IP

24. Juni 2014

Russland von A bis Z

Arbeitsmobilität und Monostädte
Bildung
Demografie
Frauen
Infrastruktur
Innovationsfähigkeit
Investitionsklima
Klima und Umwelt
Medien und Internet
Migration
Mittelschicht
Silowiki

 


Arbeitsmobilität und Monostädte

Mangelnde Arbeitsmobilität behindert bis heute die Entwicklung der russischen Wirtschaft. In zahlreichen Städten und Regionen wurden noch in Zeiten der Sowjetunion monoindustrielle Strukturen gelegt: Jahrzehntelang ließ das Sowjetregime hunderte nur auf ein Unternehmen bzw. einen Industriezweig ausgerichtete Städte errichten. Eine auf das ganze Land bezogene räumliche Arbeitsteilung und eine größtmögliche regionale Spezialisierung sollten in Verbindung mit der gewaltigen Größe der Produktionsstätten zu Skalenerträgen und größerer Effektivität führen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion allerdings ging ein großer Teil der in „Monostädten“ angesiedelten Unternehmen in die Insolvenz. Viele der Standorte, die sich halten konnten, sind bis heute nicht wirklich wettbewerbsfähig.
Oft produzieren die Fabriken die falschen Produkte am falschen Ort. Dabei hängen hunderttausende Arbeitsplätze an der Produktion beziehungsweise Zulieferung – wie in der auf die Autoproduktion spezialisierten und nach dem italienischen Kommunistenführer Palmiro Togliatti benannten Stadt Toljatti, seit 1966 Heimat von AwtoWAS („Lada“), dem größten Pkw-Hersteller Russlands und Osteuropas. 2009 bezifferte das russische Institut für Regional­politik die Zahl der Monostädte auf etwa 460. Das entspricht zwei Fünfteln aller russischen Städte und mit 25 Millionen Einwohnern mehr als einem Sechstel der ­Gesamtbevölkerung.
Da die monoindustriellen Regionen hohe jährliche Subventions- und Sozialausgaben verschlingen, dürfte es auf mittlere Sicht unumgänglich sein, Stand­orte zu schließen oder zu verkleinern. Dies würde eine höhere Arbeitsmobilität erfordern, die in Russland aber traditionell gering ist. 2009 wechselten nach Angaben des staatlichen Statistikamts Rosstat nur 1,4 Prozent der Bevölkerung ihren Wohnort, ein Großteil davon innerhalb der eigenen Region. Zum Vergleich: In den USA waren es im gleichen Jahr 12,5 Prozent. Begründet wird dies häufig mit bürokratischen Hindernissen und einem unzureichenden Immobilienmarkt, aber auch mit den aufgrund großer Distanzen oft hohen Kosten eines Umzugs. So ist eine „Armutsfalle“ entstanden: Niedrige Löhne machen einen Umzug in eine attraktivere Region schlichtweg unmöglich.
Noch 2004 schätzten die russischen Ökonomen Sergej Guriew – der aus Furcht vor staatlichen Repressalien 2013 Moskau verließ und seither an der Pariser ­Sciences Po lehrt – und Juri Andrienko den Anteil der in der „Armutsfalle“ gefangenen Russen auf etwa 30 Prozent. Da sich das BIP in den vergangenen zehn Jahren erhöht hat, dürfte heute den meisten Menschen wenigstens theoretisch die Möglichkeit eines Orts- und Arbeitsplatzwechsels offen stehen. Allerdings bleiben viele Arbeitnehmer oft an ihren Arbeitsplatz gebunden, weil Löhne nicht oder nur mit großer Verspätung gezahlt, vertragliche Vereinbarungen nicht eingehalten werden und weil soziale Leistungen in weiten Teilen ausschließlich über Betriebe und Unternehmen gewährt werden.
Die massiven interregionalen Unterschiede der Wirtschaftskraft werden dies aber auf absehbare Zeit kaum beheben. So beträgt das durchschnittliche BIP pro Kopf im Oblast Tjumen, wo zahlreiche Gas- und Ölunternehmen angesiedelt sind, mehr als 58 000 Dollar im Jahr, was dem Niveau Norwegens entspricht. Ganz anders sieht es in weiten Teilen des Nordkaukasus aus: In den Teilrepubliken Tschetschenien und Inguschetien liegt das BIP pro Kopf bei etwa 4000 Dollar. Und während in den Ballungszentren St. Petersburg und Moskau Anfang 2013 nur 1,1 beziehungsweise 1,2 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos gemeldet waren, lag die Arbeitslosenquote in Inguschetien bei 47 oder im sibirischen Tuwa bei 15 Prozent.
Dies unterstreicht die Notwendigkeit arbeitsmarktpolitischer Reformen. Die Weltbank schlug in ihrem „Wirtschaftsbericht Russland“ (2010) unter anderem vor, Unternehmen stärker als bisher auf regelmäßige Lohnzahlungen zu verpflichten. Im Gegenzug sollte das System reformiert werden, Sozialleistungen bis hin zur Kinderbetreuung an Unternehmen und Betriebe zu koppeln. Würde der Staat wiederum die Zahlung von Sozialleistungen übernehmen und die Leistungen in allen Landesteilen angleichen, liefen Angestellte in Monostädten nicht mehr Gefahr, solch existenzsichernde Leistungen bei einem Arbeitsplatzwechsel zu verlieren. Darüber hinaus sollten bürokratische Hürden wie langwierige Registrierungsprozesse abgeschafft sowie willkürlichen Entscheidungen lokaler Behörden entgegengewirkt werden.


