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01. Jan. 2015

Rückfall in den Totalitarismus

Das System Putin instrumentalisiert die Außenpolitik zum eigenen Erhalt

Nach wachsender Unzufriedenheit hat Wladimir Putin erst der russischen Zivilgesellschaft den Krieg erklärt und dann der Ukraine. Gerade der national-demokratische Charakter des Maidan-Umsturzes gefährdete sein Regime. Die massive Propaganda gegen äußere „Feinde“ fällt auf fruchtbaren Boden, doch Russlands Gesellschaft kommen erste Zweifel.

Wer die innere Lage Russlands begreifen will, mus sich mit der Entwicklung eines autoritären Regimes beschäftigen, dem „System Putin“. In Reaktion auf die zwangsläufig zum Vorschein tretenden (und durch eine ineffiziente Verwaltung verursachten) Probleme des Systems und auf wachsende soziale Unzufriedenheit in der Gesellschaft mobilisierte die Führung zum Kampf gegen äußere und innere „Feinde“.

Diese Unzufriedenheit war nicht neu. Schon in der Wirtschaftskrise von 2008/09 begann man an Putins Fähigkeit zu zweifeln, ein stetiges Wirtschafts- und Einkommenswachstum zu gewährleisten. Zwischen Anfang 2010 und Januar 2014 sank die Unterstützung für Russlands Führung, die aus ehemaligen Angehörigen des KGB besteht, kontinuierlich. Auch die Demonstrationen rund um die Präsidentschaftswahlen von 2012, die sich in steigendem Maße gegen den Präsidenten selbst richteten, waren Ausdruck dieser Unzufriedenheit.

Nostalgie für Sowjetzeiten

Die Gründe für den Ansehensverlust des Regimes unterscheiden sich je nach sozialem Milieu: In den zerfallenden Industrielandschaften der russischen Provinz kann man kaum Schritt halten mit den Anforderungen der Marktwirtschaft. Betroffen sind vor allem mittelgroße und kleinere Städte, die noch immer durch die sowjetische Wirtschaftsstruktur geprägt sind und in denen die Zulieferfirmen für den militärisch-industriellen Komplex beheimatet waren. In den vergangenen Jahren aber blieben Staatsaufträge aus, die Technologie ist rückständig und gut ausgebildete Fachkräfte wandern ab. Da auch die staatlichen Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungswesen oder städtische Infrastruktur gekürzt wurden, hegen nicht wenige Nostalgie für die alte Sowjetzeit. Noch schwieriger sind die Lebensumstände auf dem Land, besonders in den zentralen und nördlichen Regionen, die am meisten unter Abwanderung und Geburtenrückgang leiden. Dort lebt die alternde, sehr konservative ländliche Bevölkerung von den Überbleibseln der Kolchosenwirtschaft.

Der Bevölkerung in diesen Provinzen ist klar, dass die monoindustriellen Städte aus alten Sowjetzeiten nicht wettbewerbsfähig und der Marktwirtschaft nicht gewachsen sind. Ohne staatliche Unterstützung können sie nicht überleben. Deswegen ist diese Gruppe, die immerhin fast zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht, in ihrer Mehrheit gegen Reformen und Modernisierung; für Michail Gorbatschow, den Wirtschaftsreformer Jegor Gaidar oder Boris Jelzin hegen sie nur wenig Sympathien, und den Zusammenbruch der Sowjetunion halten sie für „künstlich“ herbeigeführt, nämlich durch eine Verschwörung des Westens. Begriffe wie Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung oder Menschenrechte sind negativ besetzt, weil sie mit der schwierigen Übergangszeit der neunziger Jahre und der radikalen Verschlechterung ihres Lebensstandards assoziiert werden.

