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12. Apr. 2022

Polen-EU: Streit um den Rechtsstaat im Schatten des Krieges

Der Europäische Gerichtshof wies am 16. Februar 2022 die Klagen Polens und Ungarns ab und erklärte den sogenannten Konditionalitätsmechanismus des EU-Wiederaufbaufonds für mit dem EU-Recht vereinbar. Nach dem Angriff Moskaus auf die Ukraine eine Woche später schien nichts mehr so zu sein, wie es war. Gilt das auch für den Konflikt zwischen Brüssel, Luxemburg und Warschau?

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Bild: Gebäude des obersten Gerichtshofs in Warschau
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Der Ukraine-Krieg des Kremls hat in der EU in vielen Bereichen ungeahnte Wirkungen entfaltet. In Deutschland ist plötzlich das seit Jahren trotz harscher internationaler Kritik aufrechterhaltene Nordstream-Projekt in seiner Existenz gefährdet. In Großbritannien hat Premierminister Boris Johnson zumindest für eine Weile politische Luft zum Atmen erhalten, und die Auswirkungen auf die französischen Präsidentschaftswahlen werden bald zu besichtigen sein.



Die größten direkten Folgen dürften jedoch in Polen spürbar sein, das einerseits durch seine Nachbarschaft mit der Krisenregion durch enorme Flüchtlingsströme betroffen ist, andererseits durch sein kompromissloses Auftreten in sicherheitspolitischen Belangen im Rahmen der NATO und der EU den durch die PiS-Regierung entstandenen „Pariastatus“ zu überwinden hofft.  



Das vielfältige Engagement Polens für die Ukraine und die derzeit aus ihr fliehenden Menschen findet zu Recht weltweit große Anerkennung. Trotz der seit 2015 starken Abneigung gegen die Aufnahme von Migranten scheint für viele in Polen in diesem Fall die humanitäre Hilfe gerade aus historischen Gründen – kollektive Leiderfahrungen und tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Moskau – eine Herzensangelegenheit zu sein.



Tatsächlich hat die Regierung in Windeseile die ganze Bandbreite ihrer sozialstaatlichen Programme (Arbeitsmarkt, Gesundheits- und Bildungswesen, Kindergeld) für die Flüchtlinge geöffnet, was angesichts einer fehlenden Integrationspolitik und abfälliger Äußerungen von Regierungspolitikern über Flüchtlinge durchaus erstaunlich ist. Wohlgemerkt: Die Menschenrechtsverletzungen an der belarussischen Grenze gehen weiter. Laut Amnesty International finden immer noch Pushbacks statt und Engagierte, die Kriegsflüchtlingen aus Syrien und Afghanistan medizinisch und juristisch helfen wollen, werden von polnischen staatlichen Organen drangsaliert.



Es wäre nicht ratsam, von einer plötzlichen Läuterung der PiS-Partei auszugehen – sie will sich die größtenteils von Großstädten und der Zivilgesellschaft erbrachte Hilfe selbst als politisches Kapital gutschreiben lassen. 2021 hatte die Regierung abgesehen von der Rechtsstaatsfrage mit einer Vielzahl von politischen Krisen (verpatzte Steuerreform, rasant steigende Inflation, Corona-Missmanagement, Skandal um die Nutzung der israelischen Überwachungssoftware Pegasus zur Bespitzelung von Oppositionellen) zu kämpfen.



Erstmals seit sieben Jahren erschien der Verlust ihrer parlamentarischen Mehrheit zumindest denkbar, wenn auch noch nicht sehr wahrscheinlich. Jetzt stabilisieren sich ihre Umfragewerte wieder, nicht nur dank des „Regierungsbonus“ in Krisenzeiten, sondern auch, weil weitestgehend hausgemachte Probleme wie Inflation und Energiepreise nicht mehr wie noch vor Kurzem nur auf die EU, sondern auf den Krieg abgewälzt werden können.

 

Über die Ukraine Polens Position in der EU stärken

Spätestens seit dem Testballon mit den polnischen MiG-Kampfflugzeugen und der Fahrt der Premierminister Polens, Tschechiens und der Slowakei mit dem Zug nach Kiew ist der Verdacht gerechtfertigt, dass die polnischen Nationalkonservativen mit ihrer tatkräftigen Unterstützung für die Ukraine auch ganz eigene Ziele verfolgen, die leider wenig bis gar nichts mit der gegenwärtigen dramatischen Situation jenseits der polnischen Ostgrenze zu tun haben.



Die polnisch-ukrainischen Beziehungen waren unter der PiS-Regierung lange Zeit alles andere als entspannt, wie beispielsweise 2019 am Streit um das polnische Gesetz zum Institut für Nationales Gedenken zu sehen war, das die angebliche Leugnung von Verbrechen „ukrainischer Nationalisten“ in den Jahren 1925 bis 1950 – in diesen Zeitraum fällt die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Polen – mit konkreten Straftatbeständen belegen sollte. Obwohl das besagte Gesetz (wegen verschiedener Bedenken aus den USA und Israel) nicht in dieser Form in Kraft trat, ist es doch wenig glaubhaft, dass die stets historisch und ideologisch argumentierenden polnischen Nationalkonservativen einfach über Nacht ihre Meinung geändert hätten.



