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01. Juli 2014

„Putin ist ein Eukalyptusbaum“

Interview mit Thane Gustafson über den russischen Energiesektor

Russlands Volkswirtschaft lebt von den Energieexporten, die Einnahmen aus dem Gas- und, wichtiger noch, dem Ölgeschäft stützen den Staatshaushalt und machen das System Putin überhaupt erst möglich. Wie hat sich Russland zum Petrostaat entwickelt? Welche Rolle spielen die Staatsunternehmen Rosneft und Gazprom? Und wendet sich Moskau nun Peking zu?

IP: Der Erdöl- und -gassektor ist heute der Motor der russischen Wirtschaft. Wie ist es dazu gekommen?

Thane Gustafson: Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Sowjet-union ganz gewiss kein Petrostaat war. Vielmehr war sie eine hochentwickelte Industriemacht, die über Spitzenforschung und Hochtechnologie verfügte, wenngleich stark auf die Schwerindustrie ausgerichtet und darauf, dem militärisch-industriellen Komplex zu dienen. Die heutige Abhängigkeit Russlands vom Energiesektor ist in erster Linie auf den Zusammenbruch der sowjetischen Kommandowirtschaft zurückzuführen sowie auf die radikale Schwächung des militärisch-industriellen Komplexes. Es blieb nur der Primärsektor übrig, und Russland trat als Händler seiner Rohstoffvorkommen in die Weltwirtschaft ein, in viel größeren Dimensionen als die Sowjetunion vorher. Der sowjetische Außenhandel war ja nicht der Rede wert, das System war darauf ausgerichtet, importunabhängig zu sein. Heute stehen Erdöl und -gas zusammengenommen für über die Hälfte aller Exporte, für über die Hälfte der Einnahmen des russischen Staatshaushalts und je nachdem, wie man es berechnet, für mindestens ein Viertel des gesamten russischen BIP. All dies unterstreicht einen ganz wesentlichen Punkt: die Abhängigkeit der heutigen russischen Wirtschaft, ja ihre Verwundbarkeit. Wenn man über Öl und Gas spricht, darf man übrigens nicht vergessen: Für jeden Dollar, den Russland im Gasexport einnimmt, nimmt es vier im Erdölexport ein. Zwar wäre es übertrieben zu behaupten, dass das Gasgeschäft für die Regierung keine Rolle spiele, aber Tatsache ist, dass das Wohl Russlands vor allem vom Erdöl abhängt und weniger vom Erdgas. Das wird zum Beispiel oft vergessen, wenn vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise von den russischen Gasexporten nach Europa die Rede ist. Was für Russland lebenswichtig ist, sind die Ölexporte.

IP: Seine heutige Gestalt nahm der Petrostaat Russland aber erst unter Wladimir Putin an …

Gustafson: Viele Leute weisen immer auf eine Doktorarbeit hin, die Putin 1996 veröffentlichte, damals noch in St. Petersburg. Zu der Zeit hatte Putin keinerlei Erfahrung mit dem Energiesektor, aber er nahm an einem Seminar des Geologischen Instituts teil. In Putins Dissertation findet sich allerdings kein Wort zu Energiefragen – dafür aber in der von Igor Setschin, der seine Arbeit im gleichen Jahr verteidigte. Er ist gewissermaßen Putins Alter Ego, engster Vertrauter und heute Chef von Rosneft. Legt man beide Arbeiten zusammen, erhält man das sehr klare Bild einer politischen Konzeption, deren oberstes Ziel es ist, die Größe Russlands wiederherzustellen, den Russland zustehenden Status einer Supermacht. Für Putin folgt daraus, dass die Rolle des Staates darin bestehen müsse sicherzustellen, dass der Energiesektor diesem Ziel dient: der Wiederherstellung nationaler Macht und Größe – das ist der rote Faden. Wenn Sie mich fragen, ob Putin und Setschin einen genau durchdachten Plan schmiedeten, einen staatlichen Ölkonzern zu schaffen, dann meine ich aber: nein. Das führt uns zu einer sehr wichtigen Erkenntnis über die Putin-Jahre – oder vielleicht sollte man sagen: die Putin/Setschin-Jahre: dass diese nämlich zum großen Teil von Opportunismus geprägt waren. Das beste Beispiel dafür ist die Jukos-Affäre. Manche glauben, dass alles von vornherein geplant war, insbesondere von Setschin und dem damaligen Chef von Rosneft, Sergej Bogdantschikow. Aber wenn man sich Schritt für Schritt anschaut, wie die Enteignung und Verurteilung von Michail Chodorkowski ablief, die Aufspaltung und Renationalisierung von Jukos, dann erkennt man, dass es viel Improvisation gab.