Ganz andere Gründe hat die Unzufriedenheit mit der Regierung in den russischen Großstädten. Dort, insbesondere in Moskau, existiert eine marktwirtschaftliche Infrastruktur mit motivierten, dynamischen und hochqualifizierten Unternehmern, Arbeitern und Angestellten. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hat sich hier eine Mittelschicht herausgebildet, die in vielem der europäischen ähnelt, der aber ein höherer Anteil an Staatsbediensteten angehört und deren Wertesystem und Selbstverständnis sich von dem des europäischen Mittelstands unterscheidet. Das Einkommensniveau in den Großstädten ist zwei- bis zweieinhalb Mal höher als im Landesdurchschnitt und deshalb unterscheiden sich die Ansprüche dieser Bevölkerungsgruppen an das autoritäre Regime grundlegend von denen der Provinz.

Die politischen Forderungen der Großstadtbevölkerung kann man in drei Punkten zusammenfassen: Unabhängigkeit der Gerichte, ohne die der Schutz des Privateigentums sowie der kleinen und mittleren Unternehmen nicht zu gewährleisten ist; gerade sie leiden am meisten unter Korruption und Enteignungen. Faire und transparente Wahlen als Grundlage für die friedliche Transformation des autoritären Regimes, Kontrolle der Bürokratie und Rechenschaftspflicht der Regierung. Und schließlich Pressefreiheit, Aufhebung der Zensur sowie ein Ende des Informationsmonopols, das alle Medien zur Propagandamaschinerie verkommen lässt.

Im Kern lautet die Forderung an die Adresse der Machthaber, die Modernisierung des politischen und institutionellen Gefüges Russlands fortzusetzen. Zwar waren es letztlich die Wahlfälschungen, die bei den Parlamentswahlen 2011 den unmittelbaren Anstoß für die Massenproteste gaben; jedoch war man sich großenteils bewusst, dass Wahlmanipulationen aufs Engste mit anderen Schattenseiten des Putin-Systems verknüpft sind, wie ausufernde Korruption, Polizeiwillkür, Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive und „selektive Rechtsprechung“.

Das Regime Putin antwortete auf die Massenproteste mit einer Kriegserklärung an die Zivilgesellschaft. Nichtregierungsorganisationen wurden zu „ausländischen Agenten“ abgestempelt, die das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft untergraben würden. Gleichzeitig wurden mehrere internationale Institutionen aus Russland verdrängt, wie die Open Society Foundation von George Soros oder die Ford Foundation. Dies geschah unter dem ideologischen Deckmantel nationaler Sicherheitsinteressen, der Bewahrung traditioneller russischer Werte, des Schutzes gegen den Sittenverfall unter dem Einfluss des westlichen Liberalismus usw. Bis heute gibt es ständig Versuche, den Verfassungsartikel über das Verbot einer staatlichen Ideologie zu streichen und den Passus über den Vorrang des internationalen vor dem russischen Recht zu revidieren. Noch wird darüber nur diskutiert. Die Realisierung solcher Pläne würde jedoch bedeuten, dass Russland von den wichtigsten europäischen Konventionen und internationalen Vereinbarungen zurücktritt, die, basierend auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Kampfes gegen den Totalitarismus, die Grundlagen der internationalen Beziehungen bilden.  

Kampf der Zivilisationen

Putin und seine engste Umgebung sehen inzwischen praktisch alle Ereignisse, ob die Massenproteste daheim oder den „Arabischen Frühling“, als eine Kette von Verschwörungen und Umsturzversuchen, inspiriert vom US-Außenministerium, der CIA und den Geheimdiensten anderer westlicher Staaten mit dem Ziel, die Weltherrschaft der USA und ihrer Verbündeten zu errichten. Der russischen Bevölkerung wird eingebläut, dass das Land von Feinden umgeben sei, dass der Westen Russland schwächen wolle, indem er es aus seiner traditionellen Interessensphäre – dem postsowjetischen Raum – dränge und Rohstoffe unter seine Kontrolle bringe. Die Ideologie der „sozial-politischen Stabilität“ als Grundlage für die Legitimation des Putin-Regimes, der Erhalt der Macht in seinen Händen mit allen Mitteln, setzt voraus, dass man der Bevölkerung permanent Furcht einjagt: Vor einer vermeintlichen Bedrohung der „nationalen Sicherheit“, dem Verlust territorialer Integrität oder vor einem Untergang der russischen Kultur, Mentalität und besonderen „Spiritualität“.

