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01. Jan. 2005

Problematische Grauzone

Das UN-Panel grenzt Präemption und Prävention nicht ausreichend ab

Die UN-Experten haben Kriterien dafür vorgelegt, wann kollektive Gewaltanwendung auch präventiv legitim sein soll. Ist das hilfreich? Oder werden Grenzen verwischt?

Während UN-Generalsekretär Kofi Annan den Irak-Krieg inzwischen als „illegal“ und als Verstoß gegen die UN-Charta bewertet hat, fand die Expertenkommission in dieser Frage keinen Konsens. Folgerichtig blieben auch ihre Aussagen für die künftige Praxis zumindest ambivalent. Der Bericht erklärt den unilateralen „präemptiven“ (hier benutzt analog zum englischen „preemptive“) Einsatz militärischer Mittel gegen „unmittelbar drohende oder nahe Gefahren“ für vereinbar mit dem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta. Einwände erhebt er gegen den „präventiven“ unilateralen Einsatz militärischer Mittel zwecks Abwehr einer „nicht unmittelbaren oder noch entfernten“ Gefahr. Sieht sich ein Staat einer solchen gegenüber, solle er dem UN-Sicherheitsrat „durch handfeste Beweise erhärtete Argumente für militärische Präventivmaßnahmen“ vorlegen. Für die Entscheidung des Rates über die Rechtmäßigkeit derartiger Maßnahmen formuliert der Bericht fünf kluge Prüfkriterien. So weit, so gut.

Das Problem ist nur, dass der Bericht die von ihm eingeführten Begriffe nicht definiert und nicht eindeutig voneinander abgrenzt. Was eine „unmittelbare, nahe Bedrohung“ ist und was nur eine „mittelbare, entferntere“, wo erlaubte militärische „Präemption“ aufhört und verbotene „Prävention“ anfängt – all das bleibt unklar und damit der Entscheidung der einzelnen Staaten überlassen. Damit bleibt eine problematische Grauzone.

Spätestens seit Veröffentlichung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie durch US-Präsident George W. Bush im September 2002 besteht jedoch die dringende Notwendigkeit einer eindeutigen und für die politische Anwendung handhabbaren Definition und Abgrenzung der Begriffe „Präemption“ (preemption) und „Prävention“ (prevention) . Denn das US-Strategiedokument erklärt einerseits den „präemptiven“ Einsatz militärischer Instrumente zum Kern der Sicherheitspolitik Washingtons. Zum anderen rechtfertigt es die Ausweitung der Präemption auf so genannte „neue Gefahren“, vor allem auf die Bedrohung durch Terroristen, Schurkenstaaten und durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Regierungen Bush und Blair begründeten ihren Krieg gegen den Irak mit einer Reihe (seitdem eindeutig als Lüge entlarvter) „unmittelbarer“ Bedrohungen – darunter der angeblichen Fähigkeit des Regimes von Saddam Hussein, chemische oder biologische Waffen innerhalb von 45 Minuten einsetzen zu können. Der Irak-Krieg war ein völkerrechtswidriger „Präventivkrieg“, ein Angriffskrieg, der von den Regierungen Bush und Blair aber als völkerrechtskonforme „präemptive“ Maßnahme verkauft wurde.

Nicht nur beim Irak-Krieg, sondern in sämtlichen Fällen seit Gründung der UN, in denen ein Staat militärische Gewalt zur Abwehr einer von ihm behaupteten äußeren Gefahr einsetzte, hat sich nachträglich herausgestellt, dass diese Gefahr überhaupt nicht vorlag oder zumindest nicht „unmittelbar“ war. Daher haben auch die fünf Prüfkriterien für eine Entscheidung des Sicherheitsrats über einen präventiven Einsatz militärischer Mittel für die politische Praxis kaum Relevanz, solange die New Yorker UN-Zentrale über keine von den Mitgliedsstaaten unabhängigen Instrumente verfügt, um im konkreten Fall feststellen zu können, ob überhaupt eine Bedrohung vorliegt, und ob diese „unmittelbar“ oder eben doch nur „mittelbar“ ist.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 109.

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