westen in ihren Beziehungen nicht nur erhalten, sondern ist in überschaubarer Zukunft unvermeidlich. Der Bereich Sicherheit ist für die inhaltliche Gestaltung dieser Beziehungen ausschlaggebend. Aber die Stärkung der Partnerschaft mit dem Westen bei der Lösung von Problemen der internationalen Sicherheit – und die Reduzierung der Reste der gegenseitigen Zügelung auf ein Minimum – werden nicht nur durch die weiterhin bestehenden Interessenunterschiede der Hauptakteure verkompliziert, sondern manchmal sogar unterminiert.

Der erste Bereich der Interessenunterschiede wird durch das Dilemma „unipolare Welt – multipolare Welt“ bestimmt. Die amerikanische Regierung betrachtet die sich zuspitzenden Probleme der internationalen Sicherheit in erster Linie als Gefahr für die nationalen Interessen der USA. Die von George W. Bush verkündete Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 sieht vor, dass die USA, falls notwendig, auch präemptiv gegen Terroristen vorgehen werden. Bei einer solchen Strategie sind die Möglichkeiten für Kompromisse mit anderen Akteuren äußerst beschränkt. Die Versuche, gegen die USA über internationale Institutionen, dabei nicht nur über die UN und ihren Sicherheitsrat, sondern auch über die NATO zu opponieren, scheiterten – mehr noch: Sie hatten einen entgegengesetzten Effekt und festigten die Überzeugung der USA von den Vorzügen der einseitigen Strategie und Interimskoalitionen.

Der nächste Bereich der Unterschiede ist gekennzeichnet durch nicht übereinstimmende Positionen zur Linie „altes Europa – neues Europa“ nach der amerikanischen Terminologie. Das „alte Europa“, das die führende Position der USA nicht in Abrede stellt und vom Paradigma der Multipolarität ausgeht, verteidigt sein Stimmrecht, darunter auch in den Beziehungen mit der einzigen Supermacht, und strebt deshalb danach, die Rolle der internationalen Institutionen zu festigen. Das „neue Europa“ erkennt wie Großbritannien nicht nur die Führungsrolle der Vereinigten Staaten an, sondern hält es für äußerst wichtig, dem Hegemon zu folgen. Nach Meinung der „Neueuropäer“ bedroht die Betonung der Multipolarität die atlantische Einheit.

Dabei wäre es nicht richtig, den USA die Spaltung Europas zur Last zu legen. Eher haben die Vereinigten Staaten die in Europa bestehenden Meinungsverschiedenheiten effektiv genutzt, die den dritten Bereich der Interessenunterschiede bilden – den innerhalb der „alten“ Europäischen Gemeinschaft. Angesichts der fehlenden europäischen Einheit und der wachsenden Skepsis über die Fähigkeit der EU, zu einem selbständigen internationalen Akteur zu werden, zeichnet sich schon längst eine Tendenz zur Renationalisierung der Sicherheitspolitik ab, da alle Mitgliedsländer es zunehmend vorziehen (oder dazu gezwungen sind), außerhalb des formalen Rahmens der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu handeln.

Im Prinzip bedeutet die Aufteilung in „altes“ und „neues“ Europa eine neue Zuspitzung der Konfrontation zwischen den Eurozentristen und den Atlantikern. Aus der Irak-Krise ziehen sie völlig unterschiedliche Lehren: Für die Eurozentristen ist Irak die Bestätigung der Spaltung Europas, die die Notwendigkeit einer Festigung der europäischen Einheit, einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ganz deutlich zeigt. Für die Atlantiker beweisen die europäische Schwäche und die damit kontrastierende amerikanische Macht im Gegenteil die Alternativlosigkeit zur Kooperation mit den USA.

Diese Meinungsverschiedenheiten beeinflussen ambivalent die außenpolitischen Interessen Russlands. Einerseits vermied Russland durch die Vereinigung mit dem „alten Europa“ in Gestalt Frankreichs und Deutschlands die Rückkehr zur Rolle eines Opponenten zum Westen wie zum Beispiel in der Kosovo-Krise. Der russische Kurs der Annäherung an den Westen blieb erhalten. Aber andererseits sind ernsthafte Probleme mit der Durchsetzung dieses Kurses entstanden.

