„Russland will Deutschland destabilisieren“
Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz spricht „AKK“ über Deutschlands Standing in der Welt, Nord Stream 2, das Verhältnis zu den USA und warum niemand Rentner gegen Rüstung ausspielen sollte.
IP: Frau Kramp-Karrenbauer, Sie waren in Davos, fahren jetzt zur Münchner Sicherheitskonferenz. Bespielen Sie jetzt bewusst die Bühnen einer potenziellen Kanzlerin?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Außen- und Sicherheitspolitik sind genauso Themen für die Partei wie für die Regierung. Wir leben in einer Zeit, in der man im Grunde genommen Innen- und Außenpolitik gar nicht mehr voneinander trennen kann. Das gilt für uns insbesondere mit Blick auf Europa. Wir sehen ja gerade, wie sich die geopolitische Lage verschiebt. Deswegen halte ich es für richtig, dass sich die Parteivorsitzende auch mit außen- und sicherheitspolitischen Fragestellungen befasst.
IP: Was ist Ihr Hauptmotiv?
Kramp-Karrenbauer: Im Vordergrund steht die Gelegenheit, viele Gespräche führen und Kontakte knüpfen zu können. Es ist wichtig, Expertenmeinungen zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen anzuhören. Deshalb bin ich sehr froh über die Einladung. Ich treffe etwa andere Parteivorsitzende der EVP-Familie wie den griechischen Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis oder den Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier.
IP: Sie haben Ihren Antrittsbesuch in Brüssel als CDU-Chefin gemacht – was planen Sie noch?
Kramp-Karrenbauer: Ich habe eine Reihe von interessanten Einladungen – nach China, in die USA oder nach Israel zum Beispiel. Aber bis zur Europawahl Ende Mai werde ich zunächst eine Reihe von EU-Staaten bereisen. Frankreich ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Auch Besuche in den osteuropäischen Nachbarstaaten stehen in der Priorität ganz oben – gerade im Zusammenhang mit 30 Jahren Mauerfall.
IP: Nun ist bekannt, dass Sie als Saarländerin eine überzeugte Europäerin sind. Aber als Außenpolitikerin sind Sie bisher nicht aufgefallen – interessiert Sie das Thema?
Kramp-Karrenbauer: Mich hat die Außenpolitik sogar in die Politik gebracht. Es ging damals um den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Es waren die Debatten über den NATO-Doppelbeschluss.
Auch heute gibt es für mich Achsen, um die wir uns kümmern müssen. Das eine könnte man die Europa-Achse nennen. Ein handlungsfähiges Europa liegt immer auch im nationalen Interesse Deutschlands. Das andere ist eben eine funktionierende transatlantische Achse. Aber momentan sind die Diskussionen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa, aber auch insbesondere Deutschland, rauer und schwieriger geworden. Es ist eine große Herausforderung für uns, den Wert dieses Bündnisses und diese Freundschaft zu bewahren. Denn sie hat nichts an Bedeutung verloren. Es ist ein Warnsignal, wenn Deutsche in einer Umfrage angeben, dass sie dem russischen, selbst dem chinesischen Präsidenten heute mehr vertrauen als dem amerikanischen.
IP: Aber Sie selbst haben gerade gesagt, dass Sie Trump und Putin für gleichermaßen schwierig halten. Klingt das nicht nach Äquidistanz?
Kramp-Karrenbauer: Nein, Äquidistanz kann es hier nicht geben. Die USA stehen mir von den Grundeinstellungen, dem Wertegerüst, der historischen Verbundenheit viel näher als andere Länder – völlig unabhängig von den aktuellen politischen Diskussionen. Ich meinte damit, dass beide Staaten für uns derzeit in unterschiedlicher Art und Weise herausfordernd sind. Bei den Vereinigten Staaten liegt die Herausforderung vor allem darin, dass wir zumindest aktuell eine politische Administration haben, die sich ein Stück entfernt von internationalen Vereinbarungen. Dieser Kurs verändert geopolitisch vieles.
Russland dagegen ist für uns ein großer und wichtiger Nachbar – aber eben auch ein problematischer. Russland hat eine eigene Agenda. Und diese Agenda umfasst augenscheinlich auch den Versuch der Destabilisierung Europas und Deutschlands. Durch schwache Nachbarn soll die eigene Stärke gefördert werden. Das widerspricht den europäischen und deutschen Interessen.