Bildung

Im „Better Life Index“ (2013) der OECD liegt Russland in den Bereichen Bildung und Ausbildung auf einer Ebene mit Europa und den Vereinigten Staaten. In der Russischen Föderation verfügen 94 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren – davon 93 Prozent der Männer und 95 Prozent der Frauen – über einen Abschluss des Sekundarbereichs II (Abitur/Fachabitur). Das liegt weit über dem OECD-Durchschnitt von 75 Prozent. Für die Zukunft Russlands ausschlaggebender ist die Anzahl von Hochschulabschlüssen unter den Jüngeren: 91 Prozent der 25- bis 34-Jährigen verfügen über einen Abschluss des Sekundarbereichs II. Auch hier liegt die Russische Föderation weit über dem OECD-Durchschnitt von 82 Prozent.
Das russische Bildungssystem sieht eine allgemeine Schulbildung vor, die einen vierjährigen Grund- sowie einen fünfjährigen Hauptschulbesuch umfasst. Die daran anschließende zweijährige Oberschule endet mit der staatlichen Abschlussprüfung „attestat zrelosti“, die zum Hochschulzugang berechtigt. Alternativ können diejenigen, die nach der Hauptschule im Rahmen einer Berufsausbildung eine Berufsschule besucht haben, ebenfalls die Hochschul­reife erlangen.
Im Zuge der Bologna-Reform von 2003 werden auch an Russlands Universitäten neben dem Diplom mittlerweile Bachelor- und Masterabschlüsse angeboten. Allerdings ist das Prinzip der „Einheit von Forschung und Lehre“ weitgehend unbekannt: Nur wenige russische Universitäten betreiben eigene Forschung – ein Erbe der Sowjetunion, wo Universitäten vor allem „die Massen“ bilden sollten, während kleine, geschlossene Spezialistenzirkel an Akademien forschten. Heute sind die meisten Universitätsprofessoren allerdings gleichzeitig Mitglieder der Forschungsakademien, was die Trennung zumindest vordergründig verringert. Um den Studierenden mehr Praxis zu vermitteln, entwickelte das Bildungsministerium 1996 das Programm „integracija“, in dessen Rahmen Forschung und Lehre stärker integriert werden sollen.
Den beeindruckenden OECD-Zahlen zum Trotz hinken Russlands Forschung und Lehre weit hinterher (siehe auch das Stichwort „Innovationsfähigkeit“, S. 31 ff.): In internationalen Fachzeitschriften machen russische wissenschaftliche Veröffentlichungen nur 2 Prozent aus, und beim Hochschulranking des Times Higher Education Supplement schaffte es mit der Moskauer Lomonossow-Universität 2007/08 nur eine einzige russische Hochschule auf Rang 183 unter die „Top 200“. Diesen Platz konnte sie aber nicht halten: Beim jüngsten Ranking von 2013/14 verpasste sie den Sprung unter die besten 225 akademischen Institutionen.
Gerade bei der Qualität der Lehre kann Russland im internationalen Vergleich nicht mithalten, was auch mit der steigenden Zahl Studierender zusammenhängt. 1990/91 waren in Russland 2,8 Millionen Studenten an Universitäten eingeschrieben, 2007/08 waren es 7,5 Millionen. Die Bildungsausgaben wurden nicht entsprechend angepasst: Laut OECD-Angaben verharrten sie 2000 und 2005 auf 2,9 Prozent des BIP und stiegen 2010 auf 4,8 Prozent.
Verschiedene Exzellenzinitiativen sollen das russische Bildungssystem international wieder wettbewerbsfähiger machen, unter anderem durch den Aufbau halbstaatlicher, halbprivater föderaler Hochschulen, die auch international vernetzt sein sollen. Den Auftakt machten 2007 die Regionen Krasnojarsk und Rostow am Don mit der Sibirischen Föderalen Universität beziehungsweise der Südlichen Föderalen Universität. Weitere Hochschulen sind in Jekatarinenburg, Kasan und Kaliningrad geplant.
Bis 2020 sollen diese Einrichtungen unter den besten Universitäten der Welt rangieren. Kritiker warnen allerdings vor einem Zwei-Klassen-System in der Bildung. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob die Bildungsinvestitionen ausreichen, um wie geplant den internationalen Anschluss zu finden. Da Gelder aus privatwirtschaftlichen Quellen oft intransparent fließen, stellt sich zudem die Frage, ob die Unabhängigkeit universitärer Forschung tatsächlich garantiert ist.


Demografie

Noch 2006 glaubten viele Experten, dass Russland geradezu eine demografische Katastrophe bevorstünde. Statt derzeit etwa 141 Millionen würden 2050 nur noch knapp 100 Millionen Menschen im flächenmäßig größten Land der Erde leben, schätzten beispielsweise die Vereinten Nationen. Als Ausgangspunkt der Negativentwicklung galt der Zerfall der Sowjetunion: 1990/91 überstieg die Sterberate erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die Geburtenzahl. Demografen sprachen unter Anspielung der gegenläufigen Linien vom „russischen Kreuz“. Allerdings verzeichneten westliche Industriestaaten ein solches „Kreuz“ schon Ende der sechziger Jahre. Dennoch hält sich bis heute der Eindruck, Russland laufe Gefahr auszusterben.
Unsichere Zukunftsperspektiven, Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne führten schon in den achtziger und neunziger Jahren zu einer dramatisch sinkenden Geburtenrate: von 2,12 Kindern pro Frau 1988 auf 1,17 bis zum Jahr 1999. Da in der Sowjetunion Verhütungsmittel Mangelware waren, entstand eine „Abtreibungskultur“. Nach der gewünschten Anzahl an Kindern wurde häufig jede weitere Schwangerschaft abgebrochen. Bis heute verzeichnet Russland eine der höchsten Abtreibungsraten in Europa.
Auch der hohe Alkoholkonsum und die geringe Lebenserwartung trugen zum dramatischen demografischen Zustand Russlands bei. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2011 konsumieren Russen im Schnitt 15,76 Liter reinen Alkohol im Jahr (das entspricht knapp 40 Litern Wodka). Im weltweiten Vergleich liegt Russland hinter Ungarn, Tschechien und Moldau auf Rang vier. Der Alkoholismus ist vor allem ein Männerproblem. Die Lebenserwartung russischer Männer liegt bei 61 Jahren (bei Frauen sind es 74 Jahre) und damit 16 Jahre niedriger als in den meisten Ländern Europas. Etwa ein Viertel der russischen Männer stirbt vor dem 55. Lebensjahr (in Großbritannien liegt die Anzahl der Männer, die vor Erreichen des 55. Lebensjahrs stirbt, bei 7 Prozent). Eine aktuelle Studie des medizinischen Fachmagazins The Lancet macht dafür auch den hohen Alkoholkonsum als wesentliche Ursache aus. Zudem weist Russland eine besonders hohe Suizidrate auf, wobei Männer sechsmal häufiger Selbstmord begehen als Frauen. Mit 44 positiven HIV-Fällen pro 100 000 Einwohner (WHO-Angaben für 2011) weist das Land zudem die höchste HIV-Quote Europas auf. Ebenfalls problematisch ist die hohe Zahl an Herz-Kreislauf­erkrankungen, Tuberkulose und Unfruchtbarkeit, die das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse der Gesundheitspolitik sind. Die Lebenserwartung stieg zuletzt wieder leicht – und damit auch der Anteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, was Russlands öffentliche Haushalte durch Altenpflege und medizinische Versorgung künftig finanziell stärker belasten dürfte.
Nach neuesten Berechnungen wächst die Bevölkerungszahl jetzt aber jährlich wieder um etwa 0,2 Prozent (wie die deutsche). Dies ist vor allem Arbeitsmigration geschuldet (siehe auch „Migration“, S. 39 f.), die die hohe Sterberate ausgleicht. Mit dem 2007 von Präsident Wladimir Putin auf den Weg gebrachten Reformprogramm „Konzeption zur demografischen Politik der Russischen Föderation bis 2025“ sollten die Lebenserwartung und die Geburtenrate gesteigert werden. Letzteres lässt sich der russische Staat einiges kosten: Das „Mutterschaftskapital“ verspricht eine Summe von umgerechnet 10 000 Euro für jedes zweite und weitere Kind, auf die ab dem dritten Geburtstag des Kindes zugegriffen werden kann. Mit Slogans wie „Zwei Kinder sind gut, drei sind noch besser!“ wird eine „Drei-Kind-Politik“ propagiert. Das Konzept ist nicht neu: Schon unter Josef Stalin und Leonid Breschnew lockte der Sowjetstaat mit solchen direkten Geldanreizen.
Tatsächlich steigt die Geburtenrate seit 2000 wieder kontinuierlich. 2013 lag sie bei 1,7 Geburten pro Frau. Dank der Verbesserung des Lebensstandards leben viele Bürger Russlands heute auch gesünder. Ob die Maßnahmen jedoch den von Putin gewünschten Erfolg bringen, ist fraglich. Erst 18 von über 80 Oblasten haben eine ausgeglichene Geburten-Sterbe-Quote erreicht – solche mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Der Bevölkerungsanteil der Muslime hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion fast verdoppelt. Und während in ­Sowjetzeiten der Nordosten des Landes sowohl durch Zwangs- und Strafmaßnahmen als auch Förderungen besiedelt wurde, reduziert sich die Zahl der Bevölkerung dort infolge von Abwanderung in den europäischen Teil Russlands enorm. Dagegen wachsen Ballungsräume wie Moskau oder St. Petersburg, was zu sozialen Spannungen führt.
Der wichtigste demografische Faktor ist Migration, dementsprechend wurde die Einwanderungspolitik 2006 liberalisiert. Zuletzt belief sich die Netto-Migration nach UN-Schätzungen auf fast 2,3 Millionen Immigranten jährlich. Dabei handelt es sich überwiegend um schlecht qualifizierte Arbeiter aus den Binnennationen am Kaspischen Meer: Kasachen, Tadschiken und Usbeken. Sanktionen der EU und USA nach der Krim-Annexion könnten sich auch negativ auf die Migration nach Russland auswirken; allerdings verleibte sich Russland mit der Krim eine Bevölkerung von mehr als einer Million ethnischer Russen ein.


