IP

01. März 2015

Quellen der nationalen Identität

Mit Utopien aus der russischen Geistesgeschichte entwirft Putin die Zukunft

Für das politisch-ideelle Denken von Wladimir Putin spielen drei historische Utopien eine besondere Rolle: die Russische Idee, die Eurasische Idee sowie der Panslawismus. Für Europa und den Westen insgesamt mag manches davon unverständlich und fremd erscheinen. Trotzdem wäre es sinnvoll, diese Ideen mit russischen Eliten zu diskutieren.

Seit Jahren schon kennzeichnen die Stärkung des autoritären Staates nach innen und eine imperiale Selbstbehauptung Russlands nach außen die Machtpolitik Putins. Dabei spielen für ihn drei historische Utopien eine besondere Rolle. Mit dem Rückgriff auf die „Russische Idee“ will Putin vor allem die innere Stärke Russlands mobilisieren. Die „Eurasische Idee“ dient ihm als Anknüpfungspunkt für die Wiederherstellung, Durchsetzung und Festigung des russischen Führungsanspruchs im gesamten postsowjetischen Raum unter Einsatz mal hegemonialer, mal imperialer Mittel. Seine Sympathie für „Panslawismus“ schließlich soll russische Einflussmöglichkeiten im mittel- und südosteuropäischen Raum voranbringen.

Dem heutigen westlichen Denken mag manches an diesen Ideen unverständlich und fremd erscheinen. Aber eine nüchterne Analyse der russischen Innen- und Außenpolitik führt zu dem Schluss, dass ihre politische Wirkungskraft ernst zu nehmen ist. Der Victor Hugo zugeschriebene Ausspruch „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ gilt auch in diesem Falle.

Dies wird Europa und den Westen insgesamt jenseits aller Sanktionspolitik, deren Tauglichkeit man bestreiten kann, zu einer anhaltenden ideologisch-geistigen Diskussion mit den verantwortlichen russischen Eliten zwingen. Mit der Bemerkung von Bundeskanzlerin Merkel, dass Putin „in einer anderen Welt“ lebe, deutet sich möglicherweise ein aufkommendes Bewusstsein für diese Notwendigkeit an. Bliebe eine solche Auseinandersetzung aus, würde die Gefahr einer Verfestigung solcher Ideen wachsen, die anscheinend den russischen Kurs und dessen Vorbilder wie Feindbilder immer stärker bestimmen.

Wiedergeburt der „Russischen Idee“

Wie konnte es zu einer Wiedergeburt solcher Ideen mit ihren antimodernen, antiwestlichen und antiliberalen Komponenten überhaupt kommen? Zur Suche nach einer Antwort gehört auch ein Stück persönlicher Erinnerung aus meiner Zeit als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Sowjetunion. Im Januar 1973 besuchte ich meinen damaligen wissenschaftlichen Betreuer Pjotr ­Andrejewitsch Zajonchkowskij. Als Geschichtsprofessor an der Moskauer Lomonossow-Universität hatte er sich mit Forschungen über die russische Reformperiode unter Zar Alexander II. auch international einen Namen gemacht. Tee schlürfend und wegen einer heftigen Grippe hustend kam Pjotr Andrejewitsch nach einem gewissen Zögern zur Sache. Zunächst legte er ein dickes Kopfkissen auf das Telefon. Dann folgte seine geflüsterte Bitte, ihm im Ausland einige Werke russischer Emigranten zu besorgen. Besonders wichtig war ihm dabei der 1954 in der Schweiz verstorbene Hegelianer, Religionsphilosoph und Publizist Iwan Alexandrowitsch Iljin.

Der Name dieses russischen Emigranten war mir bereits zuvor bei spätabendlichen, mit Wodka geschwängerten Küchengesprächen in Kreisen der Moskauer Intelligenz aufgefallen. Mich überraschte damals die fast mystisch-religiös gefärbte Leidenschaft der Diskussionen. Vor allem jüngere Historiker äußerten ungewöhnliche Gedanken über die russische Geschichte und den Zukunftsweg „Russlands“. Von ihren ideologischen Pflichtkenntnissen wichen sie damit völlig ab – und ich von meinen ursprünglichen Eindrücken über ihre vermeintlich ­totale Angepasstheit als ideologisch zuverlässige Bürger der Sowjetunion.