IP: Nichtsdestoweniger hat es funktioniert ...

Gustafson: Ja, völlig richtig. Wenn sich eine Chance ergab, hat „Team Putin“ gehandelt, wie bei der Einverleibung von Jukos durch Rosneft.

IP: Wie sieht der Energiesektor seitdem aus?

Gustafson: Man muss unterscheiden: Die Ölindustrie funktioniert völlig anders als die Gasindustrie. Letztere wird von einem Unternehmen dominiert, das einen überwältigenden Anteil der russischen Gasproduktion fördert, das Pipelinesystem aus einer Monopolstellung heraus kontrolliert und den größten Teil des Vertriebs. Dieses Unternehmen – Gazprom – ist ein direktes Erbe aus sowjetischen Zeiten. In der Ölindustrie geschah etwas ganz anderes, sie wurde in den neunziger Jahren schnell privatisiert und war, als Putin 1999 an die Macht kam, fast vollständig in privater Hand. Dass Rosneft noch staatlich war, war gewissermaßen Zufall, eine Folge des ersten Wirtschaftscrashs der postsowjetischen Ära von 1998. Rosneft wurde damals dreimal erfolglos zum Verkauf angeboten, keiner wollte es haben – eine unattraktive Sammlung übrig gebliebener Einheiten, gewissermaßen der Klotz am Bein der russischen Öl-industrie. Hinzu kommt: Lange war sich die Regierung gar nicht sicher, ob sie einen staatlichen Ölkonzern wollte. Und noch 2004 segnete Putin einen Plan ab, nach dem Gazprom und Rosneft verschmelzen sollten – wozu es aber nicht kam, weil eine Richterin in Texas – ausgerechnet! – vorläufig zugunsten von ehemaligen Jukos-Anteilseignern entschied und eine einstweilige Verfügung aussprach. Die hatte am Ende keinen Bestand, aber Gazproms Finanzierungsmodell der Übernahme brach aufgrund der kurzen Rechtsunsicherheit zusammen, die Banken zogen sich zurück – und am Ende übernahm Rosneft dann Jukos. Daran können Sie erkennen, wie groß das Element des Zufalls war. 2004 wollte Putin also nur noch einen großen Öl- und Gaskonzern in staatlicher Hand, nämlich Gazprom. Die heutige Landschaft mit zwei großen Staatskonzernen, Gazprom und Rosneft Seit’ an Seit’, die gewissermaßen auch Rivalen sind, ist zum Teil ein Zufallsprodukt – und dennoch liegt die Existenz zweier gigantischer Unternehmen in staatlicher Hand ganz auf der Linie der Putin/Setschin-Doktrin.

IP: Wenn man sich Gazprom anschaut: Ist es allein die schiere Größe, die den Konzern so mächtig macht?

Gustafson: Ja, aber es kommt noch mehr dazu: wie die Gasindustrie technisch funktioniert und die Rolle, die Erdgas in der postsowjetischen Übergangsökonomie gespielt hat – dies erklärt, warum Gazprom überlebt hat und geworden ist, was es heute ist, nämlich ungleich größer als zu sowjetischen Zeiten. Gazprom ist direkter Nachfolger des Geschäftsbereichs Gasförder- und Gastransportindustrie des sowjetischen Ministeriums für Erdöl- und Gaswirtschaft. Nach dem Ende der Sowjetunion erhielt das Unternehmen auch die Zuständigkeit für den Export und breitete sich nach Westeuropa aus – auf vielerlei Arten, aber das generelle Ziel war, auch am unteren Ende der Wertschöpfungskette beteiligt zu sein. So kam es zum Beispiel zur Allianz mit BASF – und wir wissen, dass Gazprom mit großer Energie versucht, praktisch bis zum Endverbraucher am ganzen Distributionsweg beteiligt zu sein, bis zur Gasherdflamme sozusagen. Deshalb die geschäftlichen Verbindungen mit diversen Stadtwerken in Deutschland und der Ausbau des Pipelinenetzwerks, wobei außergewöhnlich ist, dass Gazprom und BASF in einem unternehmerisch sehr riskanten Schritt einfach eine Pipeline bauten, ohne Abnehmerverträge in der Tasche zu haben – wirklich sehr bemerkenswert. Außerdem hat sich Gazprom sehr erfolgreich in den Vertriebsnetzen ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten wie Rumänien und Bulgarien ausgebreitet und seine starke Stellung in diversen ehemaligen Sowjetrepubliken untermauert. Aber auch in Russland selbst hat das Unternehmen expandiert, auf den unteren Teil der Wertschöpfungskette zugegriffen und zum Beispiel in den neunziger Jahren städtische Verteilungsnetze übernommen, die ihm zu Sowjetzeiten nicht gehörten. Gazproms Größe ist also das Ergebnis einer sehr systematischen Expansion in alle Richtungen.

