Interview

21. Okt. 2024

„Russland wird morgen noch mehr verlangen“

Europa muss stärker werden, im Rahmen der NATO und der EU – militärisch, aber auch wirtschaftlich. Nur so kann es sich gegen Wladimir Putins aggressives Russland behaupten, sagt Finnlands Außenministerin Elina Valtonen.

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Porträt: Elina Valtonen
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IP: In Deutschland ist erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 den meisten klar geworden, wie sehr man sich in Wladimir Putin getäuscht hat. Finnland war lange neutral und ist erst kürzlich NATO-Mitglied geworden. Sehen Sie Parallelen?
Elina Valtonen: Die finnische Geschichte ist reich an russischen beziehungsweise sowjetischen Aggressionen gegen uns. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir das Glück, unsere Unabhängigkeit zu bewahren. Wir mussten dafür Gebiete abtreten, aber wir konnten uns als demokratische Marktwirtschaft weiterentwickeln. Unseren baltischen Freundinnen und Freunden erging es anders, und das ist wichtig, wenn wir heute über die Zukunft der Ukraine sprechen. Die Menschen in den baltischen Staaten lebten 50 Jahre unter sowjetischer Besatzung, in einem „Frieden“, der sie ihrer persönlichen Freiheiten beraubte und verarmen ließ, während Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende ­verschleppt wurden.

Neutral war Finnland nach dem Verständnis hierzulande schon seit 30 Jahren nicht mehr, als wir der Europäischen Union beitraten. Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon und seinen Beistands- und Solidaritätsklauseln war klar, dass wir einem Mitgliedsland helfen würden, falls es angegriffen würde. Für Finnland war also der EU-Beitritt von Anfang an auch eine sicherheitspolitische Frage und nicht nur eine wirtschaftliche.

In einem wahren Bündnis kann es keine ‚schwachen‘ oder ‚starken Regionen‘ 
geben, wir sind als Gemeinschaft stark“

Und ja, auch in Finnland haben manche an „Wandel durch Handel“ geglaubt. Man hat versucht, wirtschaftliche Verflechtungen aufzu­bauen, und die russische Zivilgesellschaft unterstützt in der Hoffnung, dass Russland auch eine wahre Demokratie werden würde. Trotzdem – und da unterscheidet sich Finnland von Deutschland oder auch Schweden – haben wir die ganze Zeit hindurch auch in unsere eigene Verteidigung investiert, weil wir wussten, dass der Tag kommen könnte, an dem klar wird, dass Russland anders ist und sich nicht entwickelt wie erhofft. Dieser Tag ist dann gekommen.

Finnland hat eine starke Armee, die Verteidigungsbereitschaft ist hoch, die Gesellschaft gilt als sehr resilient. Wenn Sie eine „europäische Karte der Resilienz“ zeichnen müssten, welche Regionen würden Sie als besonders resilient markieren?
Eine sehr gute Frage. In einem wahren Bündnis, im Rahmen der NATO und der EU, kann es natürlich keine „schwachen“ oder „starken Regionen“ geben, denn wir sind alle als Gemeinschaft stark oder nicht. Wir hoffen sehr, dass in der NATO alle Bündnispartner mindestens die zugesagten Verteidigungsausgaben von 2 Prozent des BIP erreichen; das unabhängig davon, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird. Und wir hoffen, dass auch in der EU mit der neuen Kommission besonders stark darauf gesetzt wird, dass wir uns gegen hybride Angriffe Russlands stärker wappnen. Diese fallen weniger in die Zuständigkeit der NATO und haben in den vergangenen Monaten stark zugenommen: Desinformation, Sabotage, Cyberangriffe – gar nicht so sehr gegen Finnland, aber gegen andere Länder. Wir sollten wirklich erkennen: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Und diese Resilienz müssen wir ausbauen, nicht nur in die traditionelle militärische Richtung. 

Oft ist in jüngster Zeit die Rede davon, dass sich das strategische Gewicht innerhalb Europas gen Osten und Norden verschiebt. Prominente außenpolitische Stimmen kommen aus Polen, den baltischen Staaten, aus Schweden und Ihrem Land. Sehen Sie diese Verschiebung auch? Und was bedeutet das länger­fristig für Europa?
Ich sehe keine Verschiebung in dem Sinne, dass sich daraus etwas an den Gleich­gewichten in der Europäischen Union verändern würde. Natürlich ist es, erstens, ganz wichtig, dass man bei sicherheits- und verteidigungs­politischen Fragen den Ländern zuhört, die schon länger nicht nur in die eigene Sicherheit und Verteidigung, sondern auch in die der ganzen EU investiert haben. Zweitens, dass man wirklich anerkennt, dass Russland für uns alle eine existenzielle und leider – wie es jetzt ­aussieht – eine lange andauernde Bedrohung sein wird. Und dass man daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zieht.

Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir als EU und als NATO stärker werden. Vor vier Jahren, inmitten der Covid-19-Krise, hat die Europäische Union einen finanziellen Rettungsschirm aufgespannt, dessen Volumen größer war als alles, was man bisher gesehen hatte. Und alle EU-Mitglieder haben sich ihrer Wirtschaftskraft entsprechend beteiligt. Natürlich waren wir alle betroffen, aber die südlichen Mitglieds­länder waren es ganz besonders, und denen wurde dann auch in besonderem Maße geholfen. 

„Es geht auch um die Sicherung unserer Werte, der Demokratie, der Menschenrechte, des Rechtsstaats für die Zukunft“

Jetzt sollten wir solidarisch in die andere Richtung sein. Es ist ja auch nicht so, dass nur einzelne Staaten, zum Beispiel an der Ostflanke, von der Aggression Russlands betroffen wären. Die russischen Desinformationskampagnen richten sich zum Beispiel vor allem gegen Deutschland. Wir müssen erkennen, dass wir nur gemeinsam stark werden können gegen diese Bedrohung. Dafür müssen Mittel im EU-Haushalt gefunden werden. 