Insbesondere wurde über die russische Reformperiode ab dem verlorenen Krimkrieg (1853–1856) gestritten. Nichts davon entsprach den mir bekannten offiziellen Publikationen. Einige verstanden diese Zeit im Sinne der späteren Interpretationen des Religionsphilosophen Wladimir Solowjow (1853–1900). Sie sahen in der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland im Jahre 1861 im religionsorthodoxen Sinne eine Art Reue angesichts der Sünden des zaristischen Systems gegen das russische Volk. Die hierdurch in fast allen öffentlichen Bereichen ausgelösten weiteren Reformen waren für sie die anschließend notwendigen Bußen.

Iljin, der 1922 von der Sowjetmacht zusammen mit 200 weiteren Intellektuellen expatriiert worden war, spielte in diesen Diskussionen neben vielen anderen herausragenden Denkern mit slawophilen Wurzeln eine prominente Rolle. Nach vielen Irrungen, darunter eine befremdliche Unterstützung faschistischer Ideen, hatte Iljin im Jahre 1948 seine nach dem Krieg eher wieder religiös verankerten Hauptgedanken über die Zukunft Russlands unter dem Titel „Über die Russische Idee“ zusammengefasst. Er griff damit auf eine Titulierung zurück, die bereits viele Vorgänger hatte. So hatte Wladimir Solowjew 1888 als erster unter diesem Titel in Paris seine „L’Idée russe“ publiziert. Diese Schrift erschien erst 1909 auch in russischer Übersetzung als „Russkaja Ideja“. In demselben Jahr kam mit ähnlichem Titel ein Artikel des damals den Symbolisten zugerechneten und 1936 nach Italien ausgewanderten Dichters und Philosophen Wjatscheslaw Iwanow (1866–1949) „Über die russische Idee“ heraus. Vom Philosophen Lew Karsawin (1882–1952), ab 1926 zeitweise auch Anhänger der eurasischen Bewegung, stammte 1922 ein kulturphilosophischer Beitrag unter dem Titel „Der Osten, der Westen und die russische Idee“. Auch der im westlichen Exil besonders bekannt gewordene anfängliche Revolutionär und spätere Religionsphilosoph Nikolaj Berdjajew (1874–1948) veröffentlichte 1945 unter dem Titel „Russische Idee“ ein Buch über die russische Ideengeschichte seit Anfang des 19. Jahrhunderts.

In solchen Publikationen ging es immer wieder um die Herkunft, die Eigenart, die Mission und die Zukunft des russischen Volkes im riesigen Raum zwischen Europa und Asien. Insofern wurzelten sie in den im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den Intellektuellen leidenschaftlich geführten historischen, religiösen und philosophischen Auseinandersetzungen zwischen „Slawophilen“ und „Westlern“. In sowjetischen Bibliotheken waren solche Publikationen meistens in die Giftschränke für verbotene Literatur verbannt worden. Vor allem eine Beschäftigung mit der „Russischen Idee“ war risikoreich. Wer sie propagierte, geriet rasch ins Visier des KGB und musste unter Umständen persönliche und berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Denn diese Ideenwelt widersprach in ihrer religiösen Verankerung und mit ihrer fast mystischen Betonung einer russischen Besonderheit grundlegenden ideologischen Forderungen. Mit ihr wurde die ideologische Fiktion des „Sowjetmenschen“ infrage gestellt. Sie galt als Störung des multinationalen Zusammenlebens im sowjetischen Imperium und als Beschädigung des proletarischen Internationalismus. Hätte mich der KGB mit den damaligen Buchbesorgungen für Pjotr Andrejewitsch erwischt, wäre ich möglicherweise aus der Sowjetunion ausgewiesen worden.

Keine Chance für Liberalismus

Knapp 20 Jahre später hatte sich die Situation gegen Ende der Gorbatschow-Ära grundlegend geändert. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der kommunistischen Leitideologie begannen bislang unterdrückte Quellen früherer philosophischer Denkansätze immer öffentlicher zu sprudeln. Angesichts eines sich dann unter Jelzin abzeichnenden Scheiterns einer möglichst raschen Übernahme des westlichen liberalen Entwicklungsmodells gewannen vor allem in slawophiler Denktradition stehende Ideen an Stärke. Neben „Russländischer Idee“ (Rossijskaja ideja) und „Eurasischer Idee“ (Jevrazijskaja ideja) kam vor allem die „Russische Idee“ (Russkaja ideja) immer wirkungsmächtiger auf.