Die Gemeinsamkeit der Position mit Frankreich und Deutschland wurde in den USA nicht als Bewegung in Richtung auf eine neue, blockfreie Sicherheitspolitik, sondern im Gegenteil als Anzeichen der Herausbildung eines gewissen antiamerikanischen politischen Lagers aufgefasst. Russland stieß, wie auch vor dem 11. September, auf die Notwendigkeit, Washington erneut von seiner Bedeutung und Handlungsfähigkeit als Partner zu überzeugen. Dabei geht es nicht nur um die Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen, sondern auch darum, dass ohne dies, wiederum wie vor dem 11. September, die Möglichkeiten der Intensivierung der russisch-europäischen Zusammenarbeit wesentlich eingeschränkt sind. Damit nicht genug. Unter Berücksichtigung der äußerst empfindlichen Auffassung des „antiamerikanischen“ Dreiecks Paris-Berlin-Moskau durch die USA kann man von ihnen zumindest eine zurückhaltende Einstellung im Hinblick auf die politische Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU erwarten.

Balance in der Außenpolitik

All das stellt Russland vor die schwierige Aufgabe, eine ausgeglichene Außenpolitik zu betreiben, die es erstens ermöglicht, eine Suche nach alternativen Partnerschaften und Bündnissen in den Beziehungen mit dem Westen zu vermeiden und zweitens Russland als Akteur in den euroatlantischen politischen Beziehungen anzusehen.

In erster Linie geht es um die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Balance zwischen der amerikanischen und europäischen Ausrichtung in der russischen Außenpolitik. Wie die Situation um Irak gezeigt hat, lag der Fehler nicht darin, dass sich Russland Frankreich und Deutschland annäherte, sondern darin, dass dies nicht auch von Schritten hin zu den USA begleitet wurde – erste Schritte könnten die prinzipielle Einschätzung des Regimes von Saddam Hussein alsverbrecherisch und die Unterstützung für den Wiederaufbau und die Stabilisierung Iraks sein. Es gibt Möglichkeiten für eine Annäherung mit den USA; so verkündete auch Russland, dass es Präventivschläge als äußerste Maßnahme nicht ausschließe. Und die USA empfinden immer deutlicher die Notwendigkeit, um Unterstützung bei der Weltgemeinschaft nachzusuchen.

Die Bedeutung der anderen Balance wird durch die Spaltung innerhalb Europas diktiert. Russland, das nicht weniger als Europa selbst die strategische Partnerschaft mit der EU anstrebt, ist an dessen Einheit und politischer Bedeutung interessiert. Es wäre äußerst kurzsichtig, auf Beziehungen lediglich zu einem der politischen Pole in Europa zu setzen. Dies würde unweigerlich das Potenzial der zwischenstaatlichen Beziehungen Russlands in der europäischen Region einengen, die Flexibilität der Außenpolitik herabsetzen, und es wäre ein ernsthaftes Hindernis für die Zusammenarbeit mit der EU.

Außerdem erhöht sich objektiv die Bedeutung der mitteleuropäischen Region für Russland. Das ist das Wesen der dritten Balance. Vor allem die Ereignisse im Zusammenhang mit Irak (der Brief der Acht vom 30. Januar 2003) zeugen davon, dass die Länder Mitteleuropas zu einem wichtigen Element der internationalen Politik werden. Dieses Gewicht muss auf jeden Fall in der Außenpolitik Russlands berücksichtigt werden. In politischer Hinsicht ist es Moskau nicht gleichgültig, welchen Weg diese Länder nach dem Beitritt zur EU und NATO einschlagen werden.

Die vierte Balance, die den außenpolitischen Interessen Russlands entspricht, liegt in seinen zwischenstaatlichen Beziehungen mit den westlichen Partnern und in der Zusammenarbeit mit den westlichen Institutionen, vor allem der EU und der NATO. Die europäische Geschichte zeigt, wie gefährlich eine Nationalisierung der Sicherheitspolitik ist. Deshalb muss für Russland das Stützen auf die vorrangigen Partner in Europa keine Alternative zur politischen Zusammenarbeit mit der EU sowie der NATO – natürlich unter Berücksichtigung ihrer verhältnismäßig beschränkten Möglichkeiten – werden. Was die EU betrifft, so werden ihre politische Einheit und ihr Potenzial ungeachtet dessen, dass sie heute komplizierte Zeiten durchlebt, zunehmen. Weiterhin darf sich Russland nicht über die Tatsache hinwegsetzen, dass die internationale Sicherheit künftig nicht nur und nicht so sehr durch militärpolitische Herausforderungen bestimmt sein wird. Das eröffnet neue Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU. Somit ist es für Russland wichtig, die Beziehungen mit Westeuropa, der EU insgesamt und mit den USA auszugleichen und die konstruktive Partnerschaft zu beiden weiter zu entwickeln. Diese außenpolitische Maxime wird sein Orientierungspunkt bleiben.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2004, S. 11-17

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