Die von Putin proklamierte „Wiedergeburt Russlands“, sein Aufruf, „sich endlich von den Knien zu erheben“, hat immer mehr die Züge einer kollektiven Metaphysik angenommen, in deren Mittelpunkt die „ewige Konfrontation“ zwischen Russland und dem Westen als in sich geschlossenen „Zivilisationen“ steht. Die kremlnahen Polittechnologen versuchen ganz bewusst, damit das Vakuum zu füllen, das nach dem Niedergang der Ideologie des Klassenkampfs und der Konfrontation zwischen zwei Weltanschauungen entstanden ist. Die Funktion dieser „nationalen Idee“ (im Grunde genommen eine rückwärtsgewandte Utopie) besteht darin, das vorherrschende System aufrechtzuerhalten und die Prinzipien der „offenen Gesellschaft“, des Rechtsstaats, der Modernisierung, der liberalen Werte zu diskreditieren. Denn würde man diese akzeptieren, dann hätte das ja weitere institutionelle Reformen zur Folge und dann wären Veränderungen im Herrschaftssystem als Voraussetzungen für Wachstum, Wohlstand und technologischen Fortschritt notwendig.

Dank der stetig steigenden Einnahmen aus dem Öl- und Gas­export hat das System Putin bis vor Kurzem für jährliche Einkommenssteigerungen sorgen können. Mit der neuen Mittelschicht entstand ein in Russland völlig neues Phänomen: die Konsumgesellschaft. Weil aber der Zugang zu den staatlichen Kanälen der Einkommensverteilung maßgeblich von Korruption geprägt ist, gilt hoher Lebensstandard in den Augen der Bevölkerungsmehrheit als illegitim, verdächtig und unmoralisch. Die wachsende soziale Kluft sowie die ungleiche Einkommensverteilung erzeugten Neid, Ressentiments, ein weit verbreitetes Gefühl der Minderwertigkeit und des unterdrückten Zorns. Mit wachsender Unzufriedenheit und immer schärferen sozialen Spannungen sank die Zustimmung für die Regierung, die es nicht vermochte, die Bedingungen der informellen Übereinkunft mit der Gesellschaft zu erfüllen: nämlich als Gegenleistung für den Verzicht auf politische Forderungen einen gewissen Wohlstand und die Zügelung der Korruption zu gewährleisten. Die Enttäuschung über den paternalistischen Staat hat zwei wesentliche Konsequenzen: ein Anwachsen amorpher Aggression, die sich in exorbitanten Raten für Kriminalität, Selbstmord und Alkoholismus widerspiegelt. Und ein Fremdenhass, der sich im Inneren gegen Mitbürger aus dem Nordkaukasus und Migranten aus Zentral­asien richtet und nach außen in einem Ansteigen des Antiamerikanismus zeigt.

Tiefer Frust über den Verlust des Weltmachtstatus

Der Zusammenbruch der UdSSR und des kommunistischen Systems war für viele Russen gleichbedeutend mit dem Zerfall der kollektiven Identität, der Vorstellungen über das Soziale generell und einer Entwertung der Werte, die für soziale Kohärenz hätten sorgen können. Das Gefühl, Bürger einer Weltmacht wie der Sowjetunion gewesen zu sein, eines Riesenreichs und einer Nuklearmacht, die den USA ebenbürtig war, kompensierte den chronischen Zustand der Erniedrigung und der Armut des „kleinen Mannes“ in seinem Alltag, die Abhängigkeit von der bürokratischen Willkür, von der Hilflosigkeit gegenüber den Vorgesetzten.