Einer der Gründe lag in den Folgen der postsowjetischen Staatenbildungen. Gleichsam über Nacht fanden sich über 26 Millionen Russen in neuen Staaten außerhalb Russlands mit neuer nichtrussischer Staatsangehörigkeit wieder. Der Schock hierüber saß bei ihnen und in Russland selbst tief. Hierdurch erfuhr die „Russische Idee“ an Triebkraft. Ein ursprüngliches Identitätskonzept bekam nun zusätzlich Züge eines Kampfbegriffs und verbreitete sich in den Massenmedien sowie in historischen und philosophischen Veröffentlichungen.

Im Jahr 1991/92 erschien unter dem Titel „Russkaja Ideja“ ein umfängliches Buch eines Autorenkollektivs mit kommentierten Textauszügen zu den wichtigsten historischen Wegmarken dieses Gedankenguts. Sämtliche bisher erwähnten russischen Denker, Philosophen und Dichter sowie weitere Größen der russischen Geisteswelt aus Geschichte und weißer Emigration fanden darin ihren Platz. Angesichts der zu jener Zeit knappen Ressourcen überraschte damals die hohe Erstauflage von 25 000 Exemplaren. Wer finanziell dahinter stand, war nicht direkt auszumachen. Aber klar war, dass neue national-­patriotische Kräfte einen geistigen Angriff gegen die westlich-liberal denkenden und westlich-rational handelnden Reformer unter Jelzin entfalten wollten.

So erwuchsen allmählich aus dem Umfeld früherer Küchengespräche die Multiplikatoren einer rückbezüglichen Utopie, die an bemerkenswerter Wirkungskraft gewonnen hat. Denn inzwischen gehört sie zum Kern einer auch im Kulturologie-Unterricht an den Schulen vermittelten russischen Staatsidee. Putin hat dies persönlich gefördert. In den vergangenen Jahren hat er auch Führungskräfte in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder angehalten, sich mit den Gedanken von Iljin, Solowjew und Ber­djajew vertraut zu machen. Die Bevölkerung Russlands soll darin im patriotischen Sinne Quellen einer nationalen Sinngebung und Identität erkennen.

Entsprechend finden sich in den Reden des russischen Präsidenten auch häufiger Hinweise auf Iljin. So zitierte er diesen in der Sowjetunion lange verbotenen Denker an einer Schlüsselstelle seiner Jahresbotschaft für 2014: „Wer Russland (Rossija) liebt, der muss ihm Freiheit wünschen, vor allem für Russland selbst, für seine internationale Unabhängigkeit und Selbständigkeit; Freiheit für Russland – als Einheit der russischen und aller übrigen nationalen Kulturen; und schließlich – Freiheit für die russischen Menschen, Freiheit für uns alle; Freiheit des Glaubens, Freiheit bei der Suche nach Wahrheit, Freiheit des Schöpfertums, der Arbeit und des Eigentums“.

Auf den ersten Blick überrascht dieses Zitat, bei dem es Putin um die volle Mobilisierung des nationalen Potenzials angesichts der aktuellen Krise geht, mit seiner starken Betonung des Freiheitsbegriffs. Aber der Freiheitsbegriff Iljins (und offensichtlich Putins) hat mit dem aufgeklärten, liberalen und rationalen westlichen Freiheitsverständnis und den hierauf gründenden allgemeinen Menschenrechten nichts zu tun. Denn für Iljin ist Freiheit in erster Linie die (begrenzte) Freiheit bei der Suche nach den richtigen Wegmarken eines bereits vorherbestimmten Weges, aber eben nicht die offene Gestaltungsfreiheit über diesen Weg selbst. Erkenntnisleitend sind dabei für ihn in erster Linie Herz, innere Besinnung und Zuwendung und erst in zweiter Linie Verstand und Logik.

Die Konsequenzen dieses Denkens wendete Iljin zum Beispiel in seiner Schrift „Russkaja Ideja“ von 1948 auf alle Bereiche an: auf die Entwicklung des russischen Menschen, auf den Weg des russischen Volkes, auf die russische Kultur, die russischen Wissenschaften, das russische Recht und die russischen Institutionen. Entsprechend wendet er sich gegen Entlehnungen von anderen Völkern oder deren Nachahmung, vor allem gegen das „Westlertum“ (Iljin: „Westlertum ist keine Rettung für uns, wir haben eigene Wege und eigene Aufgaben. Darin liegt der Sinn der russischen Idee“). Hieraus folgt dann die Forderung Iljins nach weiterer Entfaltung einer eigenen Kultur, eigenen Wissenschaft, eigenen Rechtlichkeit und einer eigenen Herrschaftsform für das russische Volk und sein staatlich organisiertes Zusammenleben als Nation.

