Risse im Abbild der Realität
Angesichts globaler Multikrisen ist Auslandsjournalismus wichtiger denn je. In der Allgegenwart der Bilder wirkt jedes Geschehen überall verfügbar – in Wahrheit entfernt sich in deutschen Medien das „da draußen“ immer mehr. In Zeiten eines Epochenbruchs aber braucht es den differenzierten Blick, die Vielfalt der Zugänge.
Ein Grundsatz, eine Verpflichtung vielleicht: „Entweder berichtet man über die Welt oder man berichtet nicht. Es gibt keinen Mittelweg. (…) Für unsere Auslandskorrespondenten gilt: Wenn Du von einer Geschichte erfährst, dann tu’, was immer nötig ist, um sie zu bekommen. Und um die Rechnungen kümmern wir uns.“
Der dies so selbstbewusst postuliert, hat wohl gut reden, Michael Slackman von der New York Times, dieser journalistischen Unternehmung, der es noch immer gelang, Maßstäbe zu setzen. Die aus einer der größten Medienkrisen, der digitalen Disruption, existenzbedrohend auch für sie, gestärkt und profitabel hervorging. Heute zählt die Times mehr als neun Millionen Abonnenten weltweit; die meisten online. Gut 200 Auslandskorrespondentinnen und Korrespondenten in rund 30 Büros, dazu Ressortleitungen, Redakteure und Rechercheure in Seoul, London und New York. Wenn es so etwas gäbe wie eine globaljournalistische Premiummarke – es wäre wohl die Times. Jedenfalls zeigt sie immer wieder, was möglich ist. Und in Zeiten erschütterter Glaubwürdigkeit, in denen so vieles Fake oder manipuliert scheint und Algorithmen online auf werbeerlössteigernde Zuspitzung setzen, vielleicht auch möglich sein muss: die Fakten und die Hintergründe zu recherchieren, fair und akkurat der Wahrheit möglichst nahe zu kommen.
Im Dezember 2022 etwa, als sie die Ergebnisse einer Recherche ihres „Visual investigation“-Teams veröffentlichte: Butscha. Zu diesem Zeitpunkt war der Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew bereits aus den Schlagzeilen verschwunden. Russische Truppen hatten Butscha im März 2022 gut einen Monat lang besetzt gehalten. Nach ihrem Abzug zeigten sich grauenvolle Bilder: Offensichtlich gezielt erschossene Bewohner, Zivilisten. Männer, Frauen, Jugendliche; einige Opfer hatten die Hände auf dem Rücken gefesselt. Am Ende zählte man weit mehr als 400 Tote. Butscha wurde zum Symbol für Putins verbrecherischen Angriffskrieg. Wer aber waren die mutmaßlichen Täter, ihre Befehlshaber? Die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen?
Die Recherche der New York Times dauerte Monate. In geduldiger Puzzle-Arbeit werteten die digitalen Investigativjournalistinnen und -journalisten Tausende Stunden Videomaterial aus, überprüften heimlich gemachte Smartphonevideos von Bewohnern; Aufzeichnungen von Straßen- und Sicherheitskameras, auch Drohnenaufnahmen des ukrainischen Militärs. Sie überprüften die Kennungen russischer Militärfahrzeuge und Listen von Telefonnummern mit der russischen Vorwahl +7, die über Handys von Ermordeten geführt worden waren; checkten Profile in sozialen Medien, dann wählten sie die Nummern. Vor Ort in Butscha führten sie Dutzende Interviews mit Bewohnern und Augenzeugen, Hunderte Stunden Material. So gelang die Rekonstruktion vielfacher Kriegsverbrechen, einer systematischen Säuberungsaktion: Unbewaffnete Männer in wehrfähigem Alter, die von russischen Soldaten und Offizieren gezielt gesucht, verhört und exekutiert wurden. Achtlos ließen sie Leichen im Hof ihres Kommandopostens liegen, einem Industriegebäude an der Jablunksa Str. 144. Gezielte Schüsse auf Passantinnen und Passanten, manche von ihnen wollten fliehen, manche radelten einfach nur nach Hause, einer hatte Kartoffeln dabei.
