Pflichtlektüren 2013
22 Leseempfehlungen zur Außenpolitik
„Welches Buch zur internationalen Politik war in diesem Jahr das wichtigste für Sie und warum?“ Diese Frage haben wir wie in jedem Jahr an Politiker, Wissenschaftler und Publizisten gestellt. Das etwas überraschende Ergebnis: An der Spitze steht ein historisches Buch über den Ersten Weltkrieg, auf Platz zwei ein Comic über die französische Politik.
Stefanie Babst
Leiterin der strategischen Planungsabteilung der NATO
Martin Wehrle, Karriereberater aus Hamburg, bietet einen fundierten und doch amüsanten Blick hinter die Kulissen deutscher Unternehmen. Seine Einsichten in die Untiefen irrsinnigen Managerverhaltens basieren auf unzähligen Gesprächen mit Angestellten. Vielleicht habe ich das Buch mit so großem Vergnügen gelesen, weil ich mich selbst darin entdecke – und über die eine oder andere haarsträubende Geschichte aus dem „Irrenhaus Büroalltag“ lächeln musste.
Martin Wehrle: Ich arbeite in einem Irrenhaus, Econ 2011.
Thomas Bagger
Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt
Christophe Blains Zeichnungen und die Texte des unter dem Pseudonym Lanzac schreibenden früheren Redenschreibers des französischen Außenministers Dominique de Villepin über die Ereignisse um den Irak-Krieg 2002/2003 vermitteln ein erschreckend realistisches Bild des Menschlich-Allzumenschlichen in der Politik, in dem das Große und das Absurde ganz nah beieinanderliegen.
Christophe Blain & Abel Lanzac: Quai d‘Orsay, Reprodukt Verlag 2012
Gernot Erler
Staatsminister a.D.
Die Erinnerungen des UN-Generalsekretärs von 1997 bis 2006 zeichnen sehr offen nach, wie die wichtigste Weltorganisation zur Friedenswahrung funktioniert oder warum sie versagt. Am Ende weiß man, warum Annan in New York so sehr fehlt und warum die UN-Reform unbedingt vorangetrieben werden muss.
Kofi Annan: Ein Leben in Krieg und Frieden, DVA 2013
Ulrike Guérot
Senior Associate, Open Society Initiative for Europe
Eine brillante Analyse der Euro-Krise, auch wenn man die Schlussfolgerung des Autors, der einer partiellen ökonomischen Renationalisierung das Wort redet, nicht teilen muss. Und obgleich Streeck davon ausgeht, dass eine „unitarisch-jakobinische“ Verfassung Europas nicht möglich sein dürfte, so liefert er doch mit seinem Buch gleichsam eine To-do-Liste dessen, was zu tun wäre, um Europa zu einem tragfähigen und sozial verträglichen Gemeinwesen zu machen – wenn denn der politische Wille dafür mobilisiert werden könnte.
Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp 2013
Emily Haber
Staatssekretärin im Auswärtigen Amt
Tamim Ansary schildert uns die Weltgeschichte so, wie die islamische Welt sie erlebt, überliefert oder mythifiziert hat. Der Abriss, gelegentlich im Plauderton geschrieben, umspannt fast 1500 Jahre. Faszinierend zu lesen, wie wenig der westliche Blick und das islamische Narrativ sich des jeweils anderen bewusst sind. Nicht nur die parallelen Narrative selbst, auch das mangelnde Bewusstsein dafür, dass es sie gibt, sind Faktoren, die zu politischen Fehlentscheidungen führen können. Ansary erklärt, warum.
Tamim Ansary: Destiny disrupted. A history of the world through Islamic Eyes, Public Affairs 2010
Christoph Heusgen
Außenpolitischer Berater der Bundeskanzlerin
Leon de Winters Roman – vor vier Jahren geschrieben – gewinnt an aktueller Bedeutung vor dem Hintergrund der wieder aufgenommenen Nahost-Verhandlungen. Die spannende, wendungsreiche Geschichte um das Verhältnis Großvater-Sohn-Enkel einer jüdischen Familie spielt nämlich vor dem fiktiven Hintergrund eines gescheiterten Friedensprozesses: Im Jahr 2024 hat insbesondere die demografische Entwicklung dazu geführt, dass Israel auf einen Groß-Tel Aviv umfassenden, vom Aussterben bedrohten Kleinstaat geschrumpft ist. Dieses Schreckensszenario sollte dazu mahnen, alles dafür zu tun, den neuen Anlauf zu einem Frieden im Nahen Osten erfolgreich abzuschließen.
Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr, Diogenes 2009
Josef Joffe
Herausgeber der ZEIT
Warum wird Sierra Leone immer reicher, Simbabwe immer ärmer? Gleiches Klima, ähnliche Kultur. Oder Süd- vs. Nordkorea mit identischer Ethnie und Sprache. Die Autoren – Ökonomen aus Harvard und vom MIT – sagen: „It’s the institutions, stupid!“ Und belegen es auf 500 Seiten mit Beispielen aus 500 Jahren Weltgeschichte. Dieses Buch gehört im Regal gleich neben Adam Smiths Klassiker „The Wealth of Nations“.
Daron Acemoglu & James A. Robinson: Warum Nationen scheitern, S. Fischer 2013
Hans-Ulrich Klose
Stellvertr. Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags a.D.
Das Buch des Jahres ist für mich ein Klassiker: Alexis de Tocquevilles „Der alte Staat und die Revolution“, zuerst 1856 erschienen. Ich habe das Buch zu meiner Studentenzeit gelesen und jetzt noch einmal. Anlass war ein Artikel in der FAZ, in dem berichtet wurde, dass dieses Buch derzeit von den chinesischen Eliten studiert werde, weil sie Ähnlichkeiten mit der Entwicklung in ihrem Land zu erkennen glauben – eine vorrevolutionäre Situation. Nach gründlicher Lektüre muss ich zugeben: Da ist was dran.
Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, u.a. J. G. Hoof 2013
Stefan Kornelius
Leiter Außenpolitik, Süddeutsche Zeitung
David Shambaugh hat wieder mal ein Pflichtbuch für China vorgelegt, in dem er mit allen Mythen über Pekings expansive Außenpolitik aufräumt und eine sehr realistische Bestandsaufnahme chinesischer Ambitionen liefert.
David Shambaugh: China goes Global. The Partial Power, Oxford University Press 2013
Joachim Krause
Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel
Christopher Clark gewährt uns nicht nur einen relativ vorurteilsfreien Blick auf die Ereignisse, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, der Autor stellt auch die Frage, ob sich Ähnliches heute wiederholen könnte.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie -Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA 2013
Stefan Liebich
Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Die Linke
Russland ringt um seine globale Rolle. Im Syrien-Konflikt will die ehemalige Weltmacht beweisen, dass sie sich nicht von der Bühne verabschiedet hat. Und schaut man sich heute das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Russland an, so lässt es sich wohl höflich als „unterkühlt“ bezeichnen. Das hätte nicht so kommen müssen. Es ist eine der Folgen der Westausdehnung der NATO, die 1989/1990 angelegt wurde. Mary Elise Sarotte schaut zurück und lädt zum Nachdenken ein, ob es nicht auch Alternativen gegeben hätte.
Mary Elise Sarotte: 1989 – The Struggle to create Post-Cold War Europe, Princeton University Press 2011
Hanns W. Maull
Professor für Internationale Beziehungen, Trier
Mancur Olson erklärt nach wie vor am schlüssigsten die Frage nach dem Aufstieg und Niedergang von Nationen. Es sollte besonders in der gesamten Euro-Zone, aber nicht nur dort, noch einmal studiert werden. Und, dazu ergänzend: Daron Acemoglu und James A. Robinsons „Warum Nationen scheitern“.
Mancur Olson: Aufstieg und Niedergang von Nationen, Mohr Siebeck 2004
Philipp Mißfelder
Außenpolitischer Sprecher der CDU
Noch vor wenigen Jahren war Myanmar ein rätselhaftes, abgeschottetes Land. Thant beschreibt das Land unmittelbar vor seiner vorsichtigen Öffnung. Eindrücklich schildert er die koloniale Vergangenheit, die Repressionen einer unberechenbaren Militärregierung und die tiefen ethnischen Konflikte in Myanmar, die bis zum heutigen Tage ungelöst sind.
Thant Myint-U: Where China meets India. Burma and the new crossroads of Asia, Faber and Faber Ltd, 2011
Rolf Mützenich
Außenpolitischer Sprecher der SPD
Vor dem Hintergrund, welche Rolle China künftig im internationalen System spielen wird – und will –, ist der Blick auf Geschichte und Selbstverständnis des Landes unerlässlich. Die spannungsreiche Beziehung zwischen Einheit und Vielfalt steht im Zentrum der Darstellung Vogelsangs. Der Hamburger Sinologe bietet einen aus-
gezeichneten Abriss der chinesischen Geschichte, der auch die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft behandelt. Er beschreibt die ganze Fülle der Kultur des Reichs der Mitte, seinen Reichtum und seine Diversität.