Neben einem solchen antiliberalen und in den Konsequenzen antiwestlichen und antidemokratischen Sperrfeuer gegen äußere Beeinflussungen ist noch ein deterministischer Kern­gedanke der „Russischen Idee“ wichtig: Bei ihren frühen Protagonisten, wie dem Religionsphilosophen Solowjew, schwingt stets die im orthodoxen Glauben verankerte Annahme mit, dass das russische Volk trotz aller Fehler und Abweichungen gleichsam nach einem gottgewollten Plan vorangeschritten sei. Der russische Weg vollzog sich gemäß dieser Annahme nicht nur nach Maßstäben und Normen des von Menschen geschaffenen Rechts, sondern auch auf einer über diesem Recht liegenden höheren Ebene der Wahrheit und ­Gerechtigkeit.

Es ist interessant festzustellen, dass sich Putin zwar einer solchen teleologischen Interpretation des russischen Weges nicht explizit anschließt, aber beispielsweise die Einverleibung der Krim in seinen Reden des Jahres 2014 als legitimen Akt basierend auf (formalem) Recht und (höherer) Gerechtigkeit darstellt. Dabei arbeitet er – angefangen mit der Taufe Vladimirs auf der Krim im Jahre 988 – eine quasi sakrale Bedeutung der Halbinsel für das Werden des russischen Volkes und Russlands heraus. Diesen Gedanken verstärkt er durch den vergleichenden Hinweis auf die Bedeutung des Jerusalemer Tempelbergs für Judentum und Islam religiös.

Für Putin scheint Iljin unter den verschiedenen Protagonisten der „Russischen Idee“ besonders interessant zu sein, weil sich dieser Denker noch am ehesten auch in Kategorien praktizierbarer Politik, das heißt weniger als andere in überwiegend religiösen Reflexionen geäußert hat. Iljins Kernziele waren auf der Basis eines kompromisslosen Antibolschewismus die heute auch von Putin geteilten Ziele einer Bewahrung der Einheit und Größe Russlands, der Wiederherstellung der Würde des russischen Volkes und der Entfaltung eines starken Staates. Iljins Antibolschewismus teilt Putin dabei allerdings nicht.

Zu Recht hat man Iljin über seinen Tod hinaus eine gleichzeitige Propagierung faschistischer Ideen vorgehalten, vor allem seine anfängliche Bewunderung für die nationalsozialistische völkische Herrschaftsidee bis hin zu seinen positiven Bewertungen der Diktaturen von Franco in Spanien und Salazar in Portugal. In diesen beiden Ländern sah er auch für Russland vorstellbare Elemente eines autoritären Herrschaftsmodells. Es ist insofern bemerkenswert, dass Putin, der diese Hintergründe genau kennen dürfte, mit seinen Bezügen auf Iljin das schlüpfrige postfaschistische Eis nicht scheut, auf dem inzwischen ­Anhänger der so genannten Neuen Rechten in fast allen Ländern Europas populistisch herumgleiten und gemeinsame Berührungspunkte suchen.  

Putin ist als Pragmatiker allerdings bestrebt, aus Iljins Gedankenwelt mystisch-religiöse und hypernationalistische Elemente zu umschiffen und eher nur einige zu seinem politischen Handeln passende Fragmente herauszufiltern. Diese bilden zusammen mit weiteren westlichen, russländischen, eurasischen und panslawischen Orientierungen ein eklektizistisches Mosaik seiner politischen Überzeugungen. Schauen wir uns deren weitere Komponenten nachfolgend an.

In Zeiten des Umbruchs

Unter Jelzin baute das neue Russland als multiethnischer Verfassungsstaat zunächst auf der „Russländischen Idee“ (Rossijskaja ideja) auf, die sich auch im amtlichen Namen „Rossijskaja Federacija“ wiederspiegelt. Dieses territorial gegenüber dem früheren Zarenreich deutlich verkleinerte Russland akzeptierte zunächst die sich aus dem Zerfall der Sowjetunion faktisch ergebenden staatlichen Grenzen. Es blieb ohne Ansprüche gegenüber den neuen Nachbarstaaten in territorialer oder ethnischer Hinsicht und orientierte sich offen nach Westen.