Der Verlust des Weltmachtstatus Russlands und des Anspruchs auf seine besondere ideologische Mission, der sowohl während des Kommunismus als auch unter den Zaren bestand, rief eine tiefe und schmerzhafte Verbitterung in weiten Teilen der Gesellschaft hervor, deren Bedeutung die meisten Forscher noch immer unterschätzen. Wie tief diese Verbitterung war, zeigte sich in den Forderungen, die während der für Russland bislang schwersten Wirtschaftskrise von 1998 an die Führungspersönlichkeiten gestellt wurden: Sie sollten das Land vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch retten. Und sie sollten in der Lage sein, Russland den verlorenen Respekt der Weltgemeinschaft wieder zu verschaffen. Es ging den Menschen weniger um die Lösung akuter sozialer Probleme als um die Wiedererlangung eines Status in der Welt, wie ihn die Sowjet­union zuvor innegehabt hatte.

Der Kontrast zwischen einer inzwischen zweitrangigen Regionalmacht, in der sich eine Konsumgesellschaft gebildet hatte, und dem (nostalgischen) Bild einer heroischen und bedeutenden Vergangenheit wurde immer größer. Und Putin bediente von Beginn seiner Herrschaft an diese Sehnsucht nach Ansehen und einem Status, wie ihn die Sowjetunion innehatte. Um russischen Staatsbürgern den Stolz für das eigene Land zurückzugeben, rief er sie dazu auf, sich ausschließlich auf allerdings wenig definierte „traditionelle russische Werte“ zu stützen und dem zersetzenden Einfluss des Westens zu widerstehen.

Die national-demokratische Gefahr für das Putinsche System

Kurz: Das System Putin zwang der Gesellschaft die Ideologie des Patriotismus auf und verlangte von ihr, das Trauma des Totalitarismus abzuschütteln und die stalinistische Vergangenheit schlicht zu vergessen. Die Opposition wurde aus dem politischen Leben verdrängt – genau wie jede Form eines unabhängigen öffentlichen Denkens. Dies hatte allerdings eine Kehrseite: Die Gesellschaft, nunmehr angesehener Stimmen und moralischer Orientierung beraubt, gleichzeitig aber für die Chimäre eines verlorenen Weltmachtstatus empfänglich, reagierte mit einem immer weiter verbreiteten, tief empfundenen Nationalismus – der aber nicht mit Zustimmung für die Machthaber zu verwechseln ist. Es waren die Nationalisten, die die unter den Teppich gekehrten Probleme immer wieder ansprachen, angefangen von der ungerechten Privatisierung bis hin zur allgegenwärtigen Korruption. Und es waren die Nationalisten, die schon im Dezember 2010 (und damit als erste) auf die Straße gingen.

Genau deshalb waren die Proteste auf dem Maidan und der national-demokratische Charakter des ukrainischen Widerstands gegen das korrupte Regime von Viktor Janukowitsch eine so große Gefahr für das System Putin. Die Ähnlichkeit, wenn nicht Identität der beiden Herrschaftssysteme lag auf der Hand, und der Erfolg der Maidan-Bewegung hatte Vorbildcharakter für die russische Opposition. Gegen diese Gefahr wurde eine totale, aggressiv antiukrainische Propaganda aufgefahren. Der ganze Sinn der gegenwärtigen Destabilisierung der Ukraine besteht darin, die prowestliche demokratisch-nationale Koalition zu diskreditieren, die Grundlage für die Reformen zu zerstören sowie die Wut der russischen Bevölkerung von der korrupten Bürokratie auf die Verfechter des Rechtsstaats, der Demokratie und der Europäisierung Russlands umzulenken.

Die Register, die Putins Polittechnologen gegen die Ukraine zogen, waren allerdings nicht neu; sie wurden bereits viel früher, während der ersten Jahre der Putin-Herrschaft erprobt. Damals ging es darum, die baltischen Staaten und ehemalige Mitglieder des sozialistischen Lagers wie Polen und Rumänien zu diskreditieren. Schon damals wurde die Abkehr von Russland als „Verrat“ bezeichnet und insbesondere die Balten wurden der Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren und der Diskriminierung der russischsprachigen Minderheiten beschuldigt. (Deswegen stehen bei Befragungen zu den „Feinden Russlands“ Lettland, Litauen oder Estland fast immer an erster Stelle.)