Unterdessen geht die Demontage des Rechtsstaats im Lande weiter. Während des Ukraine-Feldzugs des Kremls werden nicht nur die nächsten polnischen Richter für die Anwendung von EU-Recht suspendiert. Wie Aktivisten der in der Rechtsstaatsmaterie stark engagierten Kampagnenorganisation Akcja Demokracja mit Bitternis feststellen, hat das von der PiS kontrollierte Verfassungstribunal zur gleichen Zeit, als sich Russland selbst aus dem Europarat katapultierte, die Prüfung der mit den polnischen Justizreformen verbundenen Gesetze unter dem Blickwinkel der polnischen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention durch polnische Gerichte und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg für verfassungswidrig erklärt.



Vizepremier Piotr Gliński beschwerte sich derweil in den britischen Medien darüber, dass die EU über Jahre hinweg, statt Russland zu isolieren, Polen mit „politisch motivierten Sanktionen“ belegt habe und in der derzeitigen Situation seinem Land außer Versprechungen kaum konkrete Hilfe zukommen lasse: „Wir geben doch hier unser Geld aus.“ Die erstklassige Krisenzusammenarbeit zwischen London, Warschau und Kiew sei hingegen durch den Brexit [sic!] erleichtert worden. In welche Richtung dieser Vorwurf geht, dürfte unschwer zu erraten sein – die EU-Kommission soll endlich die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds freigeben, die für die PiS im nächsten Jahr wahlkampfentscheidende Bedeutung haben könnten.



Eine Schlüsselrolle spielt dabei die derzeit im Sejm verhandelte Gesetzesinitiative des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda, die in Reaktion auf frühere Entscheidungen des EuGH einige der umstrittenen Lösungen der polnischen Justizreform rückgängig machen soll, ohne dabei jedoch den Kern des Problems – die politische Disziplinierung und Lenkung von Richtern sowie ihre nicht verfassungsgemäße Berufung – zu beseitigen.

 

Rechtsstaatlichkeit als sicherheitspolitisches Instrument

Hinter Glińskis Argumentation steht die unausgesprochene Frage, wer denn nun nach dem 24. Februar angesichts der sich enorm zuspitzenden Sicherheitslage in Osteuropa stärker auf wen angewiesen ist – die EU auf Polen oder Polen auf die EU? In der seit Jahrzehnten vorhergesagten, aber sich erst jetzt wirklich konstituierenden multipolaren Weltordnung werden wir wohl noch einige unangenehme Überraschungen erleben. Umso wichtiger ist es, dass die EU und in ihr insbesondere der stille Hegemon Deutschland nicht nur in regionaler und globaler Hinsicht wirkungsvolle Strategien verfolgt, sondern auch die eigenen Reihen schließt und angesichts der realen Bedrohung durch Putins Russland für innere Kohärenz sorgt.



Die bisherige Taktik des Abwartens, Beschwichtigens und Aussitzens im Namen von Stabilität und Wohlstand hat uns in Osteuropa einen neuen Krieg beschert, auf dem Westbalkan durch die Aufgabe einer realistischen EU-Beitrittsperspektive die lokalen Bevölkerungen vor den Kopf gestoßen und aktiv Autokraten wie Aleksandar Vučić gestützt sowie innerhalb der EU Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán erst die Chance auf langfristige Popularität verschafft.



Auch wenn sich die tatsächliche Tragweite der Scholz’schen „Zeitenwende“ erst noch zeigen muss: Die eklatante Missachtung europäischen Rechts durch die PiS-Regierung, u.a. durch die Ignorierung mehrerer Urteile des EuGH sowie über das politisch motivierte Urteil des polnischen Verfassungstribunals zum Vorrang polnischen Rechts vor EU-Recht, bleibt auch nach dem 24. Februar ein fundamentales, systemisches Problem für das Funktionieren der Europäischen Union.

Wenn die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips ungestraft bleibt, werden sich in der ganzen EU auf die eine oder andere Weise Nachahmer finden. Polen muss – ohne einen rechtsstaatlichen „Rabatt“ für seine unbestreitbaren Leistungen in der Ukraine-Krise – alle rechtskräftig gegen das Land ergangenen Urteile inklusive der verhängten Strafen respektieren und ihnen bedingungslos Folge leisten.



Dabei ist das EU-Recht genau einzuhalten, denn andernfalls erhält die PiS Wahlkampfmunition frei Haus geliefert. Die Entscheidung des EuGH gibt dafür eine klare Richtschnur an die Hand. Beim Konditionalitätsmechanismus des Wiederaufbaufonds muss eine zeitlich nachgelagerte Prüfung zum Zuge kommen, die die Verwendung von in Tranchen überwiesenen EU-Mitteln überprüft und bei feststellbarem Fehlverhalten entsprechende Strafen verhängt – und zwar dann, wenn die Gefahren für die Verausgabung dieser Mittel direkt auf substanzielle Mängel bei der Sicherstellung von Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen sind.