In dieser Anfangsphase dominierten eher liberal denkende „Westler“ und weniger Protagonisten „slawophiler“ Denkrichtungen. Sie strebten eine breite und umfassende Modernisierung des Landes mit westlicher Unterstützung an. Es ging ihnen also nicht um eine begrenzte technische Modernisierung und Effektivierung einzelner Bereiche, sondern um eine zusammenhängende Reform des gesamten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems.

Diese ideelle Grundlage für eine anfänglich prioritär angestrebte breite Zusammenarbeit mit dem Westen ist bei Putin – nimmt man ihn beim Wort seiner Reden – zwar noch nicht vollständig verschüttet. Aber im Zuge des Aufbaus einer autoritären Staatsmacht und einer außenpolitischen Selbstbehauptung ist sie massiv in den Hintergrund abgedrängt worden.

Auszug nach Osten

Präsident Nasarbajew, bis heute Staatspräsident Kasachstans, fürchtete damals als Folge der Westorientierung Jelzins eine Gefährdung der bestehenden wirtschaftlichen Verbindung mit Russland und infolgedessen Chaos in ganz Zentralasien. Er forderte den Erhalt des von der Sowjetunion hinterlassenen „eurasischen“ Wirtschaftsraums. Damit griff er für seine Stabilitätsziele einen Gedanken auf, der inzwischen in Russland neben der „Russischen Idee“ in bestimmten nationalistischen Kreisen als „Eurasische Idee“ an Aufmerksamkeit gewonnen hatte.

Auch diese Idee hatte ihre Ursprünge im Gedankengut russischer Emigranten, zu denen nach der Oktoberrevolution viele damals in Europa bekannte Wissenschaftler, Historiker, Linguisten, Philosophen und Publizisten gehörten. Diesen russischen Intellektuellen ging es im westlichen Exil um die Bewahrung der zivilisatorischen Besonderheit und Zusammengehörigkeit des Raumes zwischen Europa und Asien mit seinen vielfältigen ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Prägungen. Sie sahen darin die Voraussetzung einer erneuten imperialen Größe Russlands nach dem Ende der ihnen verhassten Sowjetunion. Mit ihrer Programmschrift „Auszug nach Osten“, die in ihrer Intention übrigens auch eine Reaktion gegen das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker war, nahm diese Bewegung ab 1921 ihren Anfang. Sie erregte einige Jahre zwischen Prag, Belgrad und Paris gelegentlich Aufsehen, um dann bis Ende der dreißiger Jahre wegen verschiedener innerer Spaltungen zu zerfallen. Damit schien dieses Kapitel der russischen Ideengeschichte abgeschlossen.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlebten jedoch frühere eurasische Gedankenansätze bei einem Teil der politisch interessierten Intellektuellen eine unerwartete Wiedergeburt. Deren Hauptmotiv war 
die Überwindung der kommunistischen Herrschaft ohne den Verlust des bisherigen imperialen Raumes und ohne eine Verwestlichung Russlands. Damit wurde neben der „Russischen Idee“ eine weitere ideologische Kanone gegen die West­orientierung der liberalen Reformer um Jelzin in Stellung gebracht.
Seither bildete sich neben einer eher gemäßigten Richtung, an die Putin heute in seiner eurasischen Integrationspolitik anknüpft, eine neo-­eurasische gewaltbereite und antiwestliche Richtung heraus, die inzwischen insbesondere unter dem auch im Westen bekannten Moskauer Professor Dugin zum gefährlichsten Teil des russischen Rechtsextremismus gehört.

Für Putin ist das neo-eurasische Gedankengut in seiner gemäßigten Ausrichtung eine nützliche Ergänzung der „Russischen Idee“. Denn diese ist ihm zwar für die innere Mobilisierung Russlands wichtig. Sie führt aber in ihrer grenzüberschreitenden Wirkung zu einem außenpolitischen Zielkonflikt, der im imperial geschlossenen Raum der Zarenzeit und der Sowjetunion nicht aufkommen konnte. Mit ihrer besonderen Botschaft zur Einheit des russischen Volkes und dem damit verbundenen revisionistischen Potenzial weckte die „Russische Idee“ in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion vom Baltikum bis nach Zentralasien bei den jeweiligen Titularnationen immer wieder Befürchtungen. Mit der Annexion der Krim und den russischen Operationen in der Ukraine haben sich solche Befürchtungen deutlich verstärkt.

