Unterm Radar

11. Okt. 2024

Politisierung von Gesundheit

Die Hegemonie des Nordens ist auch in der globalen Gesundheit ­gebrochen, denn während der Covid-19-Pandemie wurde viel Vertrauen zerstört. Neue Allianzen im Globalen Süden bringen Veränderung, geopolitische Interessen bleiben wichtig.

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Bild: Silhuetten dreier Frauen vor einem leuchtenden Screen
Lokales Know-how: Die Förderung einer nachhaltigen Impfstoffproduktion in Afrika, etwa durch das mRNA Technology Transfer Programme mit Sitz in Südafrika, ist ein wichtiger Ansatz zur Stärkung der Gesundheitssysteme im Globalen Süden.
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Es gibt zwei Verständnisse von globaler Gesundheit: Das eine baut auf den gemeinsamen Herausforderungen und Interdependenzen durch die Globalisierung auf, das andere fokussiert sich auf die Verbesserung der Gesundheitslage vor allem in den einkommensschwachen Ländern des Globalen Südens. Beide sind an ihre Grenzen gekommen, Covid-19 hat die neuen Bruchlinien verdeutlicht. 


Nach mindestens sieben Millionen Corona-Toten weltweit und 82 Billionen US-Dollar Schaden für die Weltwirtschaft könnte man denken, dass sich auf globaler Ebene der Wille zum gemeinsamen Handeln zwischen Staaten durchsetzen würde. Kurz bestand die Hoffnung einer signifikanten Stärkung der Weltgesundheitsorganisation, nicht zuletzt durch das Verhandeln eines Pandemieabkommens. Aber weit gefehlt. Das Pandemieabkommen hängt an einem seidenen Faden, die Entwicklungshilfegelder werden massiv gekürzt, die Ausbruchswellen von Infektionskrankheiten wie Covid, Mpox, Marburg, Masern oder Polio zeugen von mangelnden Investitionen in Gesundheitssysteme sowie in Pandemieprävention und -reaktion. Die Zunahme von Kriegen, Vertreibungen und Migration verschiebt zusätzlich die Staatsausgaben ebenso wie die Prioritäten der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs). 


Die neuen Interessenlagen – geopolitischer Wettbewerb um Macht und Märkte – führen zu einer Polarisierung, Politisierung und Ideologisierung von Gesundheit, national wie international. Dabei geht es nicht nur um die großen Konfliktlinien zwischen den USA und China, die seit Covid-19 auch die Zusammenarbeit in der globalen Gesundheit stark erschwert haben.
Die massiven Investitionen, die zur Stärkung der Gesundheitssysteme im Globalen Süden erforderlich sind, wurden seit 30 Jahren vernachlässigt. Heute werden allein für die Pandemie­strukturen zehn Milliarden Dollar jährlich, für die Gesundheitsziele der SDGs 134 Milliarden Dollar jährlich bis 2030 veranschlagt; sie können von vielen Ländern nicht allein gestemmt werden.


Aber auch Entwicklungshilfe oder Philanthropie können das nicht finanzieren. Das bringt neue Akteure wie die Entwicklungsbanken und neue Finanzini­tiativen wie den Pandemic Fund oder die Bridgetown Initiative zur Reform des globalen Finanzsystems auf den Plan, verwischt aber zunehmend Verantwortlichkeiten und Rechenschaftsprozesse. 


Neue regionale Ausrichtungen

Das heißt aber nicht, dass die Gesundheitszusammenarbeit zwischen Ländern stagniert, im Gegenteil. Sie reorganisiert und redefiniert sich sehr rege mit neuen Handlungszentren und neuen Ausrichtungen. Im Vordergrund stehen geopolitische Interessen, verbunden mit Sicherheits- und Wettbewerbspolitik und Prozessen der Dekolonialisierung. Die Hegemonie des Globalen Nordens ist auch in der globalen Gesundheit gebrochen. 


Das manifestiert sich nicht nur als ein politischer Nord-Süd-Konflikt, den Staaten wie Indien und China politisch nutzen und ärmere Länder geschickt navigieren, sondern auch als Entfaltung der Definitionsmacht. Dies gilt für die Erklärungen und Initiativen der G20-Präsidentschaften von Indonesien, Indien und ­Brasilien oder für Abstimmungen in der UN-Generalversammlung. Damit kommt ein neuer dezentraler Fokus auf nationale Souveränität, Bilateralismus, Minilateralismus und schließlich regionale Allianzen, die sich erfolgreich in globalen Zusammenkünften etablieren – so die Aufnahme der Afrikanischen Union in die G20. 


Als Beispiel für das Zusammenwirken staatlicher Akteure und privater Wirtschaft auf regionaler Ebene sei die neue Initiative für afrikanische Gesundheits­sicherheit genannt. Angeführt wird sie von den Africa Centres for Disease Control and Prevention (Africa CDC), Kernpunkt ist ein gepoolter Beschaffungsmechanismus für Impfstoffe und andere medizinische Produkte.
Dieser Vorstoß zur Schaffung einer robusten afrikanischen Gesundheitswirtschaft im Wert von 50 Milliarden Dollar wird vom Generaldirektor des Africa CDC als die „zweite Unabhängigkeit Afrikas“ bezeichnet. Hinzu kommt die politische Initiative der Schaffung einer African Medicines Agency (AMA). Sie wird unterstützt von der weltweiten Impfallianz GAVI: Der von GAVI lancierte African Vaccine Manufacturing Accelerator (AVMA) stellt eine Milliarde Dollar zur Verfügung, um nachhaltige Impfstoffproduktion in Afrika zu fördern.    