Wenn wir schon dabei sind: Um das Tableau komplett zu machen, nenne ich noch die chinesische Herausforderung. China wird regiert von einem sehr starken Regime mit deutlich anderen Wertevorstellungen. Und einem, das auf lange Sicht sicher eigene Spielregeln in der Welt durchsetzen will.
IP: Lassen Sie uns noch einen Augenblick bei den USA verweilen. Machen sich die Deutschen in ihrer Trump-Skepsis nichts vor? Denn auch unter Barack Obama gab es doch bereits diese Rückzugstendenzen – das Pariser Klimaschutzabkommen hat auch er nicht ratifiziert bekommen.
Kramp-Karrenbauer: Sicher gab es diese Tendenz zum Rückzug in der US-amerikanischen Politik schon immer und auch unter Obama. Im Laufe der Geschichte kann man sehen, dass beide unterschiedlichen Ausrichtungen – internationales Engagement und Rückzug – oft miteinander gestritten haben. Neu ist aber, dass internationale Politik unter Trump eher als ein großes Geschäft gesehen wird. Auch das Verhältnis zu Europa und das Verhältnis zur NATO.
IP: Glauben Sie, dass es eine Rückkehr geben kann? Einige sagen ja, dass die USA auf jeden Fall auf diesem Weg weitergehen werden. Oder glauben Sie daran, dass er korrigierbar ist?
Kramp-Karrenbauer: Ich kann zumindest zurzeit noch keine raumgreifende Debatte in den Vereinigten Staaten erkennen, die ein Umsteuern andeuten würde. Deshalb sind Deutschland und Europa gefordert – deshalb müssen wir mehr Verantwortung übernehmen. Darum kreist doch die ganze Debatte in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es geht um unser Standing in einer sich verändernden Welt. Es geht darum, ob wir zufrieden damit sind, nur eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt zu sein oder ob wir mehr politische Verantwortung übernehmen wollen. Da stehen wir vor einer schwierigen innenpolitischen Diskussion.
IP: Deutschland ist in Ihrer Sicht keine „große Schweiz“?
Kramp-Karrenbauer: Nein, Deutschland kann keine „große Schweiz“ sein. Deutschland muss mehr Verantwortung wahrnehmen. Denn wir sind nun mal ein sehr starkes Zentrum in Europa, das habe ich auch in Brüssel gespürt. Deutschland hat die Fähigkeit, auch die unterschiedlichen Interessen der kleineren europäischen Partner aufzunehmen und für einen Ausgleich zu sorgen – das wird auch von uns erwartet. Wir müssen aber auch eine stärkere Rolle bei der Verteidigung spielen. Bei der 2-Prozent-Debatte geht es dabei nicht nur um Geld, sondern auch um eine qualitative Debatte. Neben der Ausrüstung und der reinen Mannstärke müssen wir über Cybersicherheit und über Infrastruktur und deren Schutz diskutieren. Es ist sinnlos, NATO-Truppen aufzustocken, wenn Sie im Falle eines Falles keine Truppen durch Europa verlegen können, weil Straßen und Brücken nicht dafür ausgelegt sind.
IP: Klingt das nicht wie ein Ablenkungsmanöver von dem 2-Prozent-Ziel, das Deutschland nicht erreicht? Zumal die Bundesregierung ja bis 2024 nur 1,5 Prozent erreichen will.
Kramp-Karrenbauer: Wir wollen ja an diesem 2-Prozent-Ziel festhalten. Aber die Kopplung eines Prozentsatzes an das Bruttoinlandsprodukt alleine ist auch nicht sehr aussagekräftig: Denn in Zeiten einer Rezession könnte man ohne mehr Geld auf steigende Quoten verweisen. Die 1,5 Prozent sind bei einem wachsenden BIP bereits eine große, aber notwendige Kraftanstrengung. Denn eine Regierung muss natürlich auch mit anderen Ausgabewünschen im Etat umgehen. Aber wie gesagt: Es bedarf auch der qualitativen Debatte. Man könnte sich auch mal anschauen, was in anderen Staaten alles mit hineingerechnet wird: Zum Teil handelt es sich um Nuklearmächte, zum Teil geht es um den Unterhalt teurer Überseebasen.