Demgegenüber soll die Förderung eines positiven, kooperativ-integrativen eurasischen Konzepts solchen Befürchtungen entgegenwirken, den geopolitischen Zusammenhalt des eurasischen Raumes durch immer mehr wirtschaftliche Verflechtung gewährleisten, die politische Führungsrolle Russlands – mal hegemonial, mal imperial – absichern, der Einflussnahme dritter internationaler Kräfte in diesem Raum entgegenwirken und schließlich eine stabile Existenz für die russischen Minderheiten in den postsowjetischen Staaten ohne Diskriminierungen sicherstellen. Dies ist der eigentliche politische Sinn der von Putin in den vergangenen Jahren Zug um Zug vorangebrachten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), die Anfang Januar 2015 ihre Arbeit aufgenommen hat.

Aus der Rationalität dieses kom­plexen Zielbündels ergibt sich auch, warum Putin eine nachweisbare Verbindung zu extremistischen Auswüchsen der russischen und eurasischen Idee vermeidet. Ihm ist allerdings vorzuhalten, dass er die Verführer und Zauberlehrlinge rechtsextremistischer und nationalistischer Denkrichtungen in den verschiedenen Bereichen von Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft ohne staatliche Aufsicht und Kontrolle einer gefährlichen Entwicklung überließ, die ihn eines Tages selbst überrollen könnte. Seine eigenartige Trennung zwischen einem formalstaatlich angeblich korrekten Handeln Russlands in der Ukraine-Krise einerseits und dem sich angeblich nur auf gesellschaftlicher Ebene entfaltenden nationalimperialen Ausgreifen russischer Freiwilliger, nichtstaatlicher Organisationen und Oligarchen in der Ukraine andererseits erinnert im Übrigen an eine fragwürdige frühere sowjetische Taktik. Denn auch die damalige „Friedliche Koexistenz“ propagierte auf der zwischenstaatlichen Ebene korrektes Verhalten und Zusammenarbeit. Zugleich wurde mit ideologischer Begründung der internationale Klassenkampf auf der zwischengesellschaftlichen Ebene fortgesetzt.

Eine Prise Panslawismus

Zum politischen Denkmosaik Putins gehört schließlich noch eine Prise Panslawismus, womit er auf eine weitere historische Utopie aus der Zarenzeit und der russischen Emigration zurückgreift. Dies wurde erneut bei seiner Jahrespressekonferenz am 18. Dezember 2014 deutlich. Auf die Frage eines Journalisten, ob er sich die Schaffung einer übergreifenden slawischen Gemeinschaft, zum Beispiel mit Serbien und Bulgarien, in Anlehnung an die angelsächsisch-amerikanische Welt vorstellen könne, gab Putin seiner positiven Haltung zu mehr panslawischer Einheit und ihrer Realisierbarkeit emotional Ausdruck. Dabei wies er zunächst darauf hin, dass die Politiker einiger dieser Länder unter starkem äußeren Druck stünden (d.h. eigentlich auch eine panslawische Solidarität anstrebten), gab sich dann aber zutiefst überzeugt davon, dass das einfache Volk in anderen slawischen Ländern von einer solchen übergreifenden Einheit nicht nur träume. Auch hier deutet sich eine historisch verankerte ideologische Rechtfertigung für ein zusätzliches russisches Ausgreifen bis in den südosteuropäischen Raum hinein an. Dessen operative Schritte sind zwischen Montenegro, Bulgarien und der Tschechischen Republik bereits vernehmbarer geworden.

Putin hat in seinem politisch-ideellen Denken anscheinend einen weiten Weg in die russische Geistesgeschichte und ihre Utopien zurückgelegt. Es würde nicht verwundern, wenn er bereits in seinen Leningrader Studentenjahren mit solchen Denkrichtungen in Berührung gekommen wäre, vielleicht bei abendlichen Küchengesprächen im vertrauten Kreise. Falls dem so war, könnten die sowjetischen Geheimdienststellen Leningrads in jener Zeit auch den späteren Dresdener KGB-Residenten kritisch unter die Lupe genommen haben. Putin damals als heimlicher Dissident – das wäre schon eine die Geschichte und Gegenwart fast überfordernde Ironie. Aber wenn Ideen zur Realität streben, ist vieles möglich.

Dr. Gebhardt Weiss ist Botschafter a. D. Von 2007 bis 2010 war er Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Minsk, Weißrussland.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 67-75

Teilen