Angesichts dieser harten politischen und wirtschaftlichen Interessen wird es schwieriger, für globale öffentliche Güter Unterstützung zu finden: Die Länder des Globalen Süden wollen nicht mehr „Empfänger“ sein, sondern wollen eine neue Machtverteilung und klagen ihre Rechte ein.


Das zeigt sich besonders in der Forderung nach „Access and Benefit Sharing“ (Zugang zu genetischen Ressourcen und gerechter Vorteilsausgleich). Inzwischen stimmen die afrikanischen Länder die meisten ihrer Positionen gemeinsam ab. Die BRICS-Staaten positionieren sich jeweils als starke Stimme für den Globalen Süden, auch wenn sie unterein­ander im Wettbewerb stehen. Der reale Machtverlust wird von geschwächten Geberländern als Strategie des „progressiven Realismus“ umschrieben: Werte und Ziele anzustreben, ohne sich Illusionen darüber zu machen, was erreichbar ist. China hingegen bittet alle afrikanischen Staats­chefs nach Peking, um seine Position als wichtigster Handels­partner Afrikas zu festigen. Man setzt auf Geschäft, nicht Entwicklungshilfe. 


Indien als „Apotheke der Welt“

In den aufstrebenden Volkswirtschaften des Globalen Südens führen die demografische Entwicklung und steigender Wohlstand zu wachsender Nachfrage nach Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen. Investitionen in Innovation und Forschung, die Sicherung von Lieferketten, Produktion von Wirkstoffen, der Zugang zu Gesundheitsdaten, Investitionen in die digitale Transformation und KI sowie die Konkurrenz um Gesundheitspersonal werden immer bedeutender.  
 

Brasiliens G20-Präsidentschaft spricht von der Förderung des „health economic-industrial complex“: eine Investitionsstrategie, die die lokale Produktion und die Autonomie von Lieferketten fördert und somit Abhängigkeiten reduziert. Das ist während der Covid-Pandemie in der Impfstoffproduktion gelungen. Nun wird Novo Nordisk 158,2 Millionen Dollar investieren, um eine Anlage in Brasilien zu modernisieren, die für ein Viertel der weltweiten Insulinproduk­tion verantwortlich ist.


Ein weiteres Beispiel der Verquickung von Gesundheits- und Geopolitik ist die „Quad Health Security Partnership“ (Australien, Indien, Japan und USA) mit einem Schwerpunkt auf der Impfstoffversorgung und dem Ziel, gemeinsam die Gesundheits­sicherheit in der indopazifischen Region zu stärken. Dabei spielt Indien als „Apotheke der Welt“ eine wichtige Rolle.   


Für den Globalen Süden sind Fragen der Daten-Infrastruktur und Daten-Souveränität von zentraler Bedeutung, auch in Bezug auf Gesundheit. Indien stellt den Bezug zur kolonialen Vergangenheit her und erklärt, man werde nicht zulassen, dass ausländische Firmen wertvolle Gesundheitsdaten wie Roh­-
stoffe extrahieren. Neu-Delhi will hier Vorreiter und demokratische Stimme für andere Länder des Globalen Südens sein, als Gegenpol zum autokratischen China, das viel Geld in den Ausbau der digitalen Infrastruktur besonders in Afrika investiert. Und als künftiger „global digital leader“ hat Indien während seiner G20-Präsidentschaft mit der WHO eine Global Digital Health Initiative ins Leben gerufen.  


Diese Beispiele weisen auf die Machtverschiebungen hin, die im Gange sind. In der unklaren ­Zwischenzeit werden die Schwächen der bestehenden Prozesse und Organisationen sowohl umgangen wie auch geschickt genutzt. Der Wille zur Veränderung und auch der Handlungsdruck durch neue Ansätze und Initiativen ist im Globalen Süden groß, die Geduld mit dem Globalen Norden ist begrenzt. Das Vertrauen in gemeinsame Lösungen wurde während der Covid-19-Pandemie zerstört. Und doch bleiben die Länder in hohem Maße voneinander abhängig. Kein Land kann Pandemien und Klimawandel allein lösen. Die komplexen Zusammenhänge der multiplen Krisen treffen auf ein müdes multilaterales System mit wenig Geld und ohne Handlungsmacht.  


Veränderung ist zwingend. Die Multipolarität, verbunden mit dem politischen und ökonomischen Machtzuwachs des Globalen Südens, trägt das Potenzial einer großen Veränderung in sich, deren Werte und Normen sich erst herausbilden. Dabei entsteht auch der Raum für eine Rekalibrierung von Gesundheit – zusammen mit den großen Umweltfragen – als gemeinsames Gut für die Menschheit. Sonst kann die von Sicherheit und Ökonomie bestimmte Nationalisierung mehr und mehr zu einem manifesten planetaren Sicherheitsproblem werden.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S.12-14

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Mehr von den Autoren

Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch arbeitete bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gründete das Global Health Centre am Graduate Institute in Genf, ist derzeit Mitglied im Global Preparedness Monitoring Board der WHO/Weltbank und Vorsitzende des Councils des World Health Summit.

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