Vor allem aber gelang es, den mutmaßlichen Tätern Gesichter zu geben und Namen: Soldaten, Offiziere und mindestens ein Kommandeur des 234. Luftlande-Regiments der russischen Streitkräfte; es gilt als Eliteeinheit. Stationiert im nordrussischen Pskow und zu diesem Zeitpunkt unter dem Kommando von Oberstleutnant Artjom Gorodilow, Kodename „Uran“. Mit einem Orden geehrt und befördert in eben jener Aprilwoche 2022, als die Welt von den Gräueltaten erfuhr – durch internationale Berichterstattung.
Ja, viele Journalistinnen und Journalisten, die für deutsche Medien im Ausland arbeiten, mögen von solchen Möglichkeiten nur träumen. Viele unter ihnen Freiberufler, schlagen sie sich herum mit Bürokratien und Buyouts, dem Abtritt aller Nutzungsrechte. Mit atemlosen und strukturell überlasteten Redakteurinnen und Redakteuren in der Heimat, zu generierenden Klickzahlen, dem Kostendruck. Selbst für Recherchen im Kriegsgebiet Ukraine musste eine Reporterin noch um Kostenübernahme für eine Versicherung betteln, die eigentlich Standard sein sollte.
Die Welt „da draußen“ rückt vermeintlich immer näher: der Tod in Bachmut, Dürre in Australien, ein Boot namens „Adriana“ mit mehr als 700 Geflüchteten an Bord, treibend vor der griechischen Küste. Alles allzeit verfügbar, nur einen Instagram-Klick oder eine YouTube-Sequenz entfernt. Das aber ist ebenso Trugschluss wie Selbstbetrug. In Wahrheit entfernt sich das „da draußen“. Diese Welt wird komplexer, die (Klima-)Krisen drängender; die Realitäten widersprüchlicher und gefährlicher.
In einer Zeit globaler Multikrisen ist Auslandsjournalismus wichtiger denn je. Es braucht ja die Vielfalt der Zugänge vor Ort, den differenzierten Blick, der Verständnis schafft und Verstehen. Wobei der „klassische“ Auslandskorrespondent einer ebenso exotischen wie bedrohten Art gleicht: der erfahrene, durch nichts zu erschütternde Welterklärer – fast immer waren es ja Männer – à la Peter Scholl-Latour oder Gerd Ruge, deren Filme und Bücher über den Tod im Reisfeld oder sibirische Kältepole zuverlässig Quotensprenger und Bestseller waren. Die Zeit der vermeintlich allwissenden Deutungspräger mit Vertrauensvorschuss und quasi Monopolstellung endet. Heute sind eher „Fallschirmjournalisten“ gefragt.
„Das Ausland“ existiert in dieser Form nicht mehr – der Vergleich des jeweils „Anderen“ mit dem eigenen Land aber sehr wohl. Die Süddeutsche Zeitung will der verdichteten Weltkrisenlage mit ihrem bislang größten Auslandsnetz Rechnung tragen, 30 Korrespondentinnen und Korrespondenten, die allermeisten fest angestellt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung leistet sich noch manche Dreierbesetzung, je eine Korrespondentin für Politik, Wirtschaft und Feuilleton.
Allerdings sind die von der Kölner Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing beschriebenen „Nachrichtenmächte“ seit Jahrzehnten dieselben, geprägt von ähnlichen Weltbildern, Nähe und dem Machtstatus eines Landes. Allen voran die Nachrichtensupermacht USA – auch aufgrund von Sprachkenntnis und Büros in eher besserer Lage ebenso attraktiv wie karrierefördernd.
Auch in den zehn Jahren zwischen 2010 und Ende 2019, ergab eine Analyse der Otto Brenner Stiftung, blieben die USA Zentrum der „internationalen Nachrichtengeografie“ (Prinzing) in den auflagenstärksten deutschen Tageszeitungen; mit schon weitem Abstand gefolgt von Großbritannien und Frankreich. Osteuropa – eher im Nebel. Selbst über die EU und europäische Themen wird fast ausschließlich aus der jeweiligen nationalen Perspektive berichtet; immer noch und immer wieder Klischees und Ressentiments folgend; Verzerrungen und Fehler die Folge.
Andere Kontinente müssen schon Katastrophen und Kriege durchleiden, um berichtenswert zu werden, eine Weile zumindest. Manchmal reicht auch das nicht – Krieg und Hunger etwa im hochgefährlichen Berichtsgebiet Jemen oder Hintergründe über Eritrea existieren in der deutschen Berichterstattung so gut wie nicht – es sei denn, beim jährlichen Eritrea-Festival in Gießen kommt es zu Ausschreitungen. Kein Wunder, dass die Menschen „da draußen“ westlichen Medien und Regierungen doppelte Standards vorwerfen, Hybris und Gleichgültigkeit, Nabelschau. Auch dies ein größeres außenpolitisches Problem.