IP: Warum nennen Sie eigentlich keine absoluten Zahlen – wäre das nicht ehrlicher? Nach jetzigem Stand würden 1,5 Prozent einen Bundeswehr-Etat von rund 60 Milliarden bedeuten …
Kramp-Karrenbauer: Ich habe überhaupt kein Problem damit, auch die Klarzahlen zu nennen. Spätestens bei der mittelfristigen Finanzplanung und im Haushalt werden die Zahlen ohnehin sichtbar. Ich erinnere in dem Zusammenhang aber auch an die Verantwortung des Parlaments: Wir haben mit der Bundeswehr eine Parlamentsarmee, die nur durch Bundestagsbeschlüsse in den Einsatz geschickt werden kann. Dann muss der Bundestag als Haushaltsgesetzgeber aber auch dafür sorgen, dass die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten so ausgestattet sind, dass sie eben einigermaßen gesund aus dem Einsatz zurückkommen können. Ansonsten muss man die ehrliche Debatte führen und sagen: Ich will keine Bundeswehr.
IP: Warum scheint es in Deutschland denn so schwierig zu sein, eine offene außen- und sicherheitspolitische Debatte zu führen?
Kramp-Karrenbauer: Das hat vielleicht etwas mit unserer Geschichte zu tun. Aber die Zeiten haben sich geändert: Europa und Deutschland stehen an einem Scheideweg. Wollen wir weltweit eine eigenständige Rolle spielen? Wenn ja, dann müssen wir mehr Anstrengungen unternehmen – und das betrifft insbesondere Deutschland. Zumal wir wie kaum ein anderes Land mit unseren Exporten auf eine stabile internationale Lage angewiesen sind. Es gibt, wie gesagt, keinen klassischen Unterschied mehr zwischen Innenpolitik auf der einen Seite und Außenpolitik auf der anderen Seite. Wir haben doch bei der Migrationspolitik erlebt, dass eine Destabilisierung der Region um Europa über kurz oder lang gravierende Auswirkungen auch auf die Innenpolitik haben kann. Deshalb sind Debatten eher ärgerlich, die erkennbar auf das Muster zielen: „Die einen sind für die Rüstung und die anderen sind für die armen Rentner in Deutschland.“ Eine solche Debatte hat mit verantwortlicher Politik für Deutschland wenig zu tun.
IP: Aber der frühere Außenminister Sigmar Gabriel hat vor einem anderen Effekt gewarnt: Unsere EU-Nachbarn könnten bei wachsenden deutschen Rüstungsausgaben Angst vor uns bekommen. Was stimmt nun – diese Warnung oder die Forderung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, dass die Bundeswehr die stärkste Armee Europas werden soll?
Kramp-Karrenbauer: Na ja, bis zur stärksten Armee in Europa ist es noch ein gutes Stück Weg (sie lacht). Und das ist für mich auch nicht das Ziel. Die Warnung Gabriels ist doppelt falsch. Denn wir sprechen ja hier nicht über einen Wettlauf getrennt voneinander stehender nationaler Armeen. Wir reden von einer Bundeswehr, die eingebunden ist in ein Bündnis wie die NATO, die in vielfältiger Weise verflochten ist in Europa. Und mein Ziel ist es ausdrücklich, dass wir auf lange Sicht eine ergänzende gemeinsame europäische Armee bekommen. Die Gefahr eines bedrohlichen Deutschlands sehe ich überhaupt nicht.
IP: Gehört zu der europäischen Einbindung auch, dass Frankreich seinen atomaren Schirm über Deutschland und die EU spannen sollte, wie der Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, dies fordert?
Kramp-Karrenbauer: Wir haben durch die Kündigung des INF-Mittelstrecken-Vertrags sicher eine neue Situation. Aber alle Anstrengungen sollten zunächst darauf zielen, in diesen jetzt ausstehenden sechs Monaten doch noch zu einer Vereinbarung zu kommen. Eigentlich bräuchte man einen Vertrag, der nicht nur Russland und die Vereinigten Staaten einbezieht, sondern auch Mächte wie China oder andere atomare Nationen. Ansonsten würde ich keine einzige Option zur Seite legen und würde mich auch von vornherein nicht auf eine einzige Option festlegen.