Frauen

Die Rolle der Frauen, die in Russland rund 54 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark gewandelt. Waren Emanzipation und gleichberechtigter Zugang zu Bildung und Beruf in der Sowjetunion zumindest offiziell Staatsräson, bestimmen heute wieder traditionelle Rollenbilder das Leben vieler Russinnen.
Im Gender Gap Report (2013) befindet sich Russland auf Platz 61 von 136 Ländern – das ist eine leichte Verschlechterung gegenüber 2008. Russland weist vor allem bei der Beteiligung von Frauen am politischen Prozess große Defizite auf: Nur 61 der 450 Abgeordneten (14 Prozent) sind weiblich. Damit belegt die Russische Föderation international nur den 94. Platz. Die gängige Praxis der Regierungspartei „Einiges Russland“, die eigene Parteiliste mit prominenten Ballerinen, Eiskunstläuferinnen und Akrobatinnen zu versehen, trägt allerdings nicht recht zu einem wachsenden Einfluss von Frauen im ­politischen Prozess bei.
Angesichts des Mangels an politischer Repräsentation überrascht es nicht, dass unter den bekannteren Gesichtern der russischen Opposition auffallend viele Frauen sind. Landesweit bekannt ist die Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von St. Petersburg und engen Putin-Vertrauten Anatoli Sobtschak, Ksenia Sobtschak. Die lange als „Paris Hilton Russlands“ geltende TV-Moderatorin solidarisierte sich im Zuge der Proteste gegen die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 mit der Opposition und gehört seitdem zu den prominentesten Kritikern der Regierung. Die im Westen vor allem durch ein „Punk-Gebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche und ihre drakonische Strafverfolgung bekannt gewordene Gruppe „Pussy Riot“ versteht sich als feministisch und kritisiert offen Wladimir Putin sowie dessen enges Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche.
In anderen Bereichen sieht es zumindest auf den ersten Blick besser aus: So sind 60 Prozent der russischen Universitätsabsolventen weiblich. Auch liegt die Beschäftigungsquote von Frauen in Russland traditionell vergleichsweise hoch. Allerdings sank sie nach dem Zerfall der Sowjetunion von knapp 60 Prozent auf 57 Prozent. Die Arbeitslosenquote liegt mit 5,1 Prozent für Frauen (2012) leicht unter dem Wert für Männer (5,8 Prozent) und ist seit 2009, als 7,1 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter arbeitslos waren, deutlich gesunken.
Eklatante Unterschiede bestehen beim Einkommen. Mit einem Durchschnittseinkommen von 18 300 Euro im Jahr verdienen Frauen laut Gender Gap Report über ein Drittel weniger als Männer (29 700 Euro). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Frauen oft in so genannten „Niedriglohn-Ghettos“ wie dem Gesundheits- und Bildungswesen arbeiten. Auch ist es russischen Frauen oft schon gesetzlich verwehrt, in Männerdomänen vorzudringen: Eine staatliche Liste nennt mehr als 450 Berufe, die von Frauen nicht ausgeübt werden dürfen, darunter Schornsteinfeger, Schmied oder U-Bahn-Führer.
Auch wenn viele Russinnen heute durch eine gute Ausbildung bessere Karrierechancen haben, sehen sie sich mit starren Rollenbildern und damit verbundenen Erwartungen konfrontiert. Dazu gehören die unter Putin propagierten „traditionellen“ Werte, wie sie die russisch-orthodoxe Kirche vertritt. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., bezeichnete im April 2013 den Feminismus als „gefährliches Phänomen“. Frauen sollten sich vor allem auf Familie und Kinder konzentrieren. Die Kirche wendet sich auch scharf gegen Abtreibungen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion rückläufig sind: Lag die Zahl der Abtreibungen pro Lebendgeburt im Jahr 1992 noch bei mehr als 2,6, ist dieser Wert bis ins Jahr 2012 auf 0,5 gesunken (siehe auch „Demografie“, S. 24 ff.).
Ein großes Problem ist das erschreckende Ausmaß häuslicher Gewalt gegen Frauen in Russland: Laut Innenministerium werden jährlich 14 000 Russinnen von ihrem Ehemann oder einem anderen Verwandten getötet. Gewalt komme in mindestens jeder vierten Familie vor. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer familiärer Gewalttaten noch um einiges höher liegen. Mehrere Studien legen nahe, dass etwa 70 Prozent der Frauen keine Hilfe bei staatlichen Stellen suchen, wenn sie häusliche Gewalt erfahren. Das verwundert angesichts der russischen Gesetzgebung nicht: Trotz verschiedener Anläufe gibt es in Russland bis heute kein Gesetz, das häusliche Gewalt definieren und unter Strafe stellen würde.


Infrastruktur

Russland hat enormen Aufholbedarf, will es sein Transportsystem wettbewerbsfähig machen. Korruption, fehlende Koordinierung und die schiere Größe des Landes sind dabei wesentlichste Hindernisse. Die Verluste für Russlands Wirtschaftsleistung durch schlechte Infrastruktur beziffert das russische Verkehrsministerium laut Nachrichtenagentur Reuters auf 7 bis 9 Prozent des BIP pro Jahr.
Das Straßennetz weist vor allem in den zentralen und östlichen Gebieten des Landes große Mängel auf. Schon zu Sowjetzeiten waren befestigte Straßen in einem schlechten Zustand. Die Straßendichte ist mit nur 40 Metern pro Qua­dratkilometer im internationalen Vergleich bis heute sehr gering, die Qualität der Straßen lässt vielerorts zu wünschen übrig, gerade in abgeschiedeneren Gegenden. Nur etwa ein Drittel aller ländlichen Siedlungen sind an das befestigte nationale Straßennetz angebunden. Zu den wenigen tatsächlich fertiggestellten Vorzeigeprojekten gehört die 2003 vollendete „Transkontinentale“, die erste saisonal durchgängig nutzbare Verbindung zwischen Ostsee und Pazifik.
Auch mangelt es an Verkehrsstandards und deren Durchsetzung; die Zahl der Verkehrstoten in Russland ist fünfmal so hoch wie in manchen EU-Ländern. Beschädigte Straßen werden nicht erneuert, die Verkehrspolizei ist unterbesetzt. Auch Trunkenheit am Steuer ist ein großes Problem. In den Metropolen nimmt die Verkehrsdichte immer weiter zu, das öffentliche Bussystem ist veraltet und schlecht koordiniert und trägt deshalb auch nicht zur Entlastung bei. Da es Jahr für Jahr mehr Pkws auf russischen Straßen gibt – heute besitzen doppelt so viele Menschen ein eigenes Auto wie noch im Jahr 2000 – sind mittlerweile auch 40 Prozent der gesamten CO2-Emissionen auf den Straßenverkehr zurückzuführen. Großstädte, allen voran Moskau und St. Petersburg, leiden unter überlasteten Straßen, langen Pendelzeiten und der damit verbundenen Luftverschmutzung.