Die zentralen Thesen der antiukrainischen Propaganda liefen auf Folgendes hinaus: Die Ereignisse von Kiew seien vom Westen provoziert und bezahlt; es seien Nazis, Faschisten und Ultranationalisten an die Macht gekommen, was eine Gefahr für die Sicherheit der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine sei. Und dieser Bevölkerungsteil sei vereint in der Ablehnung der neuen Führung in Kiew und lehne sich gegen diese „Junta“ auf. Eine große Mehrheit der russischen Bevölkerung (61 Prozent) ist angesichts der permanenten Fernsehpropaganda überzeugt, dass sich „das ganze Volk vom Donbass“ in Opposition  zu oder gar im Kampf gegen die Kiewer Regierung befinde. Nur 6 Prozent glauben, dass Kiew gezwungen sei, gegen Putins Russland zu kämpfen, und 17 Prozent sind der Meinung, dass im Donbass Separatisten, unterstützt und bewaffnet von Moskau, gegen die ukrainische Armee kämpfen. 88 Prozent der Bevölkerung denken, dass die USA und andere westliche Staaten einen Informationskrieg gegen Russland führen, um es zu schwächen, zu isolieren und den Willen zur nationalen Selbstbestimmung zu unterdrücken.

Diesmal bestand das Propagandaziel des Kremls vor allem darin, den Massen ein furchterregendes Beispiel einer auf den Sturz eines autoritären Regimes folgenden Destabilisierung zu liefern. Mit der Krim-Annexion kam ein weiteres, äußerst wichtiges Element hinzu: Russland verteidige nicht nur die „Seinen“ im Osten der Ukraine, sondern hole auch Territorien zurück, die schon immer zum russischen Imperium gehört hätten. Damit stelle es seine Macht, Autorität und Einfluss im postsowjetischen Raum wieder her. Die damit erzeugte Welle der nationalen Euphorie, des Stolzes und der patriotischen Solidarität hat nicht nur die Legitimität der politischen Führung und das Vertrauen in die Macht wieder hergestellt. Sie ist zur Quelle für die Aufrechterhaltung des autoritären Regimes für eine vermutlich unbestimmte Zeit geworden (siehe dazu die obenstehende Grafik „Putins Popularität“).

Die Unterstützung für Putin ist nach der Krim-Annexion signifikant gewachsen. Seine Politik wird von 87 Prozent der Bevölkerung befürwortet. Kritik wird nur noch von einer winzigen Gruppe geübt. Die Bereitschaft, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen für ihn zu stimmen, stieg von knapp 30 Prozent zur Jahreswende 2013/14 auf 56 Prozent im März 2014 und rangiert bis heute auf diesem Niveau. Interessant ist, dass die nationalistische Aufwallung quer durch alle Bevölkerungsgruppen geht. Gleichzeitig verzeichneten auch andere soziale Kennwerte einen Anstieg, darunter die positive Stimmung in der Gesellschaft, die Zustimmung für die Regierung und selbst für die Abgeordneten, für die man jahrelang geradezu Verachtung gezeigt hatte. Sogar die Zustimmung für die Arbeit anderer Staatsorgane, wie der Polizei, ist gewachsen. Man könnte diese Prozesse als „Rückfall in den Totalitarismus“ bezeichnen.

Zum Hauptfaktor einer negativen Solidarität wurden die antiwestlichen Ressentiments. Nach den neuesten Meinungsumfragen vom November 2014 haben 73 Prozent der Russen ein negatives Bild der USA. Im Fall der EU sind dies 63 Prozent. Das sind die höchsten Werte seit Beginn unserer Meinungsforschung.