Die rohstoffreichen Republiken Zentralasiens, von China umworben und von Russland als Einflusssphäre beansprucht, sowie der instabile Kaukasus werden in der Regel journalistisch aus der ehemaligen sowjetischen Hauptstadt Moskau mitbearbeitet, obwohl die Sowjetunion seit mehr als 30 Jahren nicht mehr existiert. Dabei werden diese geopolitisch und ökonomisch wichtigen Regionen und Krisenbögen Europas Sicherheitsordnung mitbestimmen. Von der Ukraine ganz zu schweigen. Erst im Februar 2023 wurde in Kiew ein ARD-Studio mit festen Korrespondentinnen eröffnet.
„In deutschen Medien“, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, „verblassen ganze Teile der Welt zunehmend.“
Schon viel zu lange normal, dass der Kontinent Afrika, 54 Staaten, 1,4 Milliarden Menschen, von einem Korrespondenten abgedeckt werden muss, darunter auch Freie. Reisen ist ohnehin schwierig genug, von Sicherheitsfragen und Schutz ganz abgesehen. Eine Beteiligung an den oft hohen Kosten ist in der Regel mit dem Honorar abgegolten. „Dann heißt es: Afrika ist doch so günstig“, sagt die aus dem Süden des Kontinents berichtende Reporterin Leonie March, Vorstandsvorsitzende der „Weltreporter“, des größten Netzwerks freier deutscher Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten. Die Honorare aber – gezahlt wird oft pro Zeile – sind meist zu niedrig, sichere Einkünfte zu ungewiss, um sich eine journalistische Gegenwart zu leisten oder gar eine Zukunft zu bauen. „Auch in einigen Redaktionen geht man mittlerweile davon aus“, so March, „dass man im Ausland von unserem Beruf allein eigentlich nicht mehr leben kann.“
Bei den Weltreportern haben sie festgestellt, dass sie eigentlich Nachwuchs brauchen. Haben sich auf die Suche gemacht. Sie hätten nicht gedacht, dass es so schwierig würde. So hoch die Hürden, so gering das Interesse.
Schnell wachsen hingegen Vereinheitlichung und drohende strukturelle Verarmung der Berichterstattung. Mehr als 70 Regional- und Lokalzeitungen mit Millionen Leserinnen und Lesern werden mittlerweile durch zwei Berliner Zentralredaktionen mit jeweils gleichen Artikeln beliefert: durch das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sowie die Zentralredaktion der Funke Mediengruppe. Auf der Strecke bleibt der klassische „Auslandsredakteur“ – diejenigen, die sich noch einen kundigen Reim auf die Welt machen können. Journalismus als Massenware, vor allem Online zählen Emotionalisierung und Personalisierung und gerne auch irgendein Deutschland-Bezug. Das bringt Klicks und damit Reichweite und Werbeerlöse. Schnell geschriebene und schnell vergessene Geschichten dieser Art können – und müssen – von „Allroundern“ auch am Tisch in Berlin „ergoogelt“ werden.
So reduziert sich die Darstellung des vermeintlich ferneren Auslands weiterhin weitgehend auf „KKK“: Kriege, Krisen, Katastrophen. Momentaufnahmen, die sich verflüchtigen. Dies aber verengt den Blick auf die vielfältigen Realitäten, auf Machtverhältnisse, Geschichte und Kulturen. Auslandsjournalismus setzt uns in Beziehung zur Welt, er aktualisiert das kollektive Gedächtnis. Wenn es aber schwieriger wird, vor Ort zu sein, Entwicklungen abzubilden, Grautöne und das oft schwierige „Dazwischen“, wenn es keinen Platz mehr gibt für Hintergrund und Analyse, dann verhärten sich Stereotype und Klischees – die Debatte um Flucht und Migration ist das täglich tragische Beispiel dafür. „Wir brauchen Journalismus, der uns deutlich macht, dass Deutschland keine Insel ist“, mahnt Leonie March.
Ja, Berichterstattung trägt zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Nicht-Berichterstattung auch.