IP: Ist Gazprom ein Instrument russischer Außenpolitik?

Gustafson: Ja, wobei man eines vorausschicken sollte: Öl gibt einem eigentlich keinen Hebel in die Hand, außer unter sehr speziellen Umständen, denn der globale Ölmarkt funktioniert wie eine große Badewanne – mit so vielen Hähnen und Abflüssen, dass es sehr schwierig ist, den Markt zu manipulieren. Das Gleiche gilt übrigens für Kohle, und Strom wird immer noch selten international gehandelt. Wenn man also davon spricht, dass Russland Energie als außenpolitisches Instrument einsetze, meint man eigentlich immer Gas. Und seit Putin an der Macht ist, besteht kein Zweifel: Der Kreml ist in praktisch jeden Aspekt des Gashandels involviert, und Putin, man muss es ihm lassen, ist ein anerkannter Experte, der jedes Detail beherrscht. Er ist die zentrale Figur bei jeder wichtigen Entscheidung, die die Gasindustrie betrifft, und die Ziele, die er verfolgt, liegen genau auf der Linie, von der wir vorher sprachen: die Wiederherstellung nationaler Größe. Man kann ihm also nicht vorwerfen, widersprüchlich zu handeln.

IP: Allerdings scheint sein System nun an seine Grenzen zu stoßen.

Gustafson: Nun, man muss sich dabei vor Augen führen, mit welchen Handicaps Russland als ökonomische Macht zu kämpfen hat – wie es meine Kollegen von der Brookings Institution, Clifford Gaddy und Fiona Hill, getan haben. Man muss ihr Buch „The Siberian Curse“ („Der sibirische Fluch“) gelesen haben, um die Situation Russlands zu verstehen. Sie betonen insbesondere zwei Dinge, und es ist bemerkenswert, wie selten diese heute erwähnt werden: Distanzen und Temperatur – also die enormen Weiten und die lähmende Kälte, die einen großen Teil Russlands prägt. Sie setzen dem Grenzen, was Russland tun kann. Die Effektivität von Investitionen in entlegenen Gegenden mit unterentwickelter Infrastruktur und großer Kälte ist beschränkt, die Kosten sind enorm. Würde man Russland allein auf Grundlage ökonomischer Rationalität entwickeln, würde man sich auf den Westen und Südwesten des Landes konzentrieren – aber das Putin/Setschin-Konzept sieht eben auch die Entwicklung des Ostens vor. Darüber hinaus muss man auf die Versäumnisse der vergangenen 20 Jahre hinweisen: Die Russen haben beispielsweise völlig versäumt, ihre Infrastruktur zu erneuern und zu verbessern – die von der Sowjetunion geerbte war auf die Bedürfnisse des militärisch-industriellen Komplexes zugeschnitten, zum Beispiel die Gaspipelines: Die meisten sind Hochdruck-Pipelines, die direkt zu den industriellen Verbrauchern führten, Niedrigdruck-Pipelines zu privaten Haushalten sind dagegen unterentwickelt, denn private Haushalte gab es ja in Sowjetzeiten gewissermaßen gar nicht. Wenn man anfängt, die sowjetische Raumaufteilung der Marktrationalität anzupassen, stößt man schnell auf viele Schwierigkeiten. Hinzu kommen fehlende finanzielle und Unternehmensstrukturen; kleinere Unternehmen und ein entsprechender Unternehmergeist werden nicht gefördert, auch Humankapital nicht oder Bildung und Gesundheit. All das sind ja Elemente, die sich auf das BIP auswirken und die nationale Größe eines Landes bestimmen. Putin scheint diese Größe in sehr konventionellem, sowjetischen Sinn zu verstehen.