Kai Vogelsang: Geschichte Chinas, Reclam Verlag 2012
Günther Nonnenmacher
Herausgeber der FAZ
Christopher Clark zeigt anhand der „Entstehung“ des Ersten Weltkriegs eindrucksvoll, dass Politik stets ein Handlungssystem mit dem hohen Risiko nichtintendierter Folgen ist. Das begrenzt – siehe Europa-Politik – ihre Planbarkeit und sollte – siehe Euro-Krise – unser Misstrauen gegen Patentlösungen (Ausschluss Griechenlands etc.) stärken.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA 2013
Omid Nouripour
Sicherheitspolitischer Sprecher von Bündnis 90 /Die Grünen
Für mich war dieses Jahr Paula Broadwells „Education of General Davis Petraeus“ die spannendste Lektüre – nicht so sehr wegen der heiklen Umstände seiner Veröffentlichung, sondern weil es schlicht ein verdammt gutes Buch über Afghanistan ist.
Paula Broadwell & Vernon Loeb: All In: The Education of General David Petraeus, Penguin Press 2012
Volker Perthes
Direktor Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Nach der Rückkehr Putins ins russische Präsidentenamt ist dies wohl die beste aktuelle Analyse, um zu verstehen, wie er die Welt sieht und wie er operiert. Ein faires, kritisches Buch, das auch die Widersprüche zwischen dem von Putin errichteten politischen System und der von ihm gewünschten Modernisierung Russlands herausstellt.
Fiona Hill & Clifford G. Gaddy: Mr. Putin. Operative in the Kremlin, Brookings Institution Press 2013
Ines Pohl
Chefredakteurin der taz
In einer Welt, die sich immer schneller dreht, immer unübersichtlicher,
lauter und schriller wird, wächst die Herausforderung, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Dabei können Bücher helfen, in denen immer wieder Gedanken, Sätze aufscheinen, die nachhallen, das Herumspringen der Gedanken anhalten, fokussieren. „Fliehkräfte“ von Stephan Thome ist ein solches Buch.
Stephan Thome: Fliehkräfte, Suhrkamp 2013
Ruprecht Polenz
Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags a.D.
Clark schildert, wie sich aus einem regionalen Konflikt der Erste Weltkrieg scheinbar zwangsläufig entwickelte, den so niemand wollte oder vorhersah. Das Buch ist von beängstigender Aktualität. Wenn schon historische Analogien, dann sollten wir uns die Zeit vor dem Ausbruch des Weltkriegs anschauen, um daraus zu lernen, dass sich regionale Konflikte nur schwer begrenzen lassen und dass ein Krieg, einmal begonnen, anders verläuft als geplant.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie -Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA 2013
Eberhard Sandschneider
Direktor des Forschungs-instituts der DGAP
Taleb übertreibt es maß-los: gewagte Begriffsschöpfungen, hemmungslose Entlehnungen aus Mythen und alltäglichen Lebensgeschichten, provozierende Schlussfolgerungen – kurz: ein Buch, das jeder lesen sollte, der wissen möchte, wie man mit den Herausforderungen unsicherer Zeiten umgehen muss und dabei nicht nur stabil bleiben, sondern noch besser werden kann.
Nassim Nicolas Taleb: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen, Knaus 2013
Thomas Schmid
Herausgeber der Welt-Gruppe
Wir haben ihn fast vergessen, den Ersten Weltkrieg. Dabei war er die auslösende Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Und seine Entstehungsgeschichte viel komplexer, als es eine Geschichtsschreibung wahrhaben will, die vor allem nach Schuldigen sucht. Clark hat eine grandiose Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs geschrieben.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA 2013
Constanze
Stelzenmüller
Senior Transatlantic Fellow, German Marshall Fund
Im Weltgehäuse knirscht und reißt es, da lese ich kontrapunktisch. Tony Judts „Memory Chalet“ oder Michel de Montaignes „Essais“ in der Übersetzung von Hans Stilett: Sie lehren Haltung, die Balance zwischen Zugewandtheit und Distanz. Und immer wieder französische Politik-Comics wie „Quai d’Orsay“ von Blain / Lanzac: Wohl dem Land, das so hinreißend genau über sich selbst lachen kann.
Christophe Blain & Abel Lanzac: Quai d’Orsay, Reprodukt Verlag 2012
Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S.136-141