Für den differenzierten Blick braucht es Zeit, Unabhängigkeit, Integrität und: Distanz. Ebenso wenig wie es „die“ Medien gibt, existiert etwa „die“ Ukraine. Da sind der Krieg und der Mut und die Opfer, Selenskyjs Churchill-Moment. Da sind aber auch die in den Pandora Papers veröffentlichten Offshore-Firmen, an denen Selenskyj beteiligt war; da sind tiefe Korruption, Machtgeschacher, Militärzensur und auch das neue Mediengesetz, das dem Präsidenten entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Nationalen Medienaufsichtsbehörde gibt. Da sind die Fernsehsender, de facto zum einheitlichen „Telemarathon“ verpflichtet, Teil der „strategischen Kommunikation“ im Ausnahmezustand – all dies, wenn man so will, Teil eines globalen Informationskriegs, den auch die Ukraine führt. „Die Meinungsfreiheit ist stark bedroht“, schreibt Katerina Sergatskova, Chefredakteurin der Online-Zeitung Zaborona im Juni 2023 über die Gefahr der Monopolisierung des Rechts auf Information in ihrem Land.
Als die New York Times im April 2022 über den Einsatz international geächteter Streumunition durch die Ukraine berichtete, wurde ihrem Korrespondenten vorübergehend die Akkreditierung entzogen; eine Verlängerung mehrmals abgelehnt. Der im von Russland besetzten Osten der Ukraine geborene und für eine kanadische Tageszeitung arbeitende Fotograf Anton Skyba wurde im Juni 2023 vom Geheimdienst SBU verhört. Man warf ihm unter anderem vor, seine Arbeit stünde nicht im Einklang mit den „nationalen Interessen“ der Ukraine. Dem ukrainischen Fotografen Maksym Dondyuk wiederum drohte man mit dem Entzug der wichtigen Akkreditierung, nachdem das US-Magazin The New Yorker im April 2023 seine Fotos über den ganz und gar nicht glorreichen Alltag ukrainischer Rekruten im Schützengraben veröffentlicht hatte. Die uralte Ausrüstung, Versorgungsprobleme, all die so jungen und so unerfahrenen Soldaten, die hohen Todeszahlen.
Bei aller möglichen Empathie gehört auch dies berichtet und eingeordnet. Es geht um die Abbildung der Realität, nicht um ihre Konstruktion.
Wie in einem doppelten Schraubstock fühlen sich Auslandsjournalisten manchmal: Kostendruck und Platznöte auf der einen (deutschen) Seite – die Bedrohung unabhängiger Berichterstattung durch die immer perfideren Methoden autoritärer, gar totalitärer Staaten auf der anderen Seite, allen voran Russland und China. Propaganda, Desinformation und Fake News; Trolle, Hasskampagnen, Ausweisungen, Verhaftungen und Gerichtsverfahren, ein Klima der Angst. All das hat in der Summe eine neue, gefährliche Qualität.
China müsste so wie Indien schon aus geostrategischen Gründen für Deutschland eine Nachrichtensupermacht sein. Deutschlands Exportwohlstand hängt an diesem systemischen Rivalen mit Anspruch auf Vorherrschaft in einer neuen, multipolaren Weltordnung.
Da wunderte sich im Jahr 2023 ein Vertreter der deutschen Wirtschaft darüber, dass nur rund 20 Korrespondentinnen und Korrespondenten für deutsche Medien aus diesem so wichtigen Land berichten. Sie prägen das deutsche China-Bild mehr, als ihnen wohl selbst lieb ist. Und haben es zugleich zunehmend schwer, das Land überhaupt noch differenziert und unabhängig abbilden zu können.
Die eisernen Regelungen während der SARS-CoV-2-Pandemie trugen dazu bei: Wer da aus China ausreiste, verlor de facto das Journalistenvisum. Allein 2020 traf es mindestens 20 Korrespondentinnen und Korrespondenten gleich mehrerer US-Medien. Der politische Hintergrund war offensichtlich. Im Sommer 2023 waren weder australische noch kanadische noch indische Medien in China vertreten.