Um sich die Dimensionen nochmal vor Augen zu führen: Der Covid-Rettungsschirm hatte ein Volumen von 750 Milliarden Euro, unsere Hilfe für die Ukraine läuft auf sehr viel weniger hinaus. Und wenn man sich anschaut, wie viel einzelne Mitgliedsländer „einbezahlt“, d.h. in militärische Verteidigung oder Abschreckung investiert haben, dann sind die Unterschiede noch sehr, sehr groß. 

Wie schauen Sie auf die Präsidentschaftswahl in den USA? Reicht es für Europa, Kamala Harris die Daumen zu drücken?
Ich bin ein großer Fan der Demokratie und ich schätze den Ausgang jeder freien, demokratischen Wahl. Ich gehe davon aus, dass die Wahlen in den USA fair und transparent durchgeführt werden, und man kann dann das Ergebnis nur respektieren. Ich drücke also in dem Sinne niemandem die Daumen.

Vielleicht würde uns Europäerinnen und Europäer eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps vor größere Herausforderungen stellen, als das bei einem Sieg von Kamala Harris der Fall wäre. Aber Trump hat schon früher zum Beispiel von den NATO-Partnern ganz klar Verteidigungsausgaben von mindestens 2 Prozent des BIP verlangt, und das kann man nur unterstützen. Wenn man sich hierauf einigt, wie die NATO 2014, dann muss man auch liefern, das ist wichtig auch für die politische Glaubwürdigkeit des Bündnisses. 

Tatsächlich haben wir nur sehr wenig Einfluss darauf, was die künftige US-Präsidentin oder der künftige US-Präsident zu tun beabsichtigt. Die Beziehungen bestehen fort, und innerhalb der NATO erwarte ich eigentlich keine so große Veränderung. Ganz wichtig ist aber, dass wir uns darauf konzentrieren, was wir selbst machen können, und das ist die Stärkung Europas. Weil wir vorhin von Resilienz sprachen: Dabei geht es auch um die Sicherung unserer Werte, der Demokratie, der Menschenrechte, des Rechtsstaats für die Zukunft. Und wir müssen wirtschaftlich stärker werden und wettbewerbs­fähig bleiben. Was die Entwicklung neuer Technologien angeht, fallen wir als Europa schon seit zehn, 15 Jahren deutlich zurück. Das macht mir Sorgen, in zweierlei Hinsicht: Nur wenn wir wirtschaftlich stark sind, können wir uns auch für unsere Werte stark machen. Und militärische Fähigkeiten hängen schon jetzt sehr eng mit technologischer Kompetenz zusammen. 

Das wäre meine Botschaft an die Freundinnen und Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks: Wir müssen mehr auf freien Handel setzen und uns da näherkommen, statt auf Protektionismus zu setzen. Das ist der Schlüssel, damit das transatlantische Bündnis auch wirtschaftlich stark bleibt.

Was wünschen Sie sich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Deutschland? 
Erst einmal möchte ich mich herzlich dafür bedanken, wie Deutschland sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur für die Ukraine, sondern für unsere gemeinsame Sicherheit eingesetzt hat. Ich wünsche mir natürlich, dass Deutschland diesen Weg fortsetzt. Die Zeitenwende geht ja nicht nur Deutschland an, sondern uns alle. Für Finnland geht damit der Beitritt zur NATO einher; nun müssen wir uns komplett in die Strukturen integrieren. Die neue Zeit verlangt uns allen ganz viel ab. 

Ich wünsche mir eine deutliche Führungsrolle Deutschlands vor allem bei Sicherheit und Verteidigung in Europa. Wir denken sehr ähnlich, wenn es um die wichtigsten Dinge geht: Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechte. Diese gilt es gemeinsam so stark zu verteidigen, wie es nur geht. 

Und dabei geht es auch um die Ukraine – wer davon spricht, den Konflikt „einzufrieren“, sollte diesen Zusammenhang bedenken. Wir wünschen uns nichts sehnlicher als Frieden in Europa, und das sage ich auch als kommende Vorsitzende in der OSZE; Finnland wird 2025 den Vorsitz übernehmen. Wir brauchen eine friedliche Ordnung in Europa und Frieden in Europa. Aber zu welchem Preis? 

Russland ist zu einer Kriegswirtschaft übergegangen, es rüstet sehr stark auf. Die staatlich gelenkten russischen Medien bauen systematisch ein feindliches Bild von europäischen Staaten auf, nach unserer Analyse sehr stark gegen Deutschland und selbst Frankreich gerichtet. 

Wenn wir die Ukraine aus einer Posi­tion zumindest der relativen Schwäche an den Verhandlungstisch zwingen, hat das Konsequenzen. Wie können wir Russland vertrauen, das die Ukraine ja schon seit zehn Jahren mit Krieg überzieht? Man muss sich wirklich Gedanken darüber machen, was ein solcher „Frieden“ auch für uns bedeuten würde. Wenn man Russland etwas gibt, was es heute möchte, kommt es morgen zurück und möchte mehr. 

Das Gespräch führte die IP-Redaktion.         

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 79-82

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Elina Valtonen amtiert seit Juni 2023 als finnische Außenministerin. Seit 2022 ist sie stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Sammlungspartei, die bei den Parlamentswahlen im April vergangenen Jahres zur stärksten politischen Kraft wurde. Vor ihrer politischen Karriere arbeitete sie als Thinktankerin.