IP: Keine Option vom Tisch nehmen? Meinen Sie damit auch eine atomare Bewaffnung Deutschlands?
Kramp-Karrenbauer: Nein, auf keinen Fall.
IP: Muss Europa nicht einen „dritten Weg“ gehen?
Kramp-Karrenbauer: Europa als Ganzes steht mit seinem Wertesystem sicher für etwas sehr Eigenes. Nehmen Sie das Beispiel Datenschutz. In den Vereinigten Staaten sind Daten vor allem eine Ware, der Schutz der Privatsphäre spielt eine nachgeordnete Rolle. In China haben wir dagegen ein Staats- oder Parteisystem, das große Datenmengen für eine perfektionierte soziale und politische Kontrolle des Einzelnen nutzt. Beides hat mit unseren Werten und unserer Vorstellung von Privatheit wenig zu tun. Die EU hat in einem ersten kleinen Schritt mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung versucht, einen Standard zu setzen. Mit der Marktmacht eines vereinigten europäischen Binnenmarkts können wir damit auch Akteure wie Google oder Facebook zu Veränderungen bewegen, wenn auch in kleinen Schritten.
Deswegen glaube ich schon, dass Europa eine besondere Rolle spielt – aber als Teil einer westlichen Wertegemeinschaft, zu der ja nicht nur die USA, sondern auch Kanada, Australien, Neuseeland und viele andere gehören.
IP: Den Terminus „dritter Weg“ würden Sie aber nicht verwenden?
Kramp-Karrenbauer: Nein, er erinnert mich zu sehr an die Zeiten des Kalten Krieges, als es um einen möglichen deutschen Sonderweg ging. Darum geht es heute nicht. Aber wenn wir auch künftig noch eine Rolle spielen wollen, dann müssen wir unsere Überzeugungen auch in die Waagschale werfen.
IP: Sie haben Russland vorgeworfen, eine Destabilisierung Deutschlands und der EU erreichen zu wollen. Muss die Bundesregierung deshalb nicht ganz anders mit Moskau umgehen?
Kramp-Karrenbauer: Zunächst einmal: Russland ist ein sehr großes, vielfältiges Land mit wunderbaren Menschen und mit unglaublich viel Potenzial. Daneben gibt es aber eine russische Regierung, die im eigenen Land rigide durchgreift und anderen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung nimmt – das haben die Konflikte in Georgien, in der Ostukraine und die Annexion der Krim gezeigt. Das muss man klar benennen. Wenn Russland Troll-Fabriken nutzt, um im Westen Desinformationskampagnen zu fahren oder Wahlen zu beeinflussen, kann man dies nicht unter den Teppich kehren.
Nun klagen viele über die Wirtschaftssanktionen der EU. Aber eine Alternative nennen die Kritiker nicht. Weder sind sie der Meinung, man müsse Russlands völkerrechtswidriges Verhalten hinnehmen, noch haben sie eine Idee für andere Sanktionen. Da wir ein militärisches Eingreifen ausschließen, bin ich für einen Erhalt der Sanktionen, solange keinem etwas Klügeres einfällt.
IP: Aber ist das Festhalten an der Nord-Stream-2-Pipeline dann nicht ein Widerspruch?
Kramp-Karrenbauer: Bei Nord Stream haben wir aus meiner Sicht einen Interessenzwiespalt. Es handelt sich um ein wirtschaftliches Projekt, das vor langer Zeit noch unter einer anderen Regierung in Deutschland auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben zudem auch in der Hochphase des Kalten Krieges wirtschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten, auch in der Energieversorgung. Diese waren stabil. Es geht also um eine Abwägung von Interessen – der deutschen, aber auch derer der Ukraine und der Osteuropäer. Dazu kommen Partner wie die USA, die sicherlich auch eigene wirtschaftspolitische Interessen verfolgen. Die Frage, ob Deutschland sich zu sehr von russischem Gas abhängig macht, ist ja legitim. Nur bauen wir derzeit auch LNG-Terminals – etwa für amerikanisches Gas. Insofern sehe ich diese Gefahr einer Abhängigkeit als nicht so groß.
So umstritten die Pipeline auch ist: Man muss zudem realistisch sagen, dass sie wohl nicht mehr zu verhindern ist. Es gibt die Verträge, es gibt Genehmigungen. Ich halte nichts von einer Politik, die der Öffentlichkeit kraftvoll erklärt, was jetzt alles zu tun sei – obwohl sie ganz genau die Vertragslage kennt.