Zu den gängigen Rechercheverhinderungspraktiken gehören massive, auch physische Einschüchterungsversuche; Drohungen, organisierte Schmutzkampagnen samt Fotos auch gegen Familienmitglieder in sozialen Netzwerken. Chinesische Botschaften im Ausland schicken seitenlange Beschwerden an Chefredaktionen, veröffentlichen wütende Tiraden über angebliche „Lügen“ auf ihren Webseiten. Institutionen und Behörden verweigern Interviews, sie wollen sich keine Probleme einhandeln. Und wer sich dennoch traut, wird später oft zum „Gespräch“ mit den Sicherheitsorganen einbestellt. Dazu die allgegenwärtige Zensur, Kameras und Online-Überwachung der Menschen – das macht unabhängige Berichterstattung aus China ebenso schwierig wie unverzichtbar. In der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit von RSF Reporter ohne Grenzen nimmt China 2022 Platz 175 unter 180 Ländern ein. Mindestens 100 chinesische Journalistinnen und Journalisten sitzen unter zum Teil lebensbedrohlichen Bedingungen im Gefängnis.
Der chinesische Machtapparat weiß um Macht und Möglichkeiten der Narrative, nutzt Propaganda und Polit-PR, das attraktive Angebot der weltweit mehr als 500 Konfuzius-Institute, auch Journalistenausbildung in China. „Man möchte Erzähler der eigenen Geschichte sein“, sagt Lea Sahay, SZ-Korrespondentin in Peking. „Die strategische Überlegung ist: Nur Chinesen selbst können China erklären. Und das weltweit.“ So bleibt es am Ende immer wieder bei Geschichten verhinderter Recherchen. Bei Reportagen aus China, die mit den Worten beginnen: „Und dann kam die Polizei …“.
Abgesehen vom Super-GAU in Tschernobyl 1986, bildete die Ukraine, zweitgrößter Flächenstaat Europas, über Jahrzehnte einen weißen Fleck auf der medialen Landkarte der Deutschen. Was wollte man schon wissen vom Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Völker der Sowjetunion, vom Epizentrum des Holocaust, das in der Ukraine lag? Oder vom schwierigen Werden einer Nation? Selbst nach dem revolutionären Moment auf dem Kiewer Maidan, der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des von Russland angezettelten Krieges im Osten der Ukraine lag das Land im Wahrnehmungsschatten, gesehen durch die Moskauer Brille; Putins Ego und Obsessionen, seine Sicherheitsinteressen.
Ukrainerinnen und Ukrainer waren nur selten vertreten, ihre Stimmen verloren sich im Getöse. Im Talkshowgetümmel, dieser (manchmal false) Balance des nach öffentlich-rechtlichem Auftrag abzubildenden Meinungsspektrums, dozierte die ehemalige ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz über die angeblich auch völkerrechtlich durchaus zu rechtfertigende Annexion der Krim; andere beschworen die deutsch-russische Freundschaft, um der Geschäfte und auch „um der Geschichte willen“; dazu Top-Besetzung Sahra Wagenknecht als zuverlässig polarisierende Allzweckwaffe für den Schlagabtausch.
In der Tagesaktualität verharrend aber wurden – und werden – die großen Auslandsthemen, die tektonischen Verschiebungen eines Epochenbruchs nur allzu oft durch innen- und parteipolitische Akteure und ihre (manchmal nur vermeintlichen) Debatten geprägt und gespiegelt. Auch dies verengt den Blick. Und hat Konsequenzen. So blieben die geostrategische Dimension der Pipeline Nord Stream 2 oder des Verkaufs deutscher Gasspeicher an den russischen Staatskonzern Gazprom viel zu lange unterberichtet. Und die Folgen des europäischen Krieges für die Welt, Hunger, Waffen, die Verschärfung der Klimakrise, bleiben chronisch unterbelichtet.
Die Arbeit aus und in Russland ist schwieriger geworden, bedrückender sowieso. Putins Russland wird zunehmend zum digitalen Überwachungsstaat nach chinesischem Muster. Akkreditierungen gelten nur noch für jeweils drei Monate. Wer einreist, muss sich auf Stunden Befragung mit Verhörcharakter durch den Geheimdienst FSB einstellen. Langjährige Gesprächspartner stehen nicht mehr zur Verfügung; Experten schweigen oder haben sich zu Propagandisten des Kremls gemacht. Dies erschwert politische Analyse, Einsichten in die ohnehin opaken Machtstrukturen des kleptokratischen Systems. Die Verhaftung des US-Korrespondenten Evan Gershkovich wegen angeblicher Spionage im März 2023, der noch Monate später ohne Anklage in Moskauer Untersuchungshaft saß, war eine mehr als deutliche Warnung an alle Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Die reziproken Regeln des Kalten Krieges gelten nicht mehr. Damals drohte im schlimmsten Fall die Ausweisung.