Schiene, Luft und Wasser
Das Bahnnetz ist mit ungefähr 85 000 Kilometern nach dem der USA das zweitlängste der Welt. Aufgrund seiner enormen Größe liegt Russland aber dennoch im Bereich der Netzdichte mit nur fünf Metern pro Quadratkilometer auf den hinteren Rängen (zum Vergleich: Deutschland weist 117 Meter pro Quadratkilometer auf). Durch die Monopolstellung des staatlichen Bahnunternehmens Russische Eisenbahnen (RZD) wird die Wettbewerbsfähigkeit russischer Logistik gebremst. Einige private Unternehmer haben wiederholt versucht, den RZD Konkurrenz zu machen – ohne Erfolg, da nur die RZD die Erlaubnis haben, Lokomotiven zu betreiben und somit jeden Mitbewerber ausmanövrieren können. Trotz mehrmaliger Strafzahlungen, die die föderale Anti-Monopol-Behörde gegen die RZD verhängt hat, ließ sich bis heute das Monopol im Güterverkehr nicht brechen. Der Personenverkehr wird ebenfalls von einem einzigen Unternehmen kontrolliert, der RZD-Tochter FPK. Dass heute weniger Güter per Bahn transportiert werden als zu Sowjetzeiten, zeigt: eine Neustrukturierung des Bahnsektors ist dringend notwendig.
Obgleich kleinere Provinzflughäfen geschlossen wurden, wächst das Personenaufkommen im Luftverkehr: Das Wirtschaftsministerium rechnet bis Ende 2014 mit einem Anstieg von 30 bis 40 Prozent. Darüber hinaus plant die Regierung bis 2015 weitere Investitionen im Wert von insgesamt vier Milliarden Euro. Allerdings krankt der Luftverkehr an überteuerten Flughafendienstleistungen wie Betanken und technischem Service. Das lässt die Flugpreise steigen und ist ein Hauptgrund für das Fehlen von Billigfluganbietern.
Russische Seehäfen sind gut ausgebaut, ihre aktuelle Kapazität übersteigt schon heute den mittelfristigen Bedarf. Eine effiziente Nutzung der Häfen krankt vor allem an der schlechten Straßen- und Schienenanbindung. Außerdem müssten sie mit modernen Containerterminals ausgestattet werden, um eine zügige und sichere Abwicklung des Be- und Entladens zu ermöglichen. Eigentlich kann sich Russland, einer der größten Exporteure von Getreide und Kohle weltweit, ein weiteres Aufschieben der Modernisierung in diesem Bereich kaum leisten.
Will Russland weiterhin wirtschaftlich wachsen, wären größere Investitionen für Infrastruktur mehr als notwendig – was die Regierung auch erkannt hat. Sie will bis 2030 insgesamt 125 Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte ausgeben. Fraglich ist, ob die geplanten Maßnahmen auch in die Tat umgesetzt werden und ob sie ausreichend sind. Sportliche Groß­ereignisse wie die Olympischen Winterspiele 2014 oder die Fußballweltmeisterschaft 2018 wirken dabei oft nur lokal: In Sotschi wurden 23 Milliarden Euro investiert, für die WM 2018 sind 15 Milliarden veranschlagt, die aber meistens an anderer Stelle eingespart werden – zumal das größte Hindernis für einen effizienten Ausbau der Infrastruktur die Korruption ist. Schätzungen zufolge werden 30 bis 40 Prozent der Kosten von Infrastrukturprojekten durch Korruption verursacht. Ein weiteres Großprojekt ist die Halbinsel Krim, für deren wirtschaftliche Entwicklung bis 2020 rund 20 Milliarden Euro eingeplant sind. Für eine flächendeckende und nachhaltige Verbesserung der dortigen maroden Infrastruktur müsste aber deutlich mehr aufgewendet werden.