Die Reaktion der westlichen Länder erfolgte zwar langsam und war von Abstimmungsschwierigkeiten überschattet, kam für Putin jedoch offenbar überraschend. Putin dachte, dass der Westen die neue Politik des Kremls „schlucken“ würde, wie es schon bei der Abspaltung von Abchasien und Südossetien von Georgien und deren sukzessivem Anschluss an Russland der Fall war. Aber diesmal war es anders, und schon ein halbes Jahr nach dem Beginn der Sanktionen, im Oktober 2014, waren die Konsequenzen dieser Politik für die russische Bevölkerung zu spüren.

Sie beschleunigten den wirtschaftlichen Abschwung, der sich bereits angekündigt hatte. Am ehesten waren die erfolgreichsten Bevölkerungsgruppen wie die städtische Mittelschicht betroffen. Sie hängt weit mehr vom Warenimport ab als die arme Provinzbevölkerung, die in ihrer Mehrheit preiswertere und qualitativ schlechtere russische Produkte konsumiert. Die Inflation, die durch die russischen Gegensanktionen befeuert wurde, steigt rasant und lässt die Ersparnisse und das Einkommen der Bevölkerung zusammenschmelzen. Viele Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere, sind in eine extrem schwierige Lage geraten, da sie nunmehr von westlichen Krediten und vom Zugang zu neuen Technologien abgeschnitten sind.

Das Ansehen Chinas wächst

Nach Beginn der dritten Sanktionsrunde wurde sich die politische Elite der Tatsache bewusst, dass Russland international isoliert ist. Um das Vertrauen und eine breite Unterstützung für die politische Führung zu sichern, begannen die gesteuerten Medien, anstelle des Westens die Volksrepublik China zum Modell für eine erfolgreiche – und nicht demokratische – nationale Entwicklung zu propagieren. Man versuchte, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass engere Beziehungen mit China möglich seien und gar zur Bildung einer Art Union gegen den Westen führen könnten. Zwar bleibt die Mehrheit der Experten äußerst skeptisch, doch die Öffentlichkeit reagierte auf diesen „Wechsel“ mit Wohlwollen (siehe Tabelle S. 28); und das Ansehen Chinas wächst Monat für Monat weiter. Im November 2014 hegten 75 Prozent der Befragten eine positive Einstellung gegenüber China. Die alten Ängste vor einer chinesischen Expansion, in erster Linie im russischen Fernen Osten und in Sibirien, sind fast verschwunden. Gleichzeitig ruft die Macht des wachsenden Giganten bei der Mehrheit der Russen – die Macht an sich ohne eine moralische Beurteilung verehren – Respekt hervor. Dabei hat das positivere China-Bild keineswegs mit dem Informationsgrad der Befragten oder einer Kenntnis der chinesischen Wirtschaft oder des politischen Systems zu tun. Im Gegenteil: Je weniger informiert die Befragten waren, desto positiver ihr China-Bild.

Es ist schwer vorherzusagen, wie sich die Situation in Russland entwickeln wird, denn es gibt zu viele Unbekannte. Vieles hängt von einer konsequenten Politik der westlichen Staaten gegenüber Russland ab, von der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Russland und von der Unberechenbarkeit Wladimir Putins. In der öffentlichen Meinung in Russland beginnt sich eine gewisse Diskrepanz widerzuspiegeln: Auf der Ebene der symbolträchtigen Sprache wird die Politik Putins, ungeachtet ihrer moralischen und rechtlichen Bedenklichkeit, umfassend unterstützt. Auf der praktischen Ebene wird eine wachsende Sorge über die Möglichkeit einer schweren Krise sichtbar. Letz­teres zwingt zu einer nüchterneren Bewertung der Ereignisse im Osten der Ukraine und zur Verurteilung einer direkten Intervention der russischen Streitkräfte. So sank die Zustimmung zur Entsendung der russischen Streitkräfte in die Ukraine von 74 Prozent im März 2014 auf 38 Prozent im Oktober.

Dr. Lew Gudkow ist Direktor des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 22-29

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