Hunderte russischer Journalistinnen und Journalisten mussten Russland verlassen; so wie zwei Jahre zuvor ihre Kolleginnen und Kollegen aus Belarus fliehen mussten. Die „Fachkräfte der Demokratie“ (Kulturstaatsministerin Claudia Roth) versuchen, aus dem Exil in Riga, Tbilisi, Vilnius oder Berlin weiterzuarbeiten. Sie senden auf allen Kanälen, YouTube und Newsletter, Instagram und TikTok und vor allem auf Telegram, dort auch auf Englisch zu lesen.
Es ist ein Hoffnungsschimmer: Journalismus im Exil wird vernetzt und finanziell unterstützt. Dazu gehört etwa der „JX Fund“, der in Berlin gegründete Europäische Fonds für Journalismus im Exil. Mehr als 1000 Journalistinnen und Journalisten, über 50 Medien, konnten bis zum Sommer 2023 gefördert werden. Wenn es richtig gut läuft, öffnen deutsche Redaktionen Seiten und Bildschirme für Exil-Journalisten, nutzen deren Wissen und Erfahrung. Und weil die Themen ja längst Cross-Media und Cross-Border sind, wächst medien- und grenzüberschreitender Journalismus: Nationale und internationale Kooperationen setzen globalen Missständen globale Recherche entgegen. Dies macht Berichterstattung auch in Medien möglich, die sich solche Recherchen sonst nie leisten könnten. Die Panama Papers über Geldwäsche und Steuervermeidung mithilfe von 214 488 Briefkastenfirmen wurden in 109 Medien in 76 Ländern veröffentlicht. Das International Consortium of Investigative Journalists steht als Organisation für rigorose professionelle Standards solcher Kooperationen; für den Gedanken auch, dass es eher auf Kooperation denn auf Konkurrenz ankommt.
Manche hoffen auf „Deep Journalism“, auf teuer verkauften Qualitätsjournalismus in „Verticals“, im Grunde digitale Fachdienste mit angehängtem Newsletter; Vorbild dafür der vom Axel Springer Verlag gekaufte US-Nachrichten- und Informationsdienst Politico mit den hochspezialisierten Publikationen von Politico Pro. Präsent auch in Brüssel, in Berlin geplant.
„Domänenkompetenz“ lautet das auch vom Berliner Medienunternehmer Sebastian Turner benutzte Buzzword: Fachinformationen und exklusive politische Hintergründe im Abonnement, gerne 100 Euro und mehr pro „Vertical“ im Monat. Vertikalisierung und damit Differenzierung schaffe Arbeitsplätze für kompetente Journalistinnen und Journalisten. Die wichtigen Themen sickerten quasi automatisch in die Massenmedien. Medien mit Domänenkompetenz könnten, so Turner, ihrer „Rolle für Gesellschaft und Demokratie als unabhängiges Frühwarnsystem gerecht werden“.
Deep Journalism als „Betriebssystem“ aber liefert vor allem Mehrwert für eine politische und ökonomische Elite; hier die ohnehin schon selbstreferenzielle Hauptstadtblase. So droht die weitere Fragmentierung der Öffentlichkeit, die Spaltung in „Have“ und „Have nots“ guter Information.
Umso wichtiger die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD, ZDF sowie Deutschlandradio, im Jahr 2023 mit einem voraussichtlichen Rekord-Etat von zehn Milliarden Euro ausgestattet. Dazu gehören rund 100 Korrespondentinnen und Korrespondenten in 28 Auslandsstudios allein für die ARD, damit eines der weltgrößten Netze internationaler Berichterstattung; zudem die 17 Studios des ZDF. Als vor allem gebührenfinanzierte Medien mit gesellschaftlichem Auftrag kommt ihnen eine ganz besondere Verantwortung zu. Ob sie wollen oder nicht, ob sie können oder nicht: Die Performance des „ÖRR“ ist ein täglicher Lackmustest für die Glaubwürdigkeit eines ganzen Berufsstands. Ganz besonders in Krisenzeiten. Der Krieg gegen die Ukraine war das beherrschende Thema 2022 auch in den Öffentlich-Rechtlichen. Zugleich aber wurde in der ersten Hälfte 2022 in der Tagesschau umfangreicher über das britische Königshaus berichtet als über den globalen Hunger; mehr über Sport als über den Globalen Süden, also den weitaus größten Teil der Welt, Milliarden Menschen.