Innovationsfähigkeit

2010 hätte ein Jubeljahr für die russische Wissenschaft sein können: Mit Konstantin Nowoselow und Andre Geim gewannen zwei russische Forscher den Nobelpreis für Physik. Was die russische Regierung bei ihren Lobliedern allerdings außer Acht ließ: Beide Wissenschaftler arbeiten seit 2001 an der University of Manchester, Geim besitzt die britische und holländische Staatsbürgerschaft. Von den drei anderen russischen Nobelpreisträgern seit 1990 (Schores Alfjorow, Alexei Abrikossow und Vitali Ginsburg; alle Physik) forscht allein Ginzburg an der Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Die Abwanderung von Wissenschaftlern und hoffnungsvollem Nachwuchs ist eines der größten Probleme, mit dem die russische Wissenschaft seit dem Zerfall der Sowjetunion zu kämpfen hat. Zu den Gründen gehören die vergleichsweise schlechte Bezahlung, fehlende Infrastruktur sowie mäßig ausgestattete Institute. Wurden Ende der achtziger Jahre noch über 2 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgegeben, waren es 2011 nur noch 1,12 Prozent (der OECD-Durchschnitt liegt bei 2,33 Prozent). 1991 gab es in Russland noch weit über 4000 Forschungsinstitute, Universitäten oder Betriebe, die sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigten, heute hat sich deren Anzahl um mindestens ein Zehntel verringert.
Einige der Schwierigkeiten im Forschungs- und Entwicklungssektor rühren von den verkrusteten Strukturen der sowjetischen Wissenschaft, die im Nachfolgestaat Russland bestehen blieben, her. Die Forschung in der Sowjetunion war stark zentralisiert und ruhte auf drei Säulen: Forschung an Universitäten, in militärisch-industriellen Einrichtungen und vor allem an der Akademie der Wissenschaften, die mit über 450 Instituten das Zentrum sowjetischer Wissenschaft war. Die Einrichtungen waren jeweils spezialisierten Ministerien unterstellt, unabhängige, industrielle Forschung fand kaum statt. Und auch heute haben Unternehmen nur selten eigene Forschungs- und Innovationszentren. Gut zwei Drittel der Forschungsinstitute werden vom Staat betrieben, sie beschäftigen 78 Prozent des gesamten Forschungspersonals. Aufstiegschancen für junge Akademiker gibt es dabei nur wenige. Die Forschung in Russland überaltert, mittlerweile liegt der Anteil an Nachwuchswissenschaftlern nur noch bei 13 Prozent.
Auch bei der Finanzierung von Forschung und Entwicklung spielt die Wirtschaft nur eine untergeordnete Rolle. Entgegen dem Trend innerhalb der OECD werden 60 Prozent der Forschungsgelder von der russischen Regierung aufgebracht; im OECD-Durchschnitt stammen dagegen über 60 Prozent der Forschungsfinanzierung heute von der Privatwirtschaft, in China gar 70 Prozent. Auch andere Zahlen geben zu denken. So investieren gerade einmal ein Zehntel russischer Firmen in technologische Innovationen (in Deutschland sind es beispielsweise über 60 Prozent). Als Gründe dafür werden die hohen Kosten von Forschung und Entwicklung, fehlende finanzielle Unterstützung durch die Regierung, aber auch eine exzessive Bürokratie genannt. Selbst riesige Unternehmen wie Gazprom oder Lukoil, die zukünftig in hohem Maße auf Innovationen angewiesen sein werden, investieren weniger als 2 Prozent ihrer Gewinne in Forschung und Entwicklung.
Dennoch hat Russland das Potenzial, um in der Wissenschaft international wieder aufzuschließen. Die Studienabschlussrate liegt bei unglaublichen 53 Prozent – einer Zahl, von der andere OECD-Staaten nur träumen können (der OECD-Durchschnitt liegt bei 38 Prozent). Über die Hälfte der Russen im Alter von 25 bis 64 Jahren hat einen Studienabschluss, 40,7 Prozent gehen einer wissensintensiven Arbeit nach. Ein Viertel der Universitätsabschlüsse wird in den Ingenieurs- oder Naturwissenschaften gemacht. Und trotz der sinkenden Beschäftigungsrate von Forschern beschäftigt Russland mehr ­Wissenschaftler als alle anderen Staaten. In der Anzahl der beim US Patent Office (USPTO) angemeldeten Patente spiegelt sich das jedoch nicht wider: Unter den BRICS- Staaten liegt Russland weit hinter China und sogar noch hinter Indien.
Die russische Regierung hat die Förderung von Wissenschaft und Technologie zu einer ihrer Hauptprioritäten der Regierungsjahre bis 2017 erklärt. Das übergeordnete Ziel dabei ist, in die Spitzenklasse der internationalen Wissenschaft zurückzukehren. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sollen bis 2016 auf 1,9 Prozent und bis 2020 gar auf 3 Prozent des BIP steigen, 30 weitere Industrie- und Technologieparks sollen errichtet, das Durchschnittsalter in der Forschung gesenkt und akademische Gehälter stark angehoben werden – Maßnahmen, um Forscherkarrieren in Russland attraktiver zu machen und den Braindrain wenn möglich umzukehren. Das Augenmerk bei der Förderung von Forschung und Entwicklung liegt dabei traditionell auf den Naturwissenschaften – Physik, Chemie, Nukleartechnologien, Raumfahrt, Nanoindustrie und insgesamt vor allem beim Rüstungssektor.
Das prestigeträchtigste Projekt vor allem von Ministerpräsident Dmitri Medwedew ist ein Forschungs- und Wissenschaftskomplex, der als das neue, das russische „Silicon Valley“ angepriesen wird: Skolkowo, vor den Toren Moskaus gelegen, soll 30 000 bis 40 000 Forschern in den Bereichen Energie, Informationstechnologie, Telekommunikation, Biomedizin und Kerntechnik eine Heimat bieten. Einige große internationale Unternehmen haben ihre Unterstützung angekündigt, darunter Siemens, Nokia, Microsoft und Boeing. Nötig ist für Russland ein solches Zentrum in jedem Fall. Denn wie die russische Agentur für internationale Information feststellt: „Ohne sofortige Maßnahmen zur Nachwuchsförderung wird Russland zum Schlusslicht in den Wissenschaften.“


Investitionsklima

Im vergangenen Jahrzehnt galt Russland noch als attraktives Ziel für Auslands­investitionen; inzwischen erlebte das Land aber einen jähen Absturz. Im jüngsten Foreign Direct Investment Confidence Index der Unternehmensberatung AT Kearney fiel es im Juni 2014 aus dem „Top 25“-Ranking; im Vorjahr hatte es noch vor Frankreich auf Platz 11 rangiert. Dabei fand die Erhebung vor der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim statt; der Absturz war eher eine Folge der schon 2013 sichtbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Eigentlich sollte der Beitritt Russlands zur WTO 2012 Investitionshindernisse weiter abbauen; bei einer Umfrage der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer konnten aber nur 7 Prozent der befragten deutschen Unternehmen, die in Russland investieren, Fortschritte erkennen. Weiterhin beklagen Investoren mangelnden Schutz des Eigentums und fehlende Rechtssicherheit. Die Bürokratie ziehe Deals in die Länge, das Regelsystem sei intransparent, man sei oft mit undurchsichtigen Zusatzgebühren und Sonderzöllen konfrontiert. Einheimische Anbieter würden klar bevorzugt, auch wenn sie preislich und qualitativ nicht konkurrenzfähig seien. So unterliegen ausländische pharmazeutische Produkte und Medizintechnik Zulassungen und Prüfungen, von denen inländische Produzenten ausgenommen sind.
Russlands Protektionismus folgt der Grundregel: Wer mitverdienen will, soll Werke bauen oder kaufen und Arbeitsplätze schaffen. Allerdings konzentrieren sich Direktinvestitionen auf wenige Regionen; etwa die Hälfte fließt nach Moskau und St. Petersburg. Zudem verzerrt das Offshoring der russischen Wirtschaft insgesamt massiv die Statistiken: So war 2012 Zypern mit 30 Prozent wichtigster Direktinvestor in Russland – faktisch wird also russisches Kapital reinvestiert –, Investitionen aus Deutschland machen 4 Prozent aus und spielen insgesamt eine untergeordnete Rolle. Wenige Großprojekte wie das von Siemens bei den Russischen Eisenbahnen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Unternehmen vom schwierigen Investitionsumfeld abgeschreckt sind.
Mit der Krim-Annexion hat sich Russlands Bild weiter verdüstert. Die Ratingagenturen Standard & Poor’s und Fitch stuften das Land herunter: Stabile wirtschaftliche Aussichten seien nicht gegeben. „Geopolitische Risiken“ halten nicht nur Investoren ab, sondern haben auch eine Kapitalflucht zur Folge. In den ersten drei Monaten 2014 wurden an die 70 Milliarden Dollar aus Russland abgezogen – mehr als im gesamten Jahr 2013.