Da Polen im Unterschied zu Ungarn oder Bulgarien im Ganzen gesehen (jedenfalls bisher) keinen größeren Korruptionskomplex für die EU-Antikorruptionsbehörde OLAF darstellt, gilt: Wenn er gemäß seiner Bestimmung eingesetzt wird, löst der Konditionalitätsmechanismus das polnische Problem eben nicht, denn es geht hier im Kern nicht um Mittelverausgabung, sondern um die politische Beeinflussung der Richterschaft.

 

Aktive Polen-Politik Deutschlands gefordert

Unter den verschärften sicherheitspolitischen Bedingungen, die die Beziehungen unter den EU-Mitgliedstaaten verändern und u.a. die alte Allianz zwischen Warschau und Budapest zumindest beschädigt haben, bleibt der EU also nichts anderes übrig, als mit großer Entschlossenheit die Verfahren gemäß Artikel 7 zu Ende zu führen – es sei denn, Polen lenkt schon vorher ein. Wenn das eklatante Fehlverhalten eines ihrer Mitglieder die EU zum Äußersten zwingt, muss sie außerordentliche politische Entschlossenheit zeigen, aber eben gemäß dem Geist der eigenen Regeln – der Zweck darf keinesfalls die Mittel heiligen, sonst begibt sich die EU als Ganzes auf das Niveau der PiS, das sie zu Recht scharf kritisiert.



Natürlich kann dies erst geschehen, wenn die Frage der Flüchtlingsverteilung zufriedenstellend geklärt ist – und zwar unbedingt unter größtmöglicher Beteiligung der mittel- und westeuropäischen EU-Staaten, die das vom EuGH abgestrafte Verhalten der polnischen, tschechischen und ungarischen Regierung nach 2015 als einen Ausdruck von mangelnder „europäischer Solidarität“ kritisiert hatten.



Der Europäische Rat, nicht die Kommission, muss sich der politischen Aufgabe annehmen, Warschau unmissverständlich deutlich zu machen, dass man zwar aufeinander angewiesen ist, dass aber das Verhalten der PiS-Regierung ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko für die EU in der Jahre, ja vielleicht Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung mit Moskau darstellt und nicht länger geduldet werden kann.



Für die PiS, die seit Jahren rechte Allianzen in Europa schmiedet und sehnsüchtig auf einen Wahlsieg von Marine Le Pen wartet, würde eine solche Entwicklung wahrscheinlich einen „casus belli“ darstellen. Daher sollte Polen als EU-Mitgliedsland im Gegenzug ein Angebot gemacht werden, das die PiS nur zu ihrem eigenen Schaden ablehnen kann. Im Kern könnte es darum gehen, dass das von den polnischen Nationalkonservativen seit 2015 politisch unaufhörlich (und in den letzten Wochen beinahe täglich) attackierte Deutschland jene Schutzmachtrolle, die die USA gegenüber Polen übernehmen, in ganz erheblicher Weise ergänzt. So könnte verhindert werden, dass polnische politische Kräfte jedweder Couleur in Zukunft erneut der Versuchung erliegen, europäische gegen transatlantische Interessen auszuspielen.



Logischerweise ist das nicht zum Nulltarif zu haben. Da Deutschland überproportional ökonomisch vom europäischen Integrationsprozess profitiert, muss es auch überproportional viel politische, finanzielle und militärische Verantwortung für dessen Stabilität und Zukunft übernehmen. Der Weg dorthin würde über einen fairen, gegenseitigen Nutzen hervorrufenden Interessenausgleich führen – auf der einen Seite über das nachdrückliche Bedienen im weiteren Sinne osteuropäischer Interessen in den Bereichen Energie-, Klima- und Transportpolitik sowie der Dienstleistungsfreiheit in der EU, auf der anderen Seite mittels einer direkten Regelung bilateraler deutsch-polnischer Fragen wie etwa des Status polnischer EU-Bürger und -Bürgerinnen in Deutschland sowie der Reparationsdebatte, auf die Berlin endlich mit einem ehrenhaften Angebot reagieren muss, um der PiS ihre Propaganda-Trumpfkarte aus der Hand zu schlagen.



Angesichts des wiedererstarkten imperialen Gedankens in Russland liegt der Schlüssel aber in der gemeinsamen Verteidigungspolitik, in der sich die Bundesrepublik zu einem epochalen Schritt bekennen sollte – einer sicherheitspolitischen und militärischen Garantieerklärung für Polen und das gesamte Baltikum, im Gegenzug für eine umfassende militärische und rüstungspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Polen und Frankreich. Die Wirkung einer solchen Erklärung in Polen wäre enorm, denn auch wenn die NATO Russland überlegen ist: Der Preis eines „Sieges“ würde auf dem Schlachtfeld Polen gezahlt.

 

Gert Röhrborn lebt als Autor, Übersetzer und Trainer in Warschau und Belgrad. Von 2014 bis 2021 leitete er das Programm für „Demokratie und Menschenrechte“ im Warschauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.

Bibliografische Angaben

IP Online exklusive, 12. April 2022

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