Informationsangebote machen im Schnitt mehr als 40 Prozent der Gesamtsendezeit von ARD und ZDF aus. Den für das Verstehen der Welt jedenfalls nicht unwichtigen Weltspiegel aber wollte die ARD-Programmdirektion vom quotensicheren frühen Sonntagabend in die Quoten-Todeszone am „Informations-Montag“ gegen 23 Uhr schieben. Der attraktive Sonntags-Slot sollte für Sportberichterstattung freigeräumt werden. Öffentlicher Protest und interner Druck verhinderten dies, vorerst zumindest. Immer noch eher schwer zu erklären auch, dass die ARD-Landesrundfunkanstalten die Welt in Berichtsgebiete aufgeteilt haben, die sie in der Regel hartnäckig gegen mutmaßliche „Eindringlinge“ verteidigen.
Die ARD sei Vollprogramm, kein Nachrichtensender, argumentiert ARD-Chefredakteur Oliver Köhr, nicht für jede Breaking News unterbreche man das Programm, es gebe schließlich Tagesschau 24 als Nachrichtenkanal. Als die Söldner der Wagner-Truppe am Vormittag des 24. Juni 2023 auf dem Weg Richtung Moskau waren, zeigte das Erste die Kinderserie „Die Pfefferkörner“, die Arztserie „In aller Freundschaft“ und die Dokumentation „Giraffe, Tiger & Co“. Man habe nur wenige gesicherte Informationen gehabt, so Köhr: „Es geht nicht darum, um jeden Preis auf Sendung zu sein.“ Wohl wahr. Aber dann, wenn es wichtig wird.
Am frühen Nachmittag des 24. Februar 2022 wurde das in Kiew weilende Team des ARD-Studios Moskau abgezogen; zwei möglicherweise entscheidende Tage musste sich die ARD mit Schnittbildern etwa der BBC behelfen. Andere wie Bild-Reporter Paul Ronzheimer waren vor Ort; die ehemalige ZDF-Moskau-Korrespondentin und Krisenreporterin Katrin Eigendorf direkt von einem Einsatz aus Kabul kommend schon fast in Kiew eingetroffen. Der US-Sender CNN war mit Teams in der Ukraine und Russland bereits Wochen vor Kriegsbeginn präsent. Den ebenso eindringlichen wie öffentlichen Warnungen der US-Regierung vor einem Großangriff folgend hatte man eine journalistische Infrastruktur vorbereitet. Logistikteams hatten Routen ausgekundschaftet, Safe Houses festgelegt und Technik bereitgestellt, Sicherheitsleute und gepanzerte Fahrzeuge. Die Berichterstattung aus der Ukraine war zur Priorität erklärt worden.
Was über Jahre versäumt wurde, kann man bei Ausbruch eines Krieges nicht nachholen, auch wenn sich der ARD-Krisenkoordinator intensiv mit dem Auswärtigen Amt und privaten Sicherheitsfirmen berät. Auch wenn Reporterinnen und Reporter ein Sicherheitstraining absolvieren müssen, guter Rat inklusive: Vor einem Einsatz in Afghanistan solle man sein Testament machen. Am Ende dreht sich das System, dieser mächtige Apparat mit all seinen Ressourcen, in einer Dauerschleife steter Absicherung. Verantwortung wird da eher wegdelegiert. Und verloren geht der vom ehemaligen ZDF-Anchorman Klaus Kleber regelrecht erflehte „Spirit“.
Eine Arbeitsgruppe der Sender NDR, WDR und SWR soll es nun richten: Bis Ende 2023 soll ein Pool von rund zwölf Krisenreporterinnen und -reportern erfasst sein, nötige Technik bereitstehen. Aus Inlandsredaktionen kommend, sollen sie rasch einsetzbar sein. Allerdings nur, wenn die zuständige Landesrundfunkanstalt zustimme, erläutert einer der Verantwortlichen. So sei es nun mal, das föderale System. Dabei ist es am Ende vielleicht gar nicht so schwer, im Ausland und anderswo: Es geht darum, den Menschen gerecht zu werden, sorgsam und fair. Denen, über die Journalistinnen und Journalisten berichten, im Ausland und anderswo. Und denen, für die sie berichten. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 92-99
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