Klima und Umwelt

Als flächenmäßig größtes Land der Erde erstreckt sich Russland auf nahezu alle Klimazonen, vom subtropischen Mittelmeerklima an der Schwarzmeerküste über kühl-gemäßigtes Klima im europäischen Russland bis hin zur Polarzone und hat eine landschaftliche Vielfalt, die ausgedehntes Flachland, Tundra und riesige Nadelwälder sowie Gebirge mit den höchsten Bergen Europas umfasst. 65 Prozent des Territoriums sind unberührte Natur, die Bevölkerungsdichte beträgt gerade mal 8,73 Einwohner pro Quadratkilometer (2011), in Sibirien zum Teil sogar nur 0,03 Einwohner pro Quadratkilometer (zum Vergleich: Deutschland hat eine Bevölkerungsdichte von 81,89 Einwohner pro Quadratkilometer). Zehn Gebiete Russlands gehören zum Weltkulturerbe, darunter der Westkaukasus und der Baikalsee. Letzterer spielt als größtes Süßwasserreservoir der Welt eine herausragende Rolle: Im ältesten und tiefsten See der Erde sammeln sich 20 Prozent der globalen Süßwasservorkommen.
Da die Wirtschaft vornehmlich von der Förderung und Verarbeitung der Rohstoffvorkommen abhängt, hat Russland mit schwerwiegenden Umwelt­problemen zu kämpfen. Besonders die oft an den Stadträndern angesiedelte Schwerindustrie wirkt sich unmittelbar auf die Bevölkerung aus: Viele Menschen leiden unter hoher oder extrem hoher Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung durch die Industrie. Darüber hinaus haben Schwerindustrie, kohlebetriebene Kraftwerke und das wachsende Verkehrsaufkommen in den Städten Russland unter die vier größten CO2-Emittenten der Welt katapultiert. Das Land ist für 4,9 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Als Erbe der Sowjetunion sind zudem manche Gebiete stark radioaktiv verseucht. So nutzte man den Karatschai-See im südlichen Ural nahe Jekaterinburg als Lager für radioaktiven Müll; dessen Umgebung zählt heute zu den giftigsten Arealen der Welt.
Staatliche Programme, um den Folgen der Umweltverschmutzung entgegenzuwirken, gibt es zwar, doch diese sind zumeist unzureichend und eher an wirtschaftlichen Interessen orientiert. So sollen zwar die Gewässer geschützt, gleichzeitig aber ausreichend Wasser für die Bevölkerung und vor allem für die Entwicklung der Industrie, Energiegewinnung, Fischerei und Landwirtschaft bereitgestellt werden. Bei der Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls 1997 verpflichtete sich Russland lediglich, die Menge an CO2-Emissionen von 1990 nicht zu erhöhen. Dieses Ziel war allerdings sehr niedrig gesteckt, da in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion viele Fabriken geschlossen wurden und damit auch die CO2-Emissionen erheblich sanken. Trotzdem zögerte Russland die Ratifizierung noch bis 2004 hinaus und entschied sich gegen eine Teilnahme an der zweiten Verpflichtungsperiode ab 2013. 2009 kündigte Ministerpräsident Medwedew an, dass Russland sich den Zielen der EU anschließe und seine Emissionen bis 2020 um 20 bis 25 Prozent gegenüber denen von 1990 senken wolle, was allerdings kein sehr ambitioniertes Ziel ist. Bedenklich ist auch, dass die russischen Emissionen seit 1999 tendenziell wieder ansteigen und 2010 sogar den höchsten Wert seit 1994 erreichten.
Umweltbewusstsein ist in Russland allerdings nicht sehr ausgeprägt, wie zuletzt bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi deutlich wurde. Schon die Wahl des Kurorts an der Schwarzmeerküste, der mit seinen milden Temperaturen für Winterspiele kaum geeignet war, sprach Bände für die „grünen Spiele“. Die Ski-, Rodel- und Bob-Anlagen wurden zudem mitten in den Sotschi-Nationalpark gebaut, der zum „Weltkulturerbe Westkaukasus“ gehört. Der Fluss Mzymta wurde umgelenkt, um einer Schnellstraße zu weichen, 10 000 Hektar des seltenen Baumbestands wurden gerodet.


Medien und Internet

„Jedem wird die Freiheit des Gedankens und des Wortes garantiert“, sichert Artikel 29 der russischen Verfassung jedem Bürger zu. Die Realität sieht allerdings anders aus. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ platziert Russland im Pressefreiheits-Ranking 2013/14 auf Platz 148 von 180. Das International Press Institute zählt seit 1997 mindestens 62 getötete Journalisten und eine noch weit höhere Anzahl aus politischen Gründen entlassener Zeitungs- oder Rundfunkmitarbeiter. Der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja von 2006, die für Nowaja Gaseta arbeitete, eine der wenigen unabhängigen Zeitungen, ist nur das bekannteste Beispiel für das repressive Medienklima Russlands, das sich auch auf das Internet erstreckt: Laut der amerikanischen Organisation Freedom House stieg die Zahl blockierter, vom russischen Justizministerium als extremistisch klassifizierten Webseiten zwischen Januar 2012 und Februar 2013 um 60 Prozent. Dies sei, so der populäre Blogger Anton Nosik, ein Versuch, Putin-kritisches Material im Netz verschwinden zu lassen. Im Zuge der Krim-Annexion verschärfte der Kreml noch einmal seine Repressionen gegen regierungskritische Stimmen.
Die Rechtsgrundlage für die Zensur und Medienkontrolle bilden unter anderem Gesetze zum Schutz von Staatsgeheimnissen. Seit 2007 gibt es zudem „Roskomnadsor“, die nationale „Aufsichtsbehörde für Massenmedien, Kommunikation und Schutz des kulturellen Erbes“, die direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt ist. „Roskomnadsor“ überwacht sämtliche Medien, vergibt Lizenzen und führt eine Datenbank, anhand derer sie die Internetnutzung einzelner Bürger überwachen kann.
Nowaja Gaseta (Auflage: 272 000), die dem ehemaligen Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow und dem auch im britischen Medienmarkt aktiven ­Oligarchen Alexander Lebedew gehört, leidet immer wieder unter der Repression von „Roskomnadsor“, die wiederholt mit dem Entzug der Drucklizenz drohte. So wurde das Blatt beispielsweise 2010 unter dem Vorwurf der Verbreitung extremistischer Propaganda angeklagt, da es in einem Artikel das Programm einer Neonazi-Organisation zitiert hatte.
„Roskomnadsor“ zufolge sind in Russland 28 449 Zeitungen, 5254 TV-Sender und 3769 Radiosender gemeldet, wovon die meisten, vor allem große Zeitungen und Fernsehsender, unter staatlicher Kontrolle stehen. Die größte Tageszeitung Rossijskaja Gaseta (Auflage: 432 000) ist ein Verlautbarungsblatt der Regierung. Erst mit der Veröffentlichung in der Rossijskaya treten Gesetze und Erlasse in Kraft. Neben vielen weiteren halbstaatlichen Konzernen besitzt auch Gazprom eine ganze Reihe von Fernseh- und Radiosendern sowie Zeitungen, darunter auch den weitgehend unabhängigen Fernsehsender NTW, der 1993 von dem Oligarchen Wladimir Gussinskij gegründet wurde. 2001 übernahm Gazprom NTW, seitdem unterstehen dessen Journalisten der staatlichen Zensur. Die TV-Nachrichten, für 95 Prozent der Bevölkerung erste Informationsquelle, folgen stets dem gleichen Muster und zeigen lediglich Bilder des Präsidenten und Ministerpräsidenten und deren Termine. „Meine Fernsehkollegen arbeiten für die Regierung. Das ist kein Journalismus, das ist Propaganda“, sagte Elena Milashina, eine investigative Journalistin der Nowaja Gaseta, schon 2011 in einem Interview mit dem niederländischen Rundfunk.
Die russischen Internetnutzer sind große Anhänger sozialer Netzwerke: Laut einer Erhebung des Online-Marktforschungsunternehmens ComScore vom Sommer 2013 waren dort 56 Millionen Russen (oder 85 Prozent der russischen Internetsurfer) aktiv, vor allem in den heimischen Netzwerken VKontakte und Odnoklassinski, deren Nutzer durchschnittlich 368,4 und 306,7 Minuten im Monat auf diesen Seiten verbringen – weit länger als auf Facebook (30,2 Minuten). Insgesamt 9,8 Stunden pro Monat verbringen russische Internetnutzer auf sozialen Plattformen, doppelt so lang wie der weltweite Schnitt. Insgesamt ist der russische Internetmarkt einer der am stärksten wachsende weltweit, den bislang heimische Anbieter dominieren. Unter den beliebtesten Seiten finden sich nur wenige internationale Unternehmen, darunter Google und Microsoft. Die größte Plattform mit monatlich 34,9 Millionen Besuchern ist das russische Suchportal Yandex.
Da Russland nach dem Zusammenbruch des staatlich finanzierten Sowjetkinos nur über eine verhältnismäßig kleine Film- und Fernsehproduktion verfügt, importiert es vor allem Kino-Blockbuster aus den USA und Soaps aus Lateinamerika. Nach Angaben des Fachblatts Variety dominiert Hollywood den Kinomarkt (Einnahmen 2012: 1,24 Milliarden Dollar), der Anteil russischer Filme macht nur 15 Prozent aus. Auch hier griff der Kreml direkt ein und setzte 2013 seinen Vertrauensmann Anton Malischew als Direktor des russischen Cinemafonds ein mit dem Auftrag, statt „sozial wertvolle“ nunmehr stärker kommerziell erfolgreiche Filme zu fördern. Dafür sollen die zur Verfügung stehenden Fördermittel bis 2017 auf umgerechnet 181 Millionen Dollar verdoppelt werden.