IP: Wenn es um die Zukunft und neue Absatzmärkte geht, wird zurzeit viel von der Wendung Russlands nach Osten gesprochen.

Gustafson: Nun ja. Schauen Sie sich das jüngst in Schanghai unterzeichnete russisch-chinesische Gasabkommen bis 2030 an: In dessen Rahmen wird in den kommenden zehn Jahren erst einmal kaum etwas fließen. Und die Mengen, die für die Zeit danach vorgesehen sind, entsprechen gerade einmal einem Viertel dessen, was Russland nach Europa liefert. Ein „game changer“ ist das also nicht. Anders sieht es beim Öl aus: In diesem Bereich sind die Lieferungen von Russland an China schon substanzieller – sie gehen übrigens, ganz nebenbei bemerkt, auf Chodorkowski zurück, der mit der Entwicklung eines Pipelineprojekts nach China begann, womit er zumindest eine Fußnote in den Geschichtsbüchern verdient hätte. Und die weitere Entwicklung Ostsibiriens ist Regierungsziel, man setzt dort praktisch die sowjetische Politik fort: Mit Staatshilfe werden sehr große Projekte angestoßen. Das Einzige, das anders ist: China ist als Mitspieler auf den Plan getreten – wobei russische Staatsunternehmen wie Gazprom chinesische Kapitalbeteiligungen ablehnen. Das einzige Gegenbeispiel bislang ist die Jamal-LNG-Gesellschaft, die zu 60 Prozent dem russischen Konzern Novatek gehört und an der neben Frankreichs Total auch die chinesische CNCP mit 20 Prozent beteiligt ist. Aber das wird kommen! Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Chinesen auch unmittelbar am Ressourcenabbau in Sibirien beteiligt sind. Die wirtschaftliche Erschließung Sibiriens erfordert immense Summen an Kapital, man muss die Märkte entwickeln, und Russland wird immer stärker auf finanzielle und kommerzielle Beteiligungen der Volkswirtschaft angewiesen sein, die bald die größte der Welt ist.

IP: Wie beurteilen Sie die Aussichten für den russischen Energiesektor – und der Wirtschaft insgesamt? Besteht die Gefahr, dass das System ins Wanken gerät?

Gustafson: Ich glaube nicht, dass Russlands Wirtschaft zusammenbricht. Sie hat schon einige schwere Schocks erlebt – 1989, 1998 und 2008/09 – und käme es zu einem starken Abfall des Ölpreises, wäre wohl die nächste Krise da, wobei die russische Regierung einige Möglichkeiten der Abfederung hat. Heute ist Geld auf internationalen Finanzmärkten billig und leicht zu haben; wenn man Griechenland Geld leiht, warum nicht auch Russland? Das Land verfügt über große Öl- und Gasreserven – und die Welt wird Öl und Gas noch lange Zeit brauchen. Deshalb erwarte ich nicht, dass Russland demnächst pleite geht. Aber es entsteht womöglich ein politisches Problem: Es gibt noch viel Öl, aber Erschließung und Förderung werden immer teurer. So werden die Margen immer kleiner in Zeiten, in denen der Finanzierungsbedarf steigt – für Reinvestitionen im Energiesektor, aber auch für den Staatshaushalt. Kurz: Der Kuchen wird immer kleiner – während die Essenz des Putin’schen Systems darin besteht, den Kuchen gewissermaßen an die Stützen des Systems zu verteilen, an die Mächtigen und an die Massen. Und wenn es immer weniger zu verteilen gibt, stellt sich natürlich die Frage nach der Stabilität. Das System ist auf Putin zugeschnitten – ein Freund von mir hat ihn mal einen Eukalyptusbaum genannt: denn unter ihm wächst nichts. Es gibt keinen Nachfolger, keinen Wettbewerb, keine echte Opposition – das macht das System anfällig. Aber es handelt sich um eine politische Anfälligkeit, keine ökonomische.

Die Fragen stellte Henning Hoff.

Thane Gustafson ist Professor of Government an der Georgetown University und Senior Director von IHS Cambridge Energy Research Associates. Sein Buch „Wheel of Fortune“ über Russlands Energiesektor erschien Ende 2012.
 

Bibliografische Angaben

IP Länderportät Russland 4, Juli/August 2014, S. 44-50

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