IP: Aber die USA erhöhen dennoch den Druck wegen der Fertigstellung der Pipeline – auch mit Sanktionsandrohungen.
Kramp-Karrenbauer: Es ist nicht der beste Umgang zwischen Partnern und Freunden, sich gegenseitig mit Sanktionen zu drohen. Die USA haben eigene wirtschaftliche Interessen, was legitim ist. Und sie haben Sorge, dass sich Deutschland als eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt zu sehr von Russland abhängig macht. Aber Washington muss auch die deutschen Antworten hören: Wir sind dabei zu diversifizieren, wir haben noch andere Bezugsquellen. Und wir haben die historische Erfahrung, dass selbst in Hochzeiten der Auseinandersetzung Russland immer ein verlässlicher Gaslieferant war.
IP: Aber ist Nord Stream nicht ein Symbol dafür, dass die von Ihnen genannte Rücksicht auf die Interessen kleinerer EU-Partner nicht immer genommen wird?
Kramp-Karrenbauer: Nord Stream 2 ist für mich wie andere auch sicher kein Herzensprojekt. Aber grundlegende Entscheidungen sind früher getroffen worden. Das Projekt ist nicht einfach rückabwickelbar. Zudem haben wir auch ganz legitime wirtschaftliche Interessen bei der Energieversorgung. Dass niemand mit dem Kopf durch die Wand will, haben gerade die Beratungen in Brüssel gezeigt. Es bleibt dabei, dass eine Konstante deutscher Außenpolitik immer war und ist, Interessen der europäischen Nachbarn mit im Blick zu haben und umzusetzen.
IP: Ist China eigentlich mehr Chance oder Herausforderung?
Kramp-Karrenbauer: Wir haben die soziale Marktwirtschaft immer sowohl als Wirtschafts- und als Gesellschaftsmodell angesehen. Dieses Modell hat im alten Systemkonflikt mit den kommunistischen Staaten seine Überlegenheit bewiesen. Aber mit China gibt es erstmals einen Mitbewerber, der wirtschaftlich erfolgreich ist, ohne dass er auch unser Gesellschaftsmodell teilt. Und das ist die große neue Herausforderung.
Ich habe keine Angst vor China. Aber sicherlich brauchen wir in diesem Systemwettbewerb auch so etwas wie eine strategische Industriepolitik.
Nehmen Sie die EU-Entscheidung zu Siemens/Alstom. Wenn man alle europäischen und nationalen Wettbewerbsregeln vor Augen hat, kann man die Entscheidung der Wettbewerbskommissarin nachvollziehen. Aber es ist eine gewagte Prognose zu sagen, dass China in den nächsten acht bis zehn Jahren nicht zum großen Mitbewerber im Bahnsektor in Europa aufsteigen wird. Deshalb finde ich es einen absolut notwendigen und längst überfälligen Denkanstoß, den Wirtschaftsminister Peter Altmaier gegeben hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir an der einen oder anderen Stelle eine andere strategische Aufstellung in der Industriepolitik brauchen. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich für die Gründung von Staatsbetrieben bin. Das ist eine vollkommen überzogene Debatte.
IP: Fürchten Sie, dass die Europäer am Ende zwischen den Supermächten USA und China zerrieben werden – oder sich für eine entscheiden müssen?
Kramp-Karrenbauer: Wir Europäer stehen an einer Wegscheide. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, unsere eigene Politik und eigenen Werte durchzusetzen, dann laufen wir Gefahr, auf Sicht Spielball des einen oder des anderen zu sein. Um das abzuwehren, brauchen wir ein Europa mit Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit.
IP: Eine ganz andere Frage: Was sind für Sie eigentlich die geografischen Grenzen Europas – bzw. der EU?
Kramp-Karrenbauer: Wenn man sieht, wie derzeit zwei EU-Gründerstaaten, nämlich Frankreich und Italien, miteinander umgehen, dann ist das dringlichere Problem wohl eher die Qualität unserer Gemeinschaft als die Frage nach einer geografischen Ausdehnung.
Die Fragen stellten Andreas Rinke und Martin Bialecki
Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 26-29