Migration

Um beim Bevölkerungsrückgang, der zur Jahrtausendwende noch drohte (siehe auch „Demografie“, S. 24 ff.), gegenzusteuern, förderte Russland in den vergangenen Jahren die Einwanderung – zunächst vor allem die so genannte „ethnische Rückwanderung“. Seit 1991 zogen über fünf Millionen Russen aus den Ländern der früheren Sowjetunion in die Russische Föderation, vor allem aus Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan. 1994 erreichte die ethnische Rückwanderung mit 1,2 Millionen Menschen ihren Höhepunkt und sank danach ab. Rückkehrer wurden mit Unterstützung bei der Wohnungssuche und finanziellen Starthilfen gelockt. Allerdings nahmen oft alleinerziehende Mütter und alte Menschen beziehungsweise solche mit geringem Ausbildungsgrad die Programme in Anspruch.
An einfachen Arbeitskräften mangelt es Russland jedoch kaum. Gegenwärtig sind große Wanderströme aus den GUS-Staaten und dem Kaukasus nach Russland zu verzeichnen. Fast 95 Prozent aller Arbeitsmigranten in Russland kommen heute aus den Nachbarstaaten. Russland ist auf diese Arbeitskräfte zwar angewiesen, doch sehen sich Migranten, vor allem Kaukasen, in Russland mit Ablehnung und Fremdenhass und nicht zuletzt auch mit zahlreichen bürokratischen Hürden und Einschränkungen konfrontiert. So können Arbeitsimmigranten zwar ohne Visumspflicht nach Russland einreisen, das Aufenthaltsregistrierungssystem „registratsia“ schreibt jedoch vor, dass sich jeder Ausländer innerhalb von drei Tagen in seinem Ankunftsort bei einem Regionalbüro des Föderationsmigrationsdienstes melden muss.
Im Zuge der Einwanderungsliberalisierung wurde das Prozedere 2007 vereinfacht, trotzdem ist es für viele Migranten noch zu kompliziert und führt dazu, dass die Mehrheit der Menschen in der Schattenwirtschaft tätig wird. Als Schwarzarbeiter können sie ihre Rechte als Arbeitnehmer vor Gericht nicht einklagen und werden oft in Form von unvollständigen Lohnauszahlungen oder Zwangsarbeit ausgebeutet. Einer Analyse der Bundeszentrale für Politische Bildung zufolge verfügen nur etwa 40 Prozent der Einwanderer über einen Arbeitsvertrag, zwei Drittel von ihnen sind unterqualifiziert beschäftigt, vor allem in der Bau- und der Landwirtschaft. Wie groß ihre Zahl insgesamt ist, ist unklar; das staatliche Statistikamt Rosstat rechnet bis 2030 mit 7,6 Millionen Migranten.
Immerhin haben seit der Novellierung mehr als 1,2 Millionen Einwanderer Arbeitsgenehmigungen erhalten. Das waren doppelt so viele wie vor dem Wechsel. Insgesamt ging die Zahl der illegal Beschäftigten von 53 Prozent auf 20 bis 25 Prozent zurück. Fremdenfeindliche Einstellungen sind aber weiterhin verbreitet. Eine landesweite Befragung des Lewada-Zentrums ergab 2009, dass 54 Prozent der Aussage „Russland den Russen“ zustimmen, während nur 32 Prozent die Parole ablehnen. Rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten und gar Ausschreitungen wie die im Moskauer Bezirk Birjuljowo im Oktober 2013 reißen nicht ab.
Dennoch greift die liberalere Einwanderungspolitik insofern, als dass sie die demografische Entwicklung wieder umgekehrt hat. Nach Schätzungen der UN beläuft sich die Nettomigration auf fast 2,3 Millionen Einwanderer jährlich. Allerdings sieht sich Russland weiterhin mit der Abwanderung vieler Tausend – oft gut qualifizierter – Arbeitskräfte konfrontiert, die es vor allem in die USA, nach Deutschland, Zypern und in die Niederlande zieht.


Mittelschicht

Seit Wladimir Putin 2000 erstmals ins Präsidentenamt kam, hat sich die relative Größe der Mittelschicht zur Gesamtbevölkerung laut Weltbank verdoppelt: Schon 2010 lag sie bei 60 Prozent. Daran gemessen hat Russland nach Belarus in Osteuropa, Zentralasien und auch unter den Schwellenländern die größte Mittelschicht. Die Hauptgründe für das Anwachsen des Pro-Kopf-Verbrauchs, an dem diese Zahlen festgemacht sind, sind vor allem höhere Löhne und Renten und eine staatliche Umverteilungspolitik von Rohstoffexporteinnahmen, die auch die Auswirkungen der Finanzkrise auf die russische Mittelschicht abfederte.
Dabei besteht ein großer Unterschied zwischen der Mittelschicht in Metropolen wie Moskau und St. Petersburg und der in ländlicheren Regionen. In den großen Städten zeichnet sich die Mittelschicht durch Mobilität, hohe Bildung, oft liberale Ansichten und eine staatsferne Beschäftigung aus. Diese Schicht ist oft kremlkritisch, was sich in Protesten gegen Putin vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen im Winter 2011/12 zeigte. Hier wurden ein „Russland ohne Putin“, mehr Transparenz, mehr Mitspracherecht und eine offenere Gesellschaft gefordert. In Kontrast dazu steht die Mittelschicht in der Provinz: Ihre Vertreter sind in kleineren und mittleren Unternehmen zu finden, vor allem aber unter den Beamten. Dies führt dazu, dass diese Schicht patriotisch und oft auch nationalistisch eingestellt ist. Putin wird von ihr nicht nur als politische, sondern auch als moralische Führungsfigur gesehen, der man loyal verbunden ist.
Durch den hohen Anteil Beamter wird ein erheblicher Teil der Mittelschicht durch Staatsmittel finanziert. Dazu gehören die Staatsbediensteten, die direkt aus staatlichen Mitteln bezahlt werden, aber auch jene, die indirekt aus öffentlichen Kassen bezahlt werden. Dazu gehören Angestellte staatseigener Betriebe bzw. solcher Unternehmen, die ohne staatliche Subventionen nicht überlebensfähig wären. Insgesamt wird ein Drittel aller Löhne der Mittelklasse direkt vom Staat gezahlt. Dies senkt die Produktivität Russlands im internationalen Vergleich. Eine hauptsächlich aus dem öffentlichen Sektor heraus wachsende Mittelschicht birgt ein enormes Risiko. Sollte die Regierung nicht mehr fähig sein, diese finanzielle Leistung bereitzustellen, könnte das Land in eine umfassende Krise geraten. Auch die schon erwähnten gestiegenen Löhne und Renten sind zu einem Großteil auf staatliche Unterstützung zurückzuführen.
Der Staat wird die nötigen Mittel nur so lange aufwenden können, wie sich die russische Wirtschaft positiv entwickelt – beziehungsweise die Erträge aus den Energieexporten, an die die Zahlungsfähigkeit des Staates und der Wohlstand der neuen Mittelschicht gekoppelt sind. Um die Mittelschicht langfristig wirtschaftlich zu festigen, müssten strukturelle Probleme beseitigt werden, vor allem durch die Förderung von Arbeitsmobilität und die Umsiedlung von Unternehmen in besser angeschlossene Regionen sowie ein Abschied von den massiven staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft. Dafür wäre ein Umdenken in der russischen Führung nötig. Bis dahin bleibt die Wirtschaftslage verzerrt; sie spiegelt eine Sicherheit vor, die nicht existiert.


Silowiki

„Ich kann doch nur die einstellen, die ich kenne“, soll Wladimir Putin einmal gesagt haben. Wie unter ihm – und manchmal auch direkt zu seinen Gunsten – der russische Staat um Millionen geprellt wird, deckte jüngst ein Reporterteam der Nachrichtenagentur Reuters exemplarisch auf: Für eine Verbesserung der medizinischen Infrastruktur in abgeschiedenen Gegenden Russlands wurden etwa 200 Millionen Dollar für Krankenhausausstattungen bereitgestellt. Der Kreml vergab den Beschaffungsauftrag an die Firma Petromed, ein Unternehmen, das Putins Bekanntem Dmitri Gorelow gehört, der wiederum die in Großbritannien ansässige Drittfirma Greathill mit dem Kauf der medizinischen Geräte beauftragte. Bei dem Volumen des Auftrags ist das nicht ungewöhnlich. Allerdings: Greathill gehört neben Nikolai Schamalow, einem Großaktionär der Rossja Bank, ebenfalls Gorelow. Sie ist lediglich eine Briefkastenfirma. Kenner der Branche vermuten, dass Greathill die Geräte unter anderem von der Siemens AG erwarb und für die doppelte Summe an Petromed verkaufte. Den Gewinn aus dem Geschäft überwies Greathill an eine Firma in Südamerika, die wiederum einen Teil davon in ein Anwesen am Schwarzen Meer investierte – das aller Wahrscheinlichkeit nach Putin gehört.
Von Geschäften dieser Art profitiert vor allem die Gruppe der „Silowiki“: Spitzenbeamte des Innenministeriums, Führungskräfte des Geheimdiensts und Vorsitzende staatlicher Großkonzerne – Männer, die Putin oft lange kennt. Sie fungieren in einem System der Verkettung zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und staatlicher Zuständigkeit. „Silowiki“ leitet sich vom Begriff „silowje strukturi“ ab, unter dem Verteidigungs- und Streitkräfte, Strafverfolgungsbehörden und der Geheimdienst zusammengefasst werden können.
Dabei wird diese Definition den Silowiki oft nicht gerecht. Obwohl viele dieser Vertrauten Putins aus St. Petersburg stammen und eine ähnliche Karriere wie der Ex-KGBler Putin vorweisen können, verbindet sie mehr: Der informelle Zusammenschluss aus Staatsbeamten und Geschäftsleuten teilt dieselben politischen Einstellungen und wirtschaftlichen Interessen. „Stabilität“ ist ihnen wichtiger als demokratische Prozesse. Ein starker Staat soll die Wirtschaft des Landes regulieren und strategisch wichtige Sektoren verantworten; nationale Produktionen sollen den Kräften der Globalisierung nicht ausgesetzt werden.
Zu den Silowiki gehört beispielsweise Igor Setschin, Vorstandsvorsitzender des staatlichen Mineralölkonzerns Rosneft (siehe auch „Wer bewegt Russlands Wirtschaft?“, S. 54 ff.). Bei der Zerschlagung des Jukos-Konzerns – der dem nach zehnjähriger Lagerhaft entlassenen und mittlerweile in der Schweiz lebenden Oligarchen Michail Chodorkowski gehörte – spielte Setschin gemeinsam mit Wladimir Dmitrijew, dem Vorstand der Vneshekonom Bank, eine zentrale Rolle: Bei der Versteigerung der zu Jukos gehörenden Ölförderungs­firma Yuganskneftegaz bot Rosneft 9,3 Milliarden Dollar, obwohl niemand erklären konnte, wie so viel Geld plötzlich aufgebracht werden sollte. Wie sich herausstellte, gewährte die Vneshekonom Bank diese Summe als Kredit. Aufsichtsratsvorsitzender der Bank: Wladimir Putin.
Die Silowiki, zu denen auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu, Vizepremier Dmitri Rogosin und der Chef der Präsidialverwaltung, Sergei Iwanow gezählt werden, pflegen intensiven Kontakt untereinander und besetzen Schlüsselpositionen in Ministerien, Staatsunternehmen und privaten Firmen mit ihren Vertrauten. Ihr Einfluss reicht damit weit über die Administration des Präsidenten hinaus: Sie vermitteln Spitzenpositionen beim Rüstungsexporteur Rosoboronexport oder bei Aeroflot. Hinzu kommen Kontakte bei Banken wie der Mezhprom Bank und Rossiya Bank. „Ein bedeutender Teil der Mannschaft Wladimir Putins will sich persönlich bereichern … Viel gefährlicher scheint mir jedoch, dass sich dieses Verhalten – mit wenigen Ausnahmen – auch in der Bürokratie und den Ordnungsstrukturen breitgemacht hat. Jeder Beamte, jeder Polizist meint, er dürfe sich auf Kosten der Bürger bereichern“, sagte Chodorkowski noch vor seiner Freilassung im schriftlichen Interview mit der taz im Mai 2013. „Korruption gibt es überall, aber nur wenige Regime erheben dieses Prinzip zum tragenden Element.“
 

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt Russland 2, Juli/August 2014, S